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MERKUR Gegründet 1947 als Deutsche Zeitschrift für europäisches Denken - 6/2022 (eBook)

Nr. 877, Heft 6, Juni 2022
eBook Download: EPUB
2022 | 1. Auflage
104 Seiten
Klett-Cotta (Verlag)
978-3-608-11902-2 (ISBN)

Lese- und Medienproben

MERKUR Gegründet 1947 als Deutsche Zeitschrift für europäisches Denken - 6/2022 -
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Der Osteuropa-Historiker Jan Plamper lässt seine eigenen Erfahrungen mit und in Russland in den letzten Jahrzehnten Revue passieren, sammelt Anekdoten und Ereignisse und verdichtet alles zum Bild einer scheinbar unaufhaltsamen finsteren Entwicklung. Kwame Anthony Appiah zeichnet ein sehr differenziertes Bild des Dekolonialisierungstheoretikers und -praktikers Frantz Fanon. Der eigenen Angstlust - und der der Gesellschaft - versucht Valentin Groebner in einem persönlichen Essay auf die Spur zu kommen. In seiner Ästhetikkolumne sinnt Jan von Brevern über die Konjunkturen der Kunst des Bildhauers Alexander Calder nach. Aleida Assmann zeigt sich beeindruckt von Christiane Hoffmanns Familiengeschichte Alles, was wir nicht erinnern. Nach Chancen und Gefahren des True-Crime-Genres für das historische Sachbuch fragt Tobias Becker. Konstantin Petry denkt über Philosophie als Engagement und das Engagement der Philosophinnen und Philosophen nach, von Aristoteles über Hannah Arendt und Richard Rorty bis zu Olga Shparaga. Johannes Franzen nimmt den Fall des 'Couch Guy' auf TikTok auseinander, der in den sozialen Medien zum Gegenstand heftigsten Deutungsbegehrens wurde. Dialektmarkierungen sind in Deutschland soziale Markierungen, wie Michaela Maria Müller auch am eigenen Beispiel erfahren hat. Susanne Neuffer erzählt davon, wie eine Falschheit die Wahrheit ans Licht bringt. In Hanna Engelmeiers Schlusskolumne geht es unter anderem ins Lepramuseum.

Christian Demand, Jg. 1960, hat Philosophie und Politikwissenschaft studiert und die Deutsche Journalistenschule absolviert. Er war als Musiker und Komponist tätig, später als Hörfunkjournalist beim Bayerischen Rundfunk. Nach Promotion und Habilitation in Philosophie unterrichtete er als Gastprofessor für philosophische Ästhetik an der Universität für angewandte Kunst Wien. 2006 wurde er auf den Lehrstuhl für Kunstgeschichte der Akademie der Bildenden Künste in Nürnberg berufen, wo er bis 2012 lehrt. Buchveröffentlichungen: Die Beschämung der Philister: Wie die Kunst sich der Kritik entledigte (2003), Wie kommt die Ordnung in die Kunst? (2010). Christian Demand ist Herausgeber des MERKUR.

Christian Demand, Jg. 1960, hat Philosophie und Politikwissenschaft studiert und die Deutsche Journalistenschule absolviert. Er war als Musiker und Komponist tätig, später als Hörfunkjournalist beim Bayerischen Rundfunk. Nach Promotion und Habilitation in Philosophie unterrichtete er als Gastprofessor für philosophische Ästhetik an der Universität für angewandte Kunst Wien. 2006 wurde er auf den Lehrstuhl für Kunstgeschichte der Akademie der Bildenden Künste in Nürnberg berufen, wo er bis 2012 lehrt. Buchveröffentlichungen: Die Beschämung der Philister: Wie die Kunst sich der Kritik entledigte (2003), Wie kommt die Ordnung in die Kunst? (2010). Christian Demand ist Herausgeber des MERKUR.

Beiträge

DOI 10.21706/mr-76-6-5

Jan Plamper

Putin und ich


1993. Achtzehn Monate Zivildienst im Ausland mit der Aktion Sühnezeichen bei Memorial Sankt Petersburg. Offene Altenarbeit mit Opfern des Nationalsozialismus und Stalinismus. Fast ein Jahr vorbei. August, eine Expedition mit Memorial auf die Solowezki-Inseln im Weißen Meer, 600 Kilometer nördlich von Petersburg. Auf dem Archipel wurden noch unter Lenin die ersten politischen Gefangenen inhaftiert. Für Alexander Solschenizyn bezeichnete Der Archipel Gulag zweierlei: die reelle Solowezki-Inselgruppe und die metaphorischen Lagerinseln, die sich wie ein Archipel über die gesamte UDSSR erstreckten. Wir sind im ehemaligen Kloster auf der Hauptinsel untergebracht, Schlafsäle nach Geschlechtern getrennt. Kurz vor der Nachtruhe schaue ich einige Betten weiter: Der Dissident, Mitbegründer einer Leningrader Untergrundgewerkschaft nach dem Vorbild der polnischen Solidarność, 1982 verhaftet und verurteilt unter Mitwirkung des KGB-Ermittlers Wiktor Tscherkessow, freigekommen in der Gorbatschow-Amnestie 1987, legt sich gerade ein Handtuch übers Gesicht. »Darf ich fragen, was Sie da tun?« – »Ach, das geht noch auf die Zeit in Untersuchungshaft zurück. Damals hatten sie in der Zelle diese grellen Glühbirnen, die vierundzwanzig Stunden brannten. Seitdem kann ich nicht mehr ohne das Handtuch einschlafen.« Tscherkessow ist Putin-Vertrauter und wird im Jahr 2000 zum Bevollmächtigten für Nordwestrussland ernannt, ein Posten, der die »Machtvertikale« stärken und die Gouverneure schwächen soll.

1993. Ich wohne bei einer armenisch-ukrainischen Intelligenzia-Familie in Sankt Petersburg. Die jüngere Tochter wird in der Schule immer öfter als armjaschka und »Schwarzarsch«, ein Schimpfwort für Leute aus dem Kaukasus, beleidigt. Der Hass richtet sich gegen sichtbare Minderheiten, wie sie in der Migrationsforschung heißen.

1993. Memorial protestiert vor dem »Großen Haus«, der Petersburger KGB-Zentrale, gegen die Übernahme von KGB-Personal in den FSK, wie der Inlandsgeheimdienst des jungen demokratischen Russland hieß. Auf meinem Plakat steht: »Kein einziger KGBler im Sicherheitsdienst Russlands«. Vermutlich hätte ich dem Protest fernbleiben sollen – wir Zivis im Ausland dürfen uns nicht politisch betätigen. Doch das kümmert damals keinen, auch nicht die Geheimdienstler, die nur einmal herauskommen, um zu fragen, was wir da tun. Es liegt auch keine Angst in der Luft, allenfalls etwas Kitzel – wie wäre eine solche Aktion noch vor fünf Jahren ausgegangen? Wie im Jahr 2022?

Memorial-Protest vor der Petersburger KGB-Zentrale 1993

1994. Ich arbeite im ehemaligen Parteiarchiv in Petrosawodsk in Karelien, nördlich von Sankt Petersburg. Während der Mittagspause begegnet mir eine ältere Archivarin auf der Straße und fragt mich, ob ich mich ins Meldebuch eingetragen hätte. Lachend, aber ironiefrei: »Sonst dringen noch Volksfeinde ins Archiv ein!« So tief sitzt das, denke ich, so leicht bricht sich Stalins mörderische Rhetorik von 1937 wieder Bahn. Gut zwei Jahrzehnte später wird dem Memorial-Mitarbeiter Juri Dmitriew in Petrosawodsk der Prozess gemacht – unter Scheinvorwürfen, aber eigentlich, weil er nicht locker lässt, die Verbrechen Stalins und ihre Vertuschung aufzudecken. Es ist einer der größten erinnungspolitischen Justizskandale der postsowjetischen Zeit, Dmitriew einer der bekanntesten politischen Gefangenen der Putin-Ära.

1996. Ein Vortrag des britischen Historikers und Publizisten Timothy Garton Ash in Berkeley, wo ich promoviere. Was er von einem EU- und NATO-Beitritt Russlands hielte, wird er am Ende gefragt. Pause – dann: »Es wäre ein Problem. Aber es wäre ein Problem, das wir im Interesse aller Beteiligten haben wollen sollten.« Die ostmitteleuropäischen Staaten und Russland in eine gemeinsame Sicherheits- und Wirtschaftsarchitektur einzupassen – oder zusammen eine neue zu errichten –, war damals noch denkmöglich. Verpasste Chancen, geschlossene Zeitfenster.

1999. Kosovokrieg im ehemaligen Jugoslawien, die NATO bombardiert Belgrad. Russische Bekannte, in Russland wie in der Diaspora, sind aufgebracht: Wenn es ernst wird, sagen sie, pfeift der Westen auf die Menschenrechte und macht knallharte Realpolitik, umgeht einfach die UNO und schickt Tarnkappenbomber und Cruise Missiles gegen die serbische Zivilbevölkerung. Ich sehe es damals eher wie der »bellizistische« grüne Außenminister Joschka Fischer, trotz Bauchschmerzen. Ein Veto Russlands und Chinas im UN-Sicherheitsrat gegen militärischen Druckaufbau ist höchstwahrscheinlich, es gilt keine Zeit zu verlieren, der Einsatz von NATO-Gewalt ist jetzt die am wenigsten schlechte Option, um ein zweites Srebrenica – einen Genozid gegen die albanische Bevölkerung im Kosovo – zu verhindern. Die Tragweite von 1999 wird mir erst im Lauf der Jahre bewusst: Es ist das Ende der prowestlichen Romantik in der Ex-UDSSR und die bislang größte Zäsur seit dem Ende des Kalten Kriegs. In der Folge klingen auch bei liberalen Russen immer öfter nationalistische Töne an – es gelte doch nur, »die nationalen Interessen« Russlands zu verteidigen. Hat der Westen 1999 das Gros seines moralischen Kredits verspielt? Das frage ich mich bis heute.

1999. Wir leben für ein Jahr in Moskau, ich forsche in Archiven für die Doktorarbeit. Präsident Jelzin hat mal wieder einen Premierminister verschlissen, im Sommer wird ein unbeschriebenes Blatt ernannt, Wladimir Putin. Im Herbst haut es bei einer Mitschülerin meiner Tochter die Scheiben heraus, weil ein Hochhaus in der Nachbarschaft in die Luft gesprengt wird – angeblich von tschetschenischen Terroristen, mutmaßlich vom FSB auf Geheiß des neuen Premiers. Sicher ist: Putin nimmt die Anschläge zum Anlass, einen schnellen, siegreichen Krieg in Tschetschenien zu führen, um endlich den schmachvollen Kompromiss von 1996 zu tilgen, der den ersten Tschetschenienkrieg beendet hatte. Grosny wird in Schutt und Asche gelegt. Am 19. Dezember sind Dumawahlen, Putins erst im September aus der Taufe gehobene Partei Einheit fährt das zweitbeste Ergebnis nach den Kommunisten ein, deren Stimmen, wie jeder weiß, käuflich sind. Am Tag darauf ist der Tag des Tschekisten, der inzwischen siebenundvierzigjährige Putin lässt sich filmen bei seiner Rede im Festsaal der Lubjanka: »Die Gruppe von FSBlern, die Sie auf eine Undercover-Dienstreise in die Regierung geschickt haben, hat Stufe eins der Aufgabe erfüllt.« Putin-Grinsen. Viele erschaudern – könnte dies der Nachfolger Jelzins werden? Geschichte wiederholt sich nicht, historische Analogien hinken. Trotzdem: Es wäre, wie wenn in den 1950ern ein Gestapo-Offizier zum Bundeskanzler gewählt worden wäre, der nicht nur keine Reue über seine berufliche Vergangenheit an den Tag legt, sondern sie wie eine Monstranz vor sich herträgt. Das Schlimmste aber wäre, wenn die russische Gesellschaft nichts dabei fände. Genau das offenbart sich am 26. März 2000, als Putin die Präsidentschaftswahl gewinnt, nachdem Jelzin an Silvester zurückgetreten war und ihn zum amtierenden Präsidenten gemacht hatte. Das Problem ist nicht Putin, es wird sich immer ein Mussolini oder ein Putin finden. Das Problem ist die russische Gesellschaft, die ihn wählt und kein moralisches Problem dabei hat. Woran liegt das? An vielen Faktoren, in erster Linie aber daran, wie die sowjetische Vergangenheit aufgearbeitet beziehungsweise nicht aufgearbeitet wurde.

2000. Berlin, wir schauen uns Schulen für unsere Tochter an, auch die private russischsprachige Lomonossow-Schule. Wir entscheiden uns gegen diese Schule – es gibt eine Art weltanschauliche Begleitmusik, und diese läuft hinaus auf damals zwar noch milden, aber doch großrussischen Patriotismus, verbrämt mit russischer Orthodoxie und gesponsort von Gazprom. Wir waren dagegen auf der Suche nach dem, was der Historiker Yuri Slezkine den »Puschkin-Glauben« nennt: eine überethnische, kulturelle Definition des Russischen (russische Sprache, Literatur, Musik). Zum Tag der Offenen Tür der Schule bei der Botschaft in der Behrenstraße gehen wir erst gar nicht: Die ist als gebeschnaja kontora, als »KGB-Schuppen«, verschrien. Auf eine Filiale der Lomonossow-Schule in Berlin-Marzahn wird am 11. März 2022, zwei Wochen nach der russischen Aggression gegen Ukraine, ein Brandanschlag verübt. Auch das schlimm – geht nicht.

2000. Abendgesellschaft bei Bekannten im Berliner Corbusierhaus....

Erscheint lt. Verlag 25.5.2022
Reihe/Serie MERKUR
MERKUR
MERKUR Gegründet 1947 als Deutsche Zeitschrift für europäisches Denken
Verlagsort Stuttgart
Sprache deutsch
Themenwelt Literatur Essays / Feuilleton
Schlagworte Essayistik • Essays • Geschichte • Gesellschaft
ISBN-10 3-608-11902-7 / 3608119027
ISBN-13 978-3-608-11902-2 / 9783608119022
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