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Wie die Saat, so die Ernte (eBook)

Spiegel-Bestseller
Commissario Brunettis zweiunddreißigster Fall

(Autor)

eBook Download: EPUB
2023 | 2. Auflage
320 Seiten
Diogenes (Verlag)
978-3-257-61345-2 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Wie die Saat, so die Ernte -  Donna Leon
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Brunetti will gerade zu Bett, als Vianello ihn hinausruft in die kalte Novembernacht: In einem Kanal ragt eine Hand aus dem Wasser. Die Leiche ist schnell geborgen. Um wen es sich handelt, erfährt der Commissario per Zufall. Doch welche Feinde könnte der Tote gehabt haben? Da er sich ohne Papiere in Italien aufhielt, steht die Polizei ohne Spuren da. Erst als Brunetti tief in die eigene Vergangenheit eintaucht und sich das Italien seiner Studentenzeit vergegenwärtigt, nähert er sich der Lösung.

Donna Leon, geboren 1942 in New Jersey, arbeitete als Reiseleiterin in Rom und als Werbetexterin in London sowie als Lehrerin und Dozentin im Iran, in China und Saudi-Arabien. Die Brunetti-Romane machten sie weltberühmt. Donna Leon lebte viele Jahre in Italien und wohnt heute in der Schweiz. In Venedig ist sie nach wie vor häufig zu Gast.

An einem Samstag Anfang November hatte Guido Brunetti keine Lust rauszugehen und beschloss, stattdessen seine Bücher auf den Regalbrettern in Paolas Arbeitszimmer auszusortieren. Sein früheres Arbeitszimmer hatte er vor Jahren ausgeräumt, einige Monate vor der Geburt ihrer Tochter, damit auch ihr zweites Kind ein eigenes Zimmer hätte. Paola gewährte Brunettis Büchern in vier Regalfächern Asyl. Schon damals hatte er befürchtet, der Platz werde nicht reichen, und jetzt war es so weit: Zeit für das große Ausmisten. Aber was konnte er entbehren? Auf dem oberen Brett standen die Bücher zum Wiederlesen; das zweite, auf Augenhöhe, enthielt welche, die er noch nicht gelesen hatte; das dritte jene, die er nicht beendet hatte, auch wenn er sie noch fertiglesen wollte; und zuunterst waren Bücher, von denen er manchmal schon beim Kauf gewusst hatte, dass er sie nie lesen würde.

Am besten fing er unten an. Er ließ sich auf ein Knie nieder und studierte die Buchrücken. In der Mitte des Bretts sah er das vertraute Porträt von Proust, das vertraute Porträt von Proust, das vertraute Porträt von Proust. Er schob die eine Hand vor den ersten, die andere hinter den letzten Band, sagte laut: »Jetzt«, und hob sie alle auf einmal heraus. Dann trug er den Stapel zu Paolas Schreibtisch, deponierte den wackligen Turm und begradigte ihn. Er machte einen Schritt zurück und zählte die Proustköpfe auf den Buchrücken: sieben.

Er stapelte die Prousts sorgfältig in eine Tüte aus der Küche, die von der Stadt zum Sammeln von Altpapier ausgegeben wurde. Dann nahm er die Tüte mit zum Regal, ging wieder in die Knie und sortierte erbarmungslos die übrigen Bücher aus, ohne ihnen auch nur durch einen Zwischenhalt auf Paolas Schreibtisch die Chance zu geben, um Gnade zu flehen. Moby Dick; Der Mann von Gefühl; Die Brautleute, verhasste Pflichtlektüre am Gymnasium. Überlebt hatte Manzoni nur deshalb so lange, weil Brunetti nicht glauben mochte, dass ein »Klassiker« dermaßen langweilig sein konnte. Ab damit in die Tüte. Er stieß auf vier Bände Theaterstücke und Gedichte von D’Annunzio und wusste sofort, dass die weggehörten: Weil D’Annunzio ein schlechter Autor war – oder ein schlechter Mensch? Er schlug einen Band aufs Geratewohl auf und las die erstbeste Gedichtzeile: »Voglio un amore doloroso, lento …«

Brunetti ließ das Buch sinken. »Eine lange währende, schmerzhafte Liebe willst du?«, fragte er den verblichenen Dichter. »Wie wär’s mit kurz und schmerzlos?« Und schon gesellten sich die sechzehn Zentimeter D’Annunzio zum Manzoni. Er blickte in die Tüte und dachte zufrieden: ›Wenn jemals eine Ehe im Himmel geschlossen wurde.‹ Das Antiquariat am Campo Santa Maria Nova würde sich freuen.

Der Commissario musterte die Lücken im Regal und überlegte schon, womit er sie füllen würde, da klingelte das Handy, und noch bevor er sich melden konnte, sagte Vianello: »Guido, komm schnell zum Piazzale Roma.«

»Es ist Samstag, Lorenzo«, erinnerte er seinen Freund und Kollegen. »Es regnet, und es ist kalt.«

»Und es ist wichtig«, konterte Vianello.

»Erzähl.«

Vianello stöhnte einmal laut, ehe er sagte: »Fazio hat mich angerufen.« Brunetti brauchte einen Moment, um sich an den Namen zu erinnern: ein Sergente aus Treviso, mit dem er und Vianello schon mal zu tun hatten. »Alvise wurde verhaftet.«

»Alvise?« Als traute Brunetti seinen Ohren nicht, wiederholte er ungläubig: »Alvise?«

»Ja.«

»Wo?«

»Drüben. In Treviso.«

Was um Himmels willen hatte Alvise in Treviso verloren, fragte sich Brunetti. Ja, was hatte überhaupt irgendwer dort verloren, erst recht an einem Tag wie diesem?

»Was hat er dort gemacht?«

»Er war bei der Demonstration.«

Brunetti stutzte. Wer bloß hatte denn für dieses Wochenende eine Demonstration angekündigt? Nicht die Lokführer, nicht die verbliebenen Impfgegner, nicht die Arbeiter in Marghera – die doch praktisch pausenlos demonstrierten –, und auch nicht die medizinischen Fachkräfte, die erst vor zwei Wochen demonstriert hatten.

»Welcher?«

»Gay Pride«, sagte Vianello tonlos.

»Gay Pride? Alvise?« Brunetti konnte sein Erstaunen nicht verbergen. »Wir sind für einen Polizeieinsatz in Treviso nicht zuständig«, erinnerte er den Ispettore.

»Er war nicht im Einsatz.«

»Was hatte er denn sonst dort zu tun?«

»Deswegen fahren wir nach Treviso. Um das herauszufinden.«

»Was ist passiert?«

Man hörte ein Vaporetto zum Anlegen den Rückwärtsgang einlegen. Dann eine Stimme – nicht die von Vianello: »Ca’ Rezzonico.«

Brunetti war schon auf dem Weg zur Tür, vor der er Regenmantel und Schirm gelassen hatte, nachdem er am Morgen kurz Zeitungen kaufen und einen Kaffee trinken gegangen war.

Er nahm das Handy in die linke Hand und tastete in der Manteltasche nach den Schlüsseln. »Gut. Wir treffen uns am Taxistand«, sagte er, und bevor Vianello sich ausklinken konnte: »Weswegen wurde Alvise verhaftet?«

»Widerstand gegen Festnahme.«

Brunetti fehlten die Worte.

»Und Gewalt gegen Staatsorgane«, fügte Vianello hinzu.

Brunetti wusste, was das zu bedeuten hatte. »Gewalt? Alvise?«

»Fazio hat nicht mitbekommen, was sich da zugetragen hat. Er hat mich angerufen, als man Alvise in die Questura brachte. Er meinte, ich soll kommen. Und dich mitbringen.«

»Gut. Bin schon unterwegs«, beendete Brunetti das Gespräch.

Trotz Regen und Kälte ging der Commissario lieber zu Fuß zum Piazzale Roma: Bei diesem Wetter wären die Vaporetti überheizt und gerammelt voll. Allein schon der barbarische Mief in der feuchtwarmen Passagierkabine!

Auf dem Marsch zum Piazzale Roma dachte er über Vianellos Anruf nach. Alvise? Alvise war so lange bei der Polizei wie er selbst, doch während Brunetti in dieser Zeit immer weiter aufstieg, war Alvise – schwerfällig, wohlerzogen, ungeschickt, begriffsstutzig und (obwohl man ihn allseits für einen Trottel hielt) nicht unbeliebt – auf der untersten Stufe stehen geblieben. Und doch war Alvise mit all seinen widersprüchlichen Eigenschaften zum Maskottchen, ja geradezu zum Lieblingsmaskottchen in der Questura geworden. Er hatte nie von seiner Dienstwaffe Gebrauch gemacht und noch nie einen Täter aufgespürt, aber sich mehr als einmal für einen Kollegen selbst in Gefahr begeben. Mittlerweile war sein Haar schütter und an den Schläfen weiß geworden; sein Bauch runder und seine Züge waren gealtert. Er sprach nie von sich, nahm Anteil am Leben seiner Kollegen, wusste die Namen ihrer Ehepartner und Kinder, war loyal und gab sein Bestes. Und jetzt war Alvise auf der Gay Pride Parade in Treviso verhaftet worden und hatte sich, wie es aussah, einem Polizisten widersetzt.

Brunetti versuchte sich zu erinnern, ob er Alvise jemals außer Dienst gesehen hatte, fand aber nichts. Alvise nahm als Privatmann nicht recht Gestalt an, vielleicht weil er von seinen Kollegen nicht wirklich ernst genommen wurde. Brunetti blieb unwillkürlich stehen, als ihm dämmerte, dass er Alvise ohne Uniform womöglich gar nicht erkennen würde. Er starrte in ein Schaufenster und versuchte sich ins Gedächtnis zu rufen, wie Alvise aussah: Ihm fiel nicht viel mehr ein als ein rundliches Gesicht, kein Schnauzer oder Bart, braun melierte Haare, dass Alvise die Augen beim Lächeln zusammenkniff und er nie vollkommen still stehen konnte. Ansonsten glich Alvise der Karikatur eines Mannes in Uniform, dessen Dienstmütze immer eine Nummer zu groß schien.

»Als ob er gar nicht wirklich existiert«, murmelte Brunetti, was ihn auf die Frage brachte, wie viele der anderen Beamten für ihn nicht wirklich existierten, und ob sie alle Privat- und Berufsleben so scharf voneinander zu trennen vermochten. Schließlich wandte er sich von den Schuhen im Schaufenster ab und ging weiter, da Vianellos Boot bald eintreffen würde.

Er rief sich Fälle ins Gedächtnis, an denen Alvise beteiligt gewesen war, und wie Alvise jedes Mal für Chaos gesorgt hatte: Einmal hatte er an der falschen Adresse eine Festnahme durchführen wollen, ein andermal eine Mappe mit Zeugenaussagen im Bus liegen lassen. Andererseits hatte Alvise einmal einen Mann entwaffnet, der seine Frau mit dem Küchenmesser bedrohte, und eine Schlägerei in einem Restaurant verhindert, als ein unzufriedener Gast einen Teller Pasta nach dem Kellner geworfen und den Tisch umgestürzt hatte. Irgendwie war es Alvise am Nebentisch gelungen, den Mann so lange zu beruhigen, bis dieser sich beim Kellner entschuldigte und half, den Tisch wieder auf die Beine zu stellen.

Die Mutter dieses Mannes, hatte Alvise dem Inhaber erzählt, liege sterbenskrank im Hospital. Die Pasta habe den Mann, der sich nun unter Tränen entschuldigte, so sehr an seine Mutter erinnert, dass er durchgedreht sei. Als sich die Sache am nächsten Tag in der Questura herumsprach, meinte Alvise nur, das einzige Opfer sei die sehr gute Pasta gewesen.

In diesem Moment erspähte der Commissario Vianello in Cordhose und dickem Parka am Anfang der Taxischlange. Als Vianello Brunetti näher kommen sah, öffnete er ihm den Wagenschlag und stieg selbst auf der anderen Seite ein. Erst nachdem der Ispettore dem Fahrer die Adresse der Questura in Treviso genannt hatte, lehnte er sich zurück.

»Nun?«, fragte Brunetti.

Vianello beugte sich vor und schob die Glasscheibe zwischen ihnen und dem Fahrer zu. Dann drehte er sich zu Brunetti um und sagte mit gedämpf‌ter Stimme: »Der Umzug war das Übliche: rund zweihundert Leute mit Transparenten, die Slogans skandierten. Fazio meint, die...

Erscheint lt. Verlag 24.5.2023
Reihe/Serie Commissario Brunetti
Commissario Brunetti
Übersetzer Werner Schmitz
Verlagsort Zürich
Sprache deutsch
Original-Titel So Shall You Reap
Themenwelt Literatur Krimi / Thriller / Horror Krimi / Thriller
Schlagworte Brigate Rosse • Brunetti • Brunetti, Guido • Brunettis Studienjahre • Buddhismus • Commissario • Gewalt • Guido • Italien • Jugendideale • Krimi • Krimiserie • Polizei • Rote Brigaden • Sri Lanka • Tamile • Venedig
ISBN-10 3-257-61345-8 / 3257613458
ISBN-13 978-3-257-61345-2 / 9783257613452
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