Prägung (eBook)
240 Seiten
Berlin Verlag
978-3-8270-8068-4 (ISBN)
Christian Dittloff, geboren 1983 in Hamburg, studierte Germanistik und Anglistik in Hamburg sowie Literarisches Schreiben in Hildesheim, arbeitete in einer Psychiatrie, als Kulturjournalist und Experte für Kulturmarketing. 2018 erschienen sein Romandebüt »Das Weiße Schloss« und 2020 sein autofiktionaler Text »Niemehrzeit. Das Jahr des Abschieds von meinen Eltern«. Er lebt und schreibt in Berlin.
Christian Dittloff, geboren 1983 in Hamburg, studierte Germanistik und Anglistik in Hamburg sowie Literarisches Schreiben in Hildesheim, arbeitete in einer Psychiatrie, als Kulturjournalist und Experte für Kulturmarketing. 2018 erschienen sein Romandebüt »Das Weiße Schloss« und 2020 sein autofiktionaler Text »Niemehrzeit. Das Jahr des Abschieds von meinen Eltern«. Er lebt und schreibt in Berlin.
STEINBRUCH
Das ist doch wie Manspreading, nur als Atemgeräusch, denke ich und balle die Fäuste, während ich versuche zu meditieren.
Nach dem Tod meiner Eltern hatte sich eine mir in ihrer dröhnenden Dauer bisher unbekannte Traurigkeit in mein Wesen eingeschlichen. Sie war wie ein Stein an meinen Alltag gekettet. Alles erschien mir anstrengender als zuvor. Ich geriet schneller außer Atem, aus der Fassung, kam nicht mehr in Form. Und wenn mich Situationen überforderten, spürte ich eine ungeahnte Wut in mir aufsteigen. Mein Magen war flau, meine Gedanken kreisten, mein Herz flatterte; es war, als würde diese Wut mich verhärten und beschweren, um mir Bodenhaftung zu geben. Ich nahm daraufhin verschiedene Therapieangebote in Anspruch. Darunter auch eine regelmäßige Meditation, gemeinsam mit anderen Patient:innen in Trauer, mit Depressionen und Burn-out-Symptomen. Wir lagen in einem lichtdurchfluteten Seminarraum auf unseren Matten. Die Therapeutin leitete uns mit freundlicher Stimme an, gab die Atmung vor: ein, aus, ganz langsam, ein, aus, es ist alles da. Ich spürte, wie ich allmählich ruhiger wurde, wie mir die empathische Verbindung mit den anderen im Raum guttat und ich mich dem allgemeinen Rhythmus hingeben konnte. Dann forderte die Therapeutin uns auf, kräftiger auszuatmen, um damit die Reste blockierender Gedanken loszuwerden, und was uns auf der Brust lag, mit mehreren Seufzern auszustoßen. Ein gedämpfter Chor erklang. Wir atmeten aus, machten den Mundraum rund und schlossen halb die Lippen, sodass der Klang lauter in uns selbst als in den Ohren der anderen widerhallte. Bis plötzlich ein einzelnes lautes Stöhnen den Gleichklang durchbrach. Ich öffnete die Augen einen Spalt weit und sah einen der wenigen Männer den Mund aufreißen. Beim nächsten Ausatmen wurde das Geräusch noch lauter, und jetzt begannen auch zwei andere Männer, ihre blockierenden Gedanken auf eine Art herauszulassen, die mehr an Tierlaute erinnerte. Während der Meditation, die vorher eine wunderschöne Gedankenreise gewesen war und uns an einen Bergsee geführt hatte, war ich kaum noch zur Konzentration fähig. Ich wurde meine aufsteigende Wut über das Verhalten dieser Kerle nicht mehr los. Ich dachte: Wir teilen alle diesen Raum, und ihr macht euch zu groß. Ihr atmet euch direkt ins Erleben der anderen hinein mit eurer aggressiven Selbstverständlichkeit. Das war meine Deutung, die vielleicht mehr mit mir selbst zu tun hatte, als ich es mir eingestehen wollte. Ich versuchte, weiter zu meditieren, mit geballten Fäusten. Am liebsten wäre ich aufgestanden, um den Typen der Reihe nach in die Fresse zu schlagen. Aber abgesehen davon, dass ich ein eher friedliebender Zeitgenosse bin, kam mir zum Glück schnell ein Gedanke: dass sich in meiner Gewaltfantasie nämlich genau dieselbe aggressive Männlichkeit offenbarte, die mich mit den aufdringlichen Stöhnattacken hier fast zur Weißglut trieb. Und das erledigte meine Meditationsfähigkeit schließlich vollends – zumindest für diesen Tag. Das war der Moment, in dem mir schlagartig klar wurde, dass ich mich näher mit dem Thema Männlichkeiten befassen wollte.
Harte, spitze, glatte, bunte und gebrochene Geschichten: In meiner Kindheit habe ich Mineralien gesammelt. Ich besaß mehrere flache Setzkästen mit Smaragden, Bergkristallen, Amethysten und Versteinerungen, den Abdruck eines Flusskrebses, eine versteinerte Schnecke.
Jedes Jahr war ich mit meinem Vater auf der Mineralienmesse in Hamburg und lief staunend durch die Gänge. Welchen Wert so kleine Gegenstände haben konnten. Ihr Preis hing von verschiedenen Faktoren ab: Seltenheit, Härte, Schönheit und – natürlich – dass man sich irgendwann irgendwie auf diesen Wert geeinigt hatte. Mit besonderer Faszination stand ich vor einer Bühne, daneben ein Haufen aus Steinkugeln in der Größe von Männerfäusten. Neben dem Haufen Werkzeuge: Hammer und Meißel unterschiedlicher Formen und Größen, eine Diamantsäge sowie etwas, das ich heute (nach Recherche) als Gusseisenrohrschnappschneider benennen kann – eine Metallkette, die man um einen solchen runden Gegenstand legt, um ihn mit graduell erhöhter Spannkraft möglichst gleichmäßig zu zerteilen. Und auf einem weiteren Tisch lagen solche Steinkugelhälften zur Ansicht, aus deren Mitte es bunt funkelte. Es handelte sich dabei um sogenannte Drusen, rundliche, durch eine steinerne Außenschicht begrenzte und mit Kristallansammlungen gefüllte Hohlkörper (bei vollständiger Füllung nennt man sie Geoden). Die ergiebigsten Fundstätten von Drusen liegen in Steinbrüchen und Höhlen Südamerikas. In die durch vulkanische Prozesse entstandenen Hohlräume im Gestein sickert mineralhaltiges Wasser ein, das im Laufe der Zeit zur Bildung von Kristallen führt, häufig handelt es sich dabei um Amethyste mit einem Quarz in violetter Färbung.
Die Steinkugeln wurden live on stage geknackt. Man konnte sich ein Exemplar vom Haufen nehmen und es dem bärtigen Mineralienhändler übergeben, der einen Tipp abgab, wie viel Kristall wohl darin steckte. Denn das war der Reiz: Einige der Drusen waren mit mehr, andere mit weniger kristallinem Funkeln gefüllt, und man erlebte eine in Aufregung kippende Ungewissheit, wenn man eine solche Steinkugel erwarb. Ich erinnere mich noch genau an diese trippelnde Gefühlsspannung in mir, zwischen ängstlich und hoffnungsvoll. Umso größer die Freude, wenn aus dem aufgebrochenen Stein das lilafarbene Glühen eines Amethysts hervortrat und nicht nur eine blasse andere Quarzbildung. Die meisten Edelsteine und Mineralien habe ich von meinem angesparten Taschengeld gekauft. Doch die Drusen hat mir mein Vater als Höhepunkte unserer jährlichen Messebesuche geschenkt.
Einige dieser Kugelhälften besitze ich noch heute. Die besonders farbintensiven Exemplare zieren mein Bücherregal als Zeugen meiner kindlichen Begeisterung, andere liegen im Keller meiner Berliner Wohnung in einem Umzugskarton. Ihr Wert hat sich ins Ideelle verschoben, denn so eine faustgroße Druse kostet um die zehn Euro und lässt sich heute im Internet als Partyspaß für Kindergeburtstage bestellen. Doch ich kann das faszinierende Gefühl noch gut nachempfinden: nicht zu wissen, was der unscheinbare Stein bereithält.
Seit längerer Zeit schreibe ich Erinnerungen an meine Kindheit und Jugend auf. Szenen wie diese und ganz andere. Meine Eltern sind vor fünf Jahren gestorben. Erst mein Vater, an einem langen Lungenleiden, und dann – nur vier Monate später – meine Mutter, deren Todesursache schwerer zu greifen ist; sie hat sich aufgelöst, die Kraft, die Knochen, der Lebenswille. Die Zäsur des Elterntods hat mich in einen tiefen Spalt fallen lassen, an dessen Grund ich meine Lebensmitte fand. Die Erkenntnis: Der eigene Tod wird einmal ein reales Ereignis sein. Doch die Trauer ist auch, wie es etwa bei Proust heißt, eine Spitze des Besonderen, von der aus sich das Leben überblicken lässt. Aus dem Tod meiner Eltern erwuchs ein Buch. Durch die Arbeit am Text, das Ordnen von Gefühlen und Gedanken zu erzählbaren Sinneinheiten, arbeitete ich zugleich an einer inneren Erzählung und veränderte den Verlauf meiner Trauer, da ich sie sowohl als Gefühl als auch gedanklich durchlebte. Die Sprache machte die Bedrohung endlich. Es überrascht mich nicht, dass sich meine Aufmerksamkeit nach diesem intensiven Schreibprozess auf einen weiteren Aspekt meiner Vergangenheit gerichtet hat und ich Teile des lieb gewonnenen literarischen Verfahrens beibehalten möchte. Denn im Zutagefördern so mancher Erinnerung an meine Eltern und ihren Tod habe ich auch neue Facetten an mir selbst kennengelernt und mich dabei schreibend verändert. Oder um in der Bildwelt der Drusen zu bleiben: In durch emotionale Prozesse entstandene Hohlräume meines Wesens sickerten Gedankenimpulse, die sich mit der Zeit für mich zu einem inneren Funkeln verdichtet haben.
Einige Monate nach dem Meditationsvorfall schrieb ich mich fast um den Verstand. Einer rauschhaften Bewegung folgend, hieb ich Teile der Geschichte meiner Prägung als Mann in die Tasten, schichtete ein Erlebnis auf das nächste, Erinnerungen an erste erotische Faszinationen als Kind und an das Staunen über die mutige Gewandtheit anderer, das neidische Hochschauen, verebbte Gewaltimpulse, die hilflosen Deutungen des Verhaltens der Erwachsenen. Erinnerungen an die Angst vor Peinigern in der Grundschule und die Scham über eigenes diskriminierendes Verhalten während der Zeit auf dem Gymnasium. Dumme Äußerungen von Lehrern, erste Beziehungen, Liebe,...
Erscheint lt. Verlag | 23.2.2023 |
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Verlagsort | München |
Sprache | deutsch |
Themenwelt | Literatur ► Essays / Feuilleton |
Schlagworte | 80er Jahre • 90er Jahre • Aufwachsen • Aufwachsen als Mann • Autofiktion • autofiktionales Erzählen • autofiktionales Selbstporträt • Deutschland • Diversität • Feminismus • Gender • Genderdebatte • Gender Diversity • Genderforschung • Gender-Theorie • Lebensveränderung • Männliche Gewalt • Männliche Sexualität • Männlichkeit • Männlichkeitswahn • patriarchale Prägung • Patriarchat • Patriarchatskritik • Popkultur • Prägung • Selbstbetrachtung • Sexualität • Sexualität Männer • toxische männlichkeit • Überwindung des Patriarchats |
ISBN-10 | 3-8270-8068-1 / 3827080681 |
ISBN-13 | 978-3-8270-8068-4 / 9783827080684 |
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