Haus der Stimmen (eBook)
352 Seiten
Atrium Verlag AG Zürich
978-3-03792-190-6 (ISBN)
Donato Carrisi, geboren 1973 in einem Dorf in Apulien, lebt in Rom. Er studierte Jura und spezialisierte sich auf Kriminologie und Verhaltensforschung. Nach einer kurzen Tätigkeit als Anwalt arbeitet er heute als Autor und Regisseur. Neben seinem Bestseller Der Nebelmann mit Jean Reno wurde auch sein Thriller Diener der Dunkelheit mit Dustin Hoffman fürs Kino verfilmt.
Donato Carrisi, geboren 1973 in einem Dorf in Apulien, lebt in Rom. Er studierte Jura und spezialisierte sich auf Kriminologie und Verhaltensforschung. Nach einer kurzen Tätigkeit als Anwalt arbeitet er heute als Autor und Regisseur. Neben seinem Bestseller Der Nebelmann mit Jean Reno wurde auch sein Thriller Diener der Dunkelheit mit Dustin Hoffman fürs Kino verfilmt.
23. Februar
Ein Streicheln im Schlaf.
An der Grenze zum Wachsein, kurz vor dem Abgrund ins Vergessen, die zarte Berührung von kühlen Fingern auf der Stirn. Und ein sanftes, trauriges Wispern.
Ihr Name.
Das Mädchen riss die Augen auf. Eine plötzliche Furcht überkam sie. Jemand war zu ihr gekommen, während sie gerade einschlief. Vielleicht einer der ehemaligen Hausbewohner, mit denen sie hin und wieder ein paar Worte wechselte und die sie rascheln hörte wie die Ratten entlang der alten Mauern.
Doch diese Geister waren in ihrem Kopf, nicht dort draußen.
Auch Ado – der arme kleine Ado – kam sie manchmal besuchen. Aber im Gegensatz zu den Geistern sprach er nie mit ihr.
Nein, ihre Furcht hatte einen handfesten Grund.
Denn abgesehen von ihren Eltern kannte niemand auf der Welt da draußen ihren Namen.
So wollte es die Regel Nummer 3.
Die Vorstellung, gegen eine der fünf Regeln ihrer Eltern verstoßen zu haben, erschreckte sie. Sie hatten ihr immer vertraut. Sie durfte sie nicht enttäuschen. Vor allem jetzt nicht, wo Papa versprochen hatte, ihr das Jagen mit Pfeil und Bogen beizubringen, und Mama es endlich erlaubt hatte. Doch dann überlegte sie: Konnte es überhaupt ihre Schuld gewesen sein?
Regel Nummer 3: Sag niemals einem Fremden deinen Namen.
Weder hatte sie einem Fremden ihren Namen gesagt, noch konnte ihn jemand auf andere Art erfahren haben. Auch weil sie seit Monaten keine Menschenseele mehr in der Nähe des Bauernhofs gesehen hatten. Sie lebten vollkommen abgeschieden mitten auf dem Land, bis zur nächsten Stadt war es ein Fußmarsch von zwei Tagen.
Sie befanden sich in Sicherheit. Nur sie drei.
Regel Nummer 4: Komm niemals einem Fremden zu nahe und lass keinen Fremden zu nahe an dich heran.
Wie also hatte jemand sie beim Namen rufen können?
Es musste das Haus selbst gewesen sein, es gab keine andere Erklärung. Manchmal knackte es unheilvoll in den Balken, oder es knisterte leise. Papa sagte dann immer, das Haus würde sich auf seinen Fundamenten zurechtruckeln, wie ein altes Mütterchen mit schmerzenden Knochen in seinem Ohrensessel. Bestimmt hatte sie so ein Geräusch im Halbschlaf für ihren Namen gehalten. Ja, so musste es gewesen sein.
Ihr erregtes Gemüt beruhigte sich. Sie schloss die Augen. Schon hatte der Schlaf sie fast wieder mit seinem stillen Locken davongetragen, ins Warme, wo alles sich in nichts auflöst, als die Stimme erneut nach ihr rief.
Diesmal stützte das Mädchen sich auf dem Kopfkissen hoch und versuchte, mit den Augen die Dunkelheit zu durchdringen. Der Holzofen im Flur war schon vor Stunden ausgegangen. Nur unter der Decke war es noch warm, überall sonst hatte sich die Kälte ausgebreitet. Jetzt war sie endgültig wach.
»Wer bist du?«, hätte sie am liebsten in die Finsternis hineingerufen. Doch sie hatte Angst vor der Antwort. Oder vielleicht kannte sie sie auch schon.
Regel Nummer 5: Wenn ein Fremder dich bei deinem Namen ruft, ergreife die Flucht.
Sie setzte sich auf, tastete nach der einäugigen Lumpenpuppe, die immer bei ihr schlief, und drückte sie fest an ihre Brust. Ohne die Nachttischlampe einzuschalten, kletterte sie aus dem Bett und lief barfuß durch das dunkle Zimmer in den Flur. Nur ihre tappenden Schritte auf dem Holzboden waren zu hören. Sie musste Mama und Papa warnen.
Von der Treppe, die nach unten in die Küche führte, drang der Rußgeruch des Kamins zu ihr hoch. Sie sah den schweren Tisch aus Olivenholz vor sich, auf dem noch die Reste ihres Festmahls standen. Genau drei Stücke waren aus der Torte aus altem Brot und Zucker herausgeschnitten, die ihre Mutter gebacken hatte. Auch die zehn Kerzen, die sie vom Schoß ihres Vaters aus in einem Atemzug ausgeblasen hatte, befanden sich noch dort.
Je näher sie dem Schlafzimmer ihrer Eltern kam, umso mehr wurden ihre glücklichen Erinnerungen von bösen Vorahnungen verdrängt.
Regel Nummer 2: Fremde bedeuten Gefahr.
Sie hatte es mit eigenen Augen gesehen: Die Fremden entführten Menschen, brachten sie fort von ihren Liebsten. Niemand wusste, wo sie sich aufhielten oder was aus ihnen geworden war. Aber vielleicht war sie auch einfach noch zu jung, noch nicht reif genug, um die ganze Wahrheit zu erfahren. Sie wusste nur, dass diese Menschen nie mehr zurückkehrten.
Nie mehr.
»Papa, Mama … Da ist jemand draußen vor dem Haus«, sagte sie leise, aber in dem bestimmten Tonfall einer Erwachsenen.
Ihr Vater wurde als Erster wach, gleich darauf auch ihre Mutter. Sofort hatte das Mädchen ihre volle Aufmerksamkeit.
»Was hast du gehört?«, fragte die Mutter, während der Vater die Taschenlampe zur Hand nahm, die stets griffbereit neben seinem Bett lag.
»Meinen Namen«, erwiderte das Mädchen zögernd. Sie hatte Angst, ausgeschimpft zu werden, weil sie gegen eine der fünf Regeln verstoßen hatte.
Doch niemand machte ihr einen Vorwurf. Ihr Vater schaltete die Taschenlampe ein und schirmte sofort den Lichtstrahl mit der Hand ab, damit die Eindringlinge nicht mitbekamen, dass sie wach waren.
Die Eltern stellten keine weiteren Fragen. Sie mussten erst herausfinden, ob sie ihr Glauben schenken konnten. Aber nicht, weil sie sie für eine Lügnerin hielten; sie wussten ganz genau, dass sie in einer solchen Situation niemals die Unwahrheit sagen würde. Sie mussten lediglich sicherstellen, dass das, was sie erzählt hatte, der Realität entsprach. Dabei wünschte das Mädchen so sehr, sich alles eingebildet zu haben.
Reglos, die Köpfe leicht gesenkt, verharrten ihre Eltern schweigend und horchten in die Dunkelheit hinein. Das Mädchen musste an die Radioteleskope in ihrem Astronomiebuch denken, die den Himmel nach unbekannten Signalen absuchten – sosehr man es vielleicht hoffte, so groß war die Angst, tatsächlich ein Signal zu empfangen. Denn die Entdeckung, nicht allein im Universum zu sein, wäre, wie Papa ihr erklärt hatte, keine wirklich gute Nachricht. »Die Außerirdischen haben nicht unbedingt freundliche Absichten …«
Endlose Sekunden in absoluter Stille vergingen. Die einzigen Geräusche kamen vom Rauschen des Windes in den vertrockneten Baumkronen, dem Quietschen der rostigen Wetterfahne auf dem Dach und dem Ächzen der alten Scheune – wie ein Walfisch, der auf dem Grund des Ozeans schlief.
Plötzlich ein metallisches Klirren.
Ein zu Boden gefallener Blecheimer. Um genau zu sein: der Eimer aus dem alten Brunnen. Ihr Vater hatte ihn zwischen zwei Zypressen in der Nähe des Hühnerstalls befestigt, als eine der selbst gebauten Alarmanlagen, die er jeden Abend rund ums Haus aufstellte.
Sie wollte etwas sagen, doch bevor sie ein Wort herausbringen konnte, hatte ihr die Mutter schon die Hand auf den Mund gelegt. Vielleicht war es ein Tier, hatte sie sagen wollen, ein Marder oder Fuchs, es mussten nicht unbedingt die Fremden sein.
»Die Hunde«, flüsterte ihr Vater.
Erst jetzt begriff sie es auch. Papa hatte recht: Wenn es ein Marder oder Fuchs gewesen wäre, hätten die Wachhunde sofort zu bellen angefangen, als der Eimer scheppernd zu Boden fiel. Wenn sie es nicht getan hatten, gab es nur eine Erklärung.
Jemand hatte sie zum Schweigen gebracht.
Bei dem Gedanken, dass ihren vierbeinigen Freunden etwas passiert sein konnte, stiegen ihr die Tränen in die Augen. Mit aller Macht versuchte sie, nicht zu weinen. Eine Welle der Panik überflutete sie.
Ihre Eltern mussten nur einen Blick wechseln. Sie wussten genau, was zu tun war.
Ihr Vater sprang als Erster aus dem Bett. Rasch zog er sich an, nur seine Schuhe ließ er weg. Die Mutter folgte seinem Beispiel, doch dann tat sie etwas, das das Mädchen sprachlos machte: Sie wartete, bis der Vater außer Sichtweite war, dann schob sie die Hand unter die Matratze, holte einen kleinen Gegenstand hervor und steckte ihn hastig in ihre Hosentasche. Das Mädchen konnte nicht erkennen, was es war.
Sie wunderte sich. Mama und Papa hatten doch sonst keine Geheimnisse voreinander.
Bevor sie nachfragen konnte, drückte die Mutter ihr eine Taschenlampe in die Hand, kniete sich vor sie hin und legte ihr eine Decke um die Schultern.
»Weißt du noch, was jetzt drankommt?«, fragte sie und schaute ihr gerade in die Augen.
Das Mädchen nickte. Der feste Blick der Mutter machte ihr Mut. Seit dem Umzug auf den verlassenen Bauernhof vor gut einem Jahr hatten sie das »Manöver« – so nannte ihr Vater es – dutzendfach geübt. Jetzt kam es zum ersten Mal zum Einsatz.
»Halt deine Puppe gut fest«, sagte die Mutter, nahm ihre Hand in die eigene, die warm und stark war, und zog sie mit sich fort.
Während sie die Treppe hinuntereilten, drehte das Mädchen sich für einen Moment nach hinten um. Sie sah, wie der Vater entlang der Wände im Obergeschoss einen der Kanister ausleerte, den er aus der Abstellkammer geholt hatte. Sofort war die Flüssigkeit in den Ritzen zwischen den Dielen versickert. Zurück blieb nur ein beißender Geruch.
Als sie das Erdgeschoss erreicht hatten, zog die Mutter sie in den hinteren Teil des Wohntrakts. Holzsplitter bohrten sich in ihre nackten Füße. Das Mädchen presste die Zähne aufeinander, um nicht vor Schmerzen aufzustöhnen. Doch es war unnötig – sie mussten sich nicht mehr verstecken, denn die Fremden hatten sie längst bemerkt.
Sie hörte, wie sie draußen auf der Suche nach einem Eingang um das Haus herumliefen.
Auch früher war es vorgekommen, dass es an dem Ort, an dem sie sich sicher wähnten, eine Bedrohung gegeben hatte. Doch bisher waren sie der Gefahr immer entgangen.
Sie kamen an dem großen Holztisch mit der Geburtstagstorte und den zehn...
Erscheint lt. Verlag | 16.3.2023 |
---|---|
Übersetzer | Susanne Volxem, Olaf Roth |
Verlagsort | Hamburg |
Sprache | deutsch |
Themenwelt | Literatur ► Krimi / Thriller / Horror ► Krimi / Thriller |
Schlagworte | Erinnerung • Familie • Italien • Kindheitstrauma • Klinik • Psychologie • Psychotherapie • Psychothriller • Toskana |
ISBN-10 | 3-03792-190-0 / 3037921900 |
ISBN-13 | 978-3-03792-190-6 / 9783037921906 |
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Größe: 1,0 MB
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