Der Küstenort Cascais ist nur einen Katzensprung von Lissabon entfernt. Die malerische Steilküste und die zahlreichen Sehenswürdigkeiten locken Urlauber ebenso an wie Einheimische auf der Suche nach einer kleinen Auszeit. Die Polizistin Helena Gomes hat an diesem Tag jedoch keine Augen für die Schönheit des Atlantiks: Eine Frau liegt tot am Strand. Die Gerichtsmedizin schließt Fremdeinwirkung nicht aus. Und auch Helenas Freund, der kriminalistisch begabte Antiquar Henrik Falkner, wittert ein Verbrechen. Gemeinsam kommen die beiden einem dunklen Geheimnis auf die Spur, das seinen Ursprung tief in den Gassen von Lissabons Hauptstadt hat ...
Luis Sellano ist das Pseudonym eines deutschen Autors. Auch wenn Stockfisch bislang nicht als seine Leibspeise gilt, liebt Luis Sellano Pastéis de Nata und den Vinho Verde umso mehr. Schon sein erster Besuch in Lissabon entfachte seine große Liebe für die Stadt am Tejo. Luis Sellano lebt mit seiner Familie in Süddeutschland. Regelmäßig zieht es ihn auf die geliebte Iberische Halbinsel, um Land und Leute zu genießen und sich kulinarisch verwöhnen zu lassen.
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Helena
Mit der aufgehenden Sonne im Rücken fuhr sie am Fluss entlang. Entgegen dem morgendlichen Verkehrsstrom war sie schneller als erwartet raus aus der Innenstadt. Und das war gut so. Zu viel Zeit im Auto bedeutete zu viel Zeit zum Nachdenken. Nicht, dass sie sich wegen Sara Sorgen machte. Vielmehr war es Henrik, der das Problem darstellte. Sie würde gerne daran glauben, dass es ihm bald besser ging, aber es mangelte ihr immer mehr an der Zuversicht. Nicht nur, was dieses eine, schwerwiegende Problem anging; auch was die einfachen Dinge des Lebens betraf, fragte sie sich immer häufiger, ob er hinbekam, was sie ihm auftrug. Henrik hatte sich eine Seuche eingefangen, die nicht seinen Körper, sondern seinen Geist in Mitleidenschaft zog. Leider akzeptierte er immer noch nicht, dass er diese Krankheit ohne medizinische Hilfe nicht einfach so wieder loswurde. Andererseits, wenn es um Sara ging, war er immer noch am verlässlichsten. Sein Umgang mit ihrer Tochter war so ziemlich das Einzige, was noch normal funktionierte. Außerdem hatte sie die Gewissheit, dass ihre Sara es in der Zwischenzeit durchaus auch allein in den Kindergarten schaffte. Immerhin wurde sie in vier Monaten eingeschult. Henrik damit zu beauftragen, sie zu begleiten, war eher zu einer therapeutischen Maßnahme geworden, um ihn wenigstens für kurze Zeit aus dem Haus zu locken. Helena wünschte sich nichts mehr, als dass sich bei ihm bald eine Besserung abzeichnete … Merda! Genau damit wollte sie sich jetzt nicht befassen. Nicht, wenn sie unterwegs zu einem Tatort war.
Unbekannte Tote am Strand. So lautete die Meldung der Ortspolizei. Hatte sie so einen Fall schon mal? Jedenfalls nicht draußen in Cascais, dem einstigen Fischerort, der schon vor Jahrzehnten zu einem beliebten Ferienziel geworden war. Zudem ausgerechnet der Ort, in dem sich ihre Eltern nach ihrem Ruhestand niedergelassen hatten. Kurz hatte sie mit dem Gedanken gespielt, ihnen Bescheid zu geben, dass sie auf dem Weg nach Cascais war. Doch es war zu früh, um bei ihnen anzurufen. Jetzt konnte sie nur darauf hoffen, dass ihre Eltern nicht plötzlich am Absperrband standen und nach ihr riefen, während sie eine Leiche inspizierte.
Helena war in dem altersschwachen Peugeot unterwegs, den sie schon fuhr, seit sie ihren Führerschein hatte. Natürlich hätte sie auch einen Dienstwagen nehmen und zusammen mit ihrem Kollegen Lui Simões rausfahren können. Aber so war es einfacher und irgendwie entspannter für sie. Auch wenn sie fortwährend Gefahr lief, dass ihr fahrbarer Untersatz hinter der nächsten Kurve den Geist aufgab. Doch sie hing an der verbeulten Kiste mit ihren ausgeschlagenen Lagern und den knirschenden Stoßdämpfern. Und irgendwie brauchte sie wohl auch den Kick, den ihr das ungesunde Scharren im Getriebe und die immer heftiger werdenden Vibrationen der Reifen bescherten. Abgesehen davon, dass das Getöse, das ihr Auto verursachte, immer noch besser war als das Gelaber von Lui. Nachdem ihr Anruf erfolglos blieb, hatte sie ihm eine Nachricht geschickt, bevor sie losgefahren war. Doch auch darauf war bisher keine Antwort eingegangen. Lui war ein seltsamer Kauz, und auch wenn er schon seit fünf Jahren ihr Partner bei sämtlichen Ermittlungen war, waren sie nie sonderlich warm miteinander geworden. Was vorrangig daran lag, dass sie ihm nicht vertraute.
Auch wenn sie über die Autobahn vielleicht zehn Minuten schneller gewesen wäre, blieb sie dennoch auf der Küstenstraße N٦. Auf den Blick hinaus aufs Meer wollte sie nicht verzichten. Er war Balsam für die Seele. Und das konnte nicht schaden, wenn man auf dem Weg war, um sich einen toten Menschen anzusehen. Das frühe Sonnenlicht glitzerte auf den Wellen, und die Luft, die durch das halb geöffnete Fenster strömte, war frisch und belebend. Für die nächsten paar Kilometer schaffte sie es, den Moment einzufangen und einfach nur zu fahren. Der Fahrtwind blies ihre Gedanken fort, was selten genug vorkam. Sie war immer schon ein Kopfmensch gewesen, eine Skeptikerin, die nichts unhinterfragt stehen lassen konnte.
In Cascais angekommen, folgte sie der Straße hinein in den Ortskern, die sie auch nahm, wenn sie ihre Eltern besuchte. Bald sah sie die Blaulichter. Ein Streifenpolizist wies sie an, bis runter zur Bucht zu fahren, die sich östlich des ursprünglichen Dorfs erstreckte. Trotz der frühen Stunden hatten sich schon einige Schaulustige angesammelt, die das Durchkommen bis zum von der Polizei gesicherten Bereich erschwerten.
Helena stieg aus dem Wagen, zeigte dem dort abgestellten Uniformierten ihre Dienstmarke und schlüpfte unter dem gelben Plastikband hindurch. Die Bucht war überschaubar. An der Wasserkante gemessen, erstreckte sie sich knapp über zweihundert Meter, auf beiden Seiten durch schroffe Felsen begrenzt. Helena kannte den Strand nur zu gut. Wenn sie mit Sara bei ihren Eltern war, war es unvermeidlich, mit ihrer Tochter hierherzukommen, egal bei welchem Wetter. Heute waren alle Zugänge zum Praia da Duquesa gesperrt. Im Westen thronte auf den vom Atlantik geformten Klippen das Hotel Albatroz. Daran vorbei verlief die Promenade, die der Küstenlinie folgte und auf der es sich bis nach Estoril flanieren ließ. Entlang des Strandabschnitts reihten sich Eisbuden, Imbissstände und zwischendrin die Verleihshops für Surfbretter und anderweitige Wassersportarten und Strandrestaurants. In der östlichen Ecke das hellen Sandstreifens ragte das Casa Palmela in den morgendlichen Himmel. Vormals befand sich dort die Bastion De Nossa Senhora da Conceição, ein strategisch günstiger Verteidigungsposten, zu einer Zeit, als Portugal noch eine stolze Seemacht war. Im Schatten der alten Wehrmauern hatte die Ortspolizei eine tennisplatzgroße Fläche abgesteckt. Uniformierte Kollegen sicherten den Abschnitt. Schon von der Promenade aus erblickte Helena den leblosen Körper auf einer dort ausgebreiteten Plane. Ein Mediziner in grellrot leuch-tender Rettungsweste kniete neben der Toten. Unverkennbar wegen seiner Größe stand dort auch Lui, der dem Arzt über die Schulter blickte. Er war also tatsächlich vor ihr eingetroffen. Das passte gar nicht zu dem Langschläfer, der sonst immer als Letzter im Büro auftauchte.
Warum hat er mir nicht Bescheid gegeben?
Von jeher missfiel Helena seine anbiedernde Art gegenüber Vorgesetzten, aber hin und wieder setzte er noch einen drauf. Mit was wollte er sich diesmal wieder vor ihr profilieren? Die Meeresbrise zerzauste Luis schwarze Locken und ließ die Hosenbeine seines cremefarbenen Leinenanzugs flattern. Mit einem Mal drehte er sich zu ihr um, als bemerkte er ihren Blick auf seinen gekrümmten Rücken. Sie nickte ihm zu und stieg die Betonstufen runter. Lui ging ihr entgegen, und genau wie sie versank auch er mit jedem Schritt tief im weichen Sand.
»Ertrunken«, sagte er, als er sicher war, nahe genug zu sein, um den Wind zu übertönen. Obwohl der Strandbereich noch immer im Schatten lag, saß auf seiner schiefen Nase eine klobige Sonnenbrille, die es unmöglich machte, ihm in die Augen zu sehen.
Wir kommen also gleich zur Sache. »Deswegen lotsen sie uns hier heraus?«, fragte Helena zurück, kaum dass sie ihn erreicht hatte.
»Die Kollegen der Guarda Nacional, die man nach dem Auffinden der Leiche gerufen hat, waren nicht sicher, ob es ein Unfall war. Vielleicht wollten sie sich auch nur die Schreibarbeit sparen. Jedenfalls haben sie entschieden, die Sache der Kripo aufs Auge zu drücken.«
»Was spricht gegen einen Unfall?«, hakte Helena nach.
Lui sah über seine Schulter runter zum Meer. »In der Bucht war heute Nacht nur mäßiger Wellengang. Schwer, da so einfach zu ertrinken. Und wenn sie weiter als über die Sicherungsleine hinausgeschwommen wäre, hätte sie die Strömung erwischt. Dann wäre sie kaum wieder hier angespült worden«, erklärte er. Offenbar hatte er auch schon mit der Küstenwache gesprochen, so gut wie er informiert war.
»Das setzt voraus, dass sie vom Strand aus ins Wasser gegangen ist. Vielleicht ist sie aber auch von einem Boot gefallen?«
Lui schüttelte den Kopf. »Ein Kreuzfahrtschiff kommt nicht in Frage, denn da wäre kaum mehr so viel von ihr übrig. Außerdem wäre sie auch in diesem Fall so nahe am Delta aufs offene Meer rausgetrieben worden. Abgesehen davon, dass die Küstenwache keine Meldung von einer vermissten Passagierin erhalten hat. Die Guarda geht davon aus, dass sie von diesem Strandabschnitt aus zu ihrem nächtlichen Bad aufgebrochen ist.«
»Weiß man schon, wer sie ist?«
»Sieht nach einer Touristin aus«, mutmaßte er. »Sie hatte keine Papiere in ihrem Badeanzug. Und nein, bevor du fragst, im Bereich das Strandes wurden weder Klamotten noch eine Tasche gefunden, die sie dort abgelegt hat, bevor sie … na ja, du weißt schon …«
»Nimmt dich das mit?«
Lui schüttelte schnell den Kopf. »Nein! Wie kommst du darauf?«
Helena schwieg, weil sie keine Erklärung dafür hatte, was an Lui heute anders war. Sie tippte darauf, dass er mal wieder einen ziemlichen Kater mit sich herumschleppte. Zumindest würde das erklären, warum er seine Augen hinter dunklen Gläsern versteckte.
»Wieso hat der Comandante uns für diese Untersuchung eingeteilt?«
Lui sah aufs Meer hinaus, als stünde dort die Antwort. »Weil unsere vorangegangene Ermittlung abgeschlossen ist«, mutmaßte er, ohne sie anzusehen. Eigentlich hatten sie den Papierkram für die Anklageerhebung zu ihrem letzten Fall noch nicht zusammen. Es waren noch ein paar Aussagen zu prüfen, um für die Staatsanwaltschaft alles hieb- und stichfest zu machen. Andererseits zwang der fortwährende Personalmangel im...
Erscheint lt. Verlag | 12.4.2023 |
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Reihe/Serie | Lissabon-Krimis | Lissabon-Krimis |
Sprache | deutsch |
Themenwelt | Literatur ► Krimi / Thriller / Horror ► Krimi / Thriller |
Schlagworte | 2023 • Bestsellers • eBooks • Gil Ribeiro • Helena Gomes • Henrik Falkner • Krimi • Kriminalromane • Krimis • Lissabon • Neuerscheinung • Portugal • Sommerkrimi • SPIEGEL-Bestsellerautor • Strandlektüre • Urlaubslektüre |
ISBN-10 | 3-641-30288-9 / 3641302889 |
ISBN-13 | 978-3-641-30288-7 / 9783641302887 |
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