Die gelbe Tapete & Herland - Zwei feministische Klassiker in einem Band (eBook)
288 Seiten
Anaconda Verlag
978-3-641-30346-4 (ISBN)
- Endlich eine deutsche Ausgabe mit beiden Schlüsseltexten der großen amerikanischen Frauenrechtlerin
- Aufrüttelnd, fesselnd und schnell gelesen: zwei feministische Klassiker der Weltliteratur
- Für Leser*innen von Edgar Allen Poe und Virginia Woolf
Charlotte Perkins Gilman (1850-1935) war eine amerikanische Schriftstellerin und Feministin. 1892 gelang ihr mit der Erzählung »Die gelbe Tapete« der literarische Durchbruch; ihre Utopie um eine nur von Frauen gebildete Gesellschaft im südamerikanischen Regenwald, »Herland«, wurde ebenfalls vielfach rezipiert und gilt als erste feministische Utopie. Ebenso erregten die politischen Schriften der Frauenrechtlerin große Aufmerksamkeit. 1935 nahm sie sich aufgrund einer Krebserkrankung das Leben.
Nur sehr selten erhalten ganz gewöhnliche Leute wie John und ich die Gelegenheit, den Sommer auf einem alten Herrensitz zu verbringen.
Eine Villa aus Kolonialzeiten, ein über Generationen vererbtes Anwesen, fast möchte ich sagen ein Spukhaus und damit den Gipfel romantischer Glückseligkeit erreichen – aber das hieße, zu viel vom Schicksal zu fordern!
Dennoch will ich stolz verkünden, dass das Haus etwas Seltsames an sich hat.
Warum sonst sollte es so günstig zu pachten sein? Und warum so lange leer gestanden haben?
Natürlich lacht John über mich, aber das erwartet man ja in einer Ehe.
John ist extrem praktisch veranlagt. Glauben schätzt er gering, Aberglauben verabscheut er und verspottet unverhohlen alles Gerede von Dingen, die sich nicht anfassen und sehen und in Zahlen ausdrücken lassen.
John ist Arzt, und möglicherweise – (ich würde es natürlich keiner Menschenseele anvertrauen, aber dies ist stummes Papier und eine große Erleichterung für mich) – möglicherweise ist das ein Grund, warum ich nicht schneller genese.
Er glaubt nämlich nicht, dass ich überhaupt krank bin!
Und was kann man da machen?
Wenn ein hoch angesehener Arzt, der eigene Ehemann, Freunden und Verwandten versichert, alles sei mit einem doch in bester Ordnung, abgesehen von einer vorübergehenden nervösen Niedergeschlagenheit, einer geringfügigen hysterischen Neigung – was soll man da machen?
Mein Bruder ist ebenfalls Arzt, ebenfalls hoch angesehen, und er sagt dasselbe.
Also nehme ich meine Phosphate ein oder Phosphite – was auch immer – und Tonika, und mache Ausflüge, und bewege mich an der frischen Luft, und es ist mir strengstens verboten, zu »arbeiten«, bis ich wieder bei Kräften bin.
Ich selbst bin nicht ihrer Meinung.
Ich selbst glaube, dass angemessene Arbeit, aufregend und abwechslungsreich, mir gut tun würde.
Doch was soll man machen?
Eine Zeit lang habe ich dennoch versucht zu schreiben, den beiden zum Trotz; aber tatsächlich ist es äußerst anstrengend für mich – so verschlagen sein zu müssen, will ich nicht auf heftigen Widerstand stoßen.
Manchmal bilde ich mir ein, dass vielleicht, wenn ich in meinem Zustand auf weniger Widerstand träfe, auf mehr Gesellschaft und Anregungen – doch John sagt, über meinen Zustand nachzudenken sei das Allerschlimmste, das ich tun könne; und ich muss gestehen, dass ich mich jedes Mal unwohl fühle.
Ich will es deshalb dabei belassen und über das Haus sprechen.
Ein wunderschöner Ort! Es steht ganz allein, ein gutes Stück von der Straße entfernt, beinah drei Meilen vom Dorf. Es erinnert mich an englische Häuser, wie man sie aus Büchern kennt, mit Hecken und Mauern und verschließbaren Toren, und vielen einzelnen kleinen Häusern für Gärtner und andere Bedienstete.
Es gibt einen hinreißenden Garten! Noch nie habe ich solch einen Garten gesehen – weit und schattig, voll buchsbaumbestandener Wege und durchzogen von langen, rebenbedeckten Laubengängen, unter die man sich setzen kann.
Früher hat es auch Gewächshäuser gegeben, aber sie sind heute verfallen.
Es soll wohl rechtliche Unstimmigkeiten gegeben haben, irgendetwas zwischen den Erben und Miterben; jedenfalls ist seit Jahren niemand hier gewesen.
So viel also wohl leider zu meiner Idee vom Spukhaus; aber ich bleibe dabei: Da ist etwas Seltsames an diesem Haus – ich kann es fühlen.
Eines Abends bei Mondschein habe ich John sogar von meinem Gefühl erzählt, aber er sagte, es sei der Durchzug, und schloss das Fenster.
Manchmal werde ich über die Maßen wütend auf John. Ich bin mir sicher, dass ich früher nie so empfindlich gewesen bin. Ich denke, es liegt an diesem nervösen Zustand.
Doch John sagt, wenn ich solchen Gefühlen nachgebe, werde ich in meiner Selbstbeherrschung nachlassen. Also versuche ich nach Kräften, die Fassung zu bewahren (wenigstens in seiner Gegenwart), was sehr ermüdend ist.
Unser Zimmer gefällt mir ganz und gar nicht. Ich wollte eines im Erdgeschoss mit einer Verbindung zur Terrasse, einem Meer von Rosen vor dem Fenster und hübschen, altmodischen Chintz-Vorhängen! Aber für John kam das nicht in Frage.
Er sagte, es gebe nur ein Fenster und keinen Platz für zwei Betten und es sei kein Zimmer für ihn in der Nähe, falls er ein anderes nähme.
Er ist sehr besorgt und liebevoll und lässt mich ohne seine ausdrückliche Anweisung kaum einen Finger rühren.
Jede Stunde meines Tages folgt einem strengen Zeitplan; John erspart mir so jegliche Mühe, weshalb ich mir schrecklich undankbar vorkomme, es nicht mehr wertzuschätzen.
Er sagte, wir seien nur meinetwegen hergekommen, dass ich vollkommene Ruhe bräuchte und so viel Luft wie möglich. »Wie viel du dich bewegst, hängt von deiner Kraft ab, mein Schatz«, sagte er, »und wie viel du isst, teilweise von deinem Appetit; aber frische Luft tut dir immer gut.« So haben wir uns für das Kinderzimmer entschieden, im obersten Teil des Hauses.
Es ist ein großer, luftiger Raum, der fast das ganze Stockwerk einnimmt, mit Fenstern rundherum, voller Luft und Sonnenlicht. Es muss wohl zuerst ein Kinderzimmer gewesen sein, danach eine Mischung aus Spielzimmer und Turnhalle, denn die Fenster sind für kleine Kinder mit Gittern versperrt und an den Wänden befinden sich Ringe und Spuren anderer Geräte.
Farbe und Stoff der Tapete sehen aus, als stammten sie aus einer Jungenschule. Die Tapete ist rund um das Kopfende meines Bettes in großen Fetzen abgerissen, etwa so weit ich greifen kann, ebenso an einer großen Stelle auf der anderen Seite des Raums nahe dem Boden. Eine scheußlichere Tapete habe ich in meinem Leben noch nicht gesehen.
Eins dieser maßlosen, wuchernden Muster, die keine stilistische Sünde auslassen.
Es ist so stumpfsinnig, dass ihm das Auge nicht ohne Verwirrung folgen kann, so aufdringlich, dass es einen unablässig reizt und Interesse provoziert, und folgt man dann den lahmen, ziellosen Kurven ein kleines Stück, begehen sie urplötzlich Selbstmord – stürzen herab unter unfassbaren Winkeln, zerstören sich selbst in beispiellosen Widersprüchen.
Die Farbe ist abstoßend, beinah ekelerregend; ein schwelendes, unreines Gelb, seltsam verblichen durch das langsam wandernde Sonnenlicht.
Ein stumpfes, dennoch grelles Orange an manchen Stellen, ein kränklicher Schwefelton an anderen.
Kein Wunder, dass die Kinder es gehasst haben! Ich würde es sicher auch hassen, müsste ich lange in diesem Zimmer bleiben.
Da kommt John, und ich muss das hier weglegen – es ärgert ihn sehr, wenn ich einmal ein paar Worte schreibe.
Wir sind seit zwei Wochen hier, und nach dem ersten Tag war mir nicht wieder nach Schreiben zumute.
Jetzt sitze ich am Fenster, oben in diesem scheußlichen Kinderzimmer, und es hindert mich nichts daran, so viel zu schreiben, wie ich möchte – außer Erschöpfung.
John ist den ganzen Tag weg, manchmal sogar nachts, wenn seine Fälle ernst sind.
Ich bin froh, dass mein Fall nicht ernst ist!
Allerdings sind diese nervösen Zustände furchtbar deprimierend.
John weiß nicht, wie sehr ich wirklich leide. Er weiß, dass es keinen Grund zum Leiden gibt, und das reicht ihm.
Natürlich ist es bloß Nervosität. Tatsächlich lastet es sehr auf mir, meinen Pflichten nicht nachzukommen!
Ich wollte John eine Hilfe sein, ihm Erholung und Zerstreuung bieten, und hier bin ich nun – bereits eher eine Last!
Niemand würde glauben, was es für eine Anstrengung verlangt, das bisschen zu tun, was ich kann – sich anzukleiden und zu unterhalten, und das Personal anzuweisen.
Es ist ein Glück, dass Mary sich so gut um das Baby sorgt. So ein liebes Baby!
Und dennoch kann ich nicht bei ihm sein, es macht mich so nervös.
John war vermutlich niemals im Leben nervös. Er lacht so über mich wegen der Tapete!
Zuerst wollte er das Zimmer neu tapezieren lassen, doch dann sagte er, man dürfe solchen Launen nicht nachgeben, es gäbe nichts Schlimmeres für eine Nervenkranke.
Er sagte, dass es nach der Tapete das schwere Bettgestell sein würde, und dann die Gitter an den Fenstern, dann jenes am Treppenabsatz, und immer so weiter.
»Du weißt, dass der Ort dir guttut«, sagte er. »Und wirklich, Liebes, ich habe nicht vor, ein Haus zu renovieren, das wir für nur drei Monate mieten.«
»Dann lass uns doch unten schlafen«, sagte ich. »Dort gibt es so schöne Zimmer.«
Dann nahm er mich in die Arme und nannte mich seine liebe kleine Gans, und er sagte, er würde im Keller schlafen und ihn obendrein tünchen lassen, wenn ich es wünschte.
Aber er hat schon recht mit den Betten und Fenstern und solchen Dingen.
Es ist ein luftiges und gemütliches Zimmer, so wie man es sich nur wünschen kann, und natürlich würde ich nicht so albern sein und ihm bloß aus einer Laune heraus Unannehmlichkeiten bereiten.
Ich fange wirklich an, das große Zimmer zu mögen – alles außer dieser schrecklichen Tapete.
Aus einem der Fenster kann ich den Garten sehen, diese mysteriösen schattigen Lauben, die wuchernden altmodischen Blumen, und die Büsche und knorrigen Bäume.
Aus einem anderen habe ich einen reizenden Blick auf die Bucht und einen kleinen privaten Anlegeplatz, welcher zum Anwesen gehört. Es gibt einen wunderschönen schattigen Weg, der vom...
Erscheint lt. Verlag | 28.6.2023 |
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Übersetzer | Sabine Wilhelm, Vanessa Chodor, Rebecca Gruttmann, Anna Sophie Lindner, Ken Patrick Seidel, Sarah Zuchowski |
Sprache | deutsch |
Original-Titel | The Yellow Wallpaper & Herland |
Themenwelt | Literatur ► Klassiker / Moderne Klassiker |
Literatur ► Romane / Erzählungen | |
Schlagworte | 2023 • American Horror Story • Amerikanische Kurzgeschichte • Amerikanische Literatur • Autobiografisch • Booktok • eBooks • Edgar Allen Poe • Feminismus • Feministin • feministische Autorinnen • feministische Klassiker • feministische Kurzgeschichte • feministische Utopie • frauenlesen • Frauen lesen • Genderliteratur • Gothic novel • Ich-Erzähler • Klassische Horrorgeschichten • Neuerscheinung • Postnatale Depression • Sandra Newman • Schlüsseltexte Feminismus • sozialkritische Erzählungen • The Men • Viktorianischer Schauerroman • Vivien Harmon • Wahnvorstellung • Weiblicher Literaturkanon • wir lesen frauen |
ISBN-10 | 3-641-30346-X / 364130346X |
ISBN-13 | 978-3-641-30346-4 / 9783641303464 |
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