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Sünde (eBook)

Roman

(Autor)

eBook Download: EPUB
2023
320 Seiten
Limes Verlag
978-3-641-28336-0 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Sünde - Megan Campisi
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»Die Sündenesserin ist unter uns, wir sehen sie nicht, wir hören sie nicht. Wir übergeben ihr unsere Sünden, auf dass sie ihr ins Grab folgen.«
England, 16. Jahrhundert: Als Anna Owens beim Stehlen eines Brotlaibs erwischt und verhaftet wird, ahnt sie nicht, dass die Suche nach der nächsten Mahlzeit künftig ihre geringste Sorge sein wird. Die Waise wird dazu verurteilt eine Sündenesserin zu werden. Von der Gesellschaft geächtet und zum Schweigen verdammt, ist es fortan Annas Aufgabe, Sterbenden die letzte Beichte abzunehmen und deren Sünden so in sich aufzunehmen. Als ausgerechnet die Zofe der Königin schwer erkrankt, wird Anna an deren Sterbebett gerufen. Dabei kommt ihr ein Gerücht zu Ohren - ein Gerücht über ein ungeheuerliches Verbrechen, das bald weitere Tode fordert und auch für Anna zur Gefahr wird ...

Megan Campisi, 1976 geboren, ist Dramaturgin, Autorin und Lehrerin. Ihre Theaterstücke wurden bereits in China, Frankreich und den Vereinigten Staaten aufgeführt. Bevor sie allerdings zum Schreiben kam, war sie zeitweise als Försterin und auch als Souschefin in Paris tätig. Ihr Erstlingswerk »Sünde« wurde 2021 von der Historical Writers' Association mit dem Debut Crown Award ausgezeichnet. Die Autorin stammt ursprünglich aus der San Francisco Bay Area, lebt mit ihrer Familie aber mittlerweile in Brooklyn, New York.

1
Gebratene Taube


Das Brot unter meinem Tuch ist immer noch warm. Ich renne, so schnell ich kann, den Straßengraben entlang.

Geweitete braune Nüstern schieben sich mir vors Gesicht und atmen heißen Pferdeatem.

»Aus dem Weg!«, brüllt der Mann auf dem Karren, der aus der Gasse vor mir kommt und sein Tier in den Trubel der Hauptstraße treibt. Die Stute reißt den Kopf hoch, die Trense kracht gegen ihr gelbes Gebiss. Ich springe zur Seite.

Hier kann mich jeder sehen, schimpfe ich mich, als ich aus dem Graben raus und über die Gasse stürme. Ich presse meinen Schatz in die Mulde zwischen meinen Brüsten und laufe an dem scheuenden Pferd und einem Heuwagen vorbei.

»Aye! Das ist sie!«, brüllt der Bäcker. Ich traue mich nicht, nach hinten zu sehen, renne umso schneller und biege in eine schmalere Gasse ab. An der nächsten Kreuzung schaue ich zu einer Seite, täusche ein Zögern an, laufe in die entgegengesetzte Richtung, komme an einem Stall und an einer Schmiede vorbei. Der Sohn des Bäckers kann schneller laufen und zögert nicht, als er mich eingeholt hat. Er packt mich im Nacken und stößt mich zu Boden. Mein Gesicht liegt im Schlamm. Durch die offene Tür vor mir kann ich die Stiefel des Schmieds sehen. Mein Atem kommt vom Rennen stoßweise. Ich schiebe den Brotlaib nach oben und reiße mit den Zähnen den Kanten ab. Kann genauso gut essen, denke ich mir. Wenn ich ins Gefängnis gehe, dann doch lieber mit Essen im Bauch.

*

Anna Owens. Der Schließer ruft mich aus der Zelle. Mich und all die anderen Mädchen, die in derselben Woche hier gelandet sind. Wir sind zwanzig: drei, die irgendwo abgehauen sind und hier in der Gegend weder Verwandtschaft noch einen Bettelbrief haben. Zwei Huren, die kein Stubengeld übrig hatten, um den Konstabler zu schmieren, damit er ein Auge zudrückt. Fünf Taschendiebinnen. Acht Betrügerinnen und Schlimmeres. Nur ein anderes braves Mädchen wie ich. Um ihren Hunger zu stillen, hat sie einen streunenden Hund getötet, nur wie sich herausstellte, war der einem Adelsmann entlaufen. Mehr Pech kann man kaum haben.

Wir gehen hintereinander raus in den nebligen Spätwintermorgen. Nach der Zelle, in der inmitten von so vielen Leibern ein wohliger Mief geherrscht hat, kriecht mir die Feuchtigkeit in die Knochen. Wir gehen auf der Gasse, Karren und Wagen müssen halten, und von den Böcken werden wüste Beschimpfungen gerufen. Das Gericht ist gleich nebenan, aber dies ist Teil der Bestrafung: auf dass jeder unsere Schande sehe. Sie rufen und nennen uns Frevelfrauen und Evas.

Ich wünschte, man könnte sein Inneres zeigen wie das Gesicht. Dann wüssten sie, dass ich keine Frevlerin bin. Wenn sie nur meine Haare sehen könnten und wie sie denen der Königin ähneln. Es sind die gleichen schwarzen Wellen. Dann wüssten die Leute, dass ich gut bin, wie sie. Ich bin keine Eva. Eva hatte sich mit einem Leben in himmlischen Gefilden an des Schöpfers Seite nicht zufriedengegeben. Sie sprang auf die Erde hinab, suchte Adam auf, den Hüter der Felder und Obstgärten, ließ sich von ihm zum Baum des Schöpfers bringen und stahl dessen Frucht. Nachdem sie bis auf einen letzten Bissen, den sie Adam anbot, alles verputzt hatte, verfluchte der Schöpfer sie und machte sie zur Herrscherin der Unterwelt. Sie ist reinste Bosheit. Sogar schlimmer als Judas, der den Sohn des Schöpfers verraten hat.

Der Schließer führt uns in ein feines Gebäude mit so hohem Dach, dass selbst der größte Mensch dort nicht hinreichen könnte. Wir füllen die ganze Bank – zwanzig zitternde Mädchen. Ein paar von uns sind wohl schon Frauen. Ich selbst bin es seit zwei Jahren, obwohl ich mir nicht sicher bin, ob ich mich wie eine Frau fühle. Andererseits weiß ich nicht, wie sich eine Frau fühlen soll. Ich drehe den Ring an meinem Finger. Er ist schmal, eingedellt und nicht aus echtem Gold, auch wenn ich mir das gern vorstelle. Er ist das Einzige, was mir von meinem Pa geblieben ist. Ein Andenken an ihn.

»Was passiert denn jetzt?«, frage ich die Hundeesserin, die sich neben mich gesetzt hat.

»Jetzt entscheidet der Rechthaber«, sagt ein Mädchen ein gutes Stück weiter. Sie hat einen silbernen Becher gestohlen und strotzt vor Schmutz.

»Es heißt Richteherr«, fährt der Schließer sie an.

»Warum Richteherr?«, will ich wissen.

»Mein Schicksal ist besiegelt«, flüstert ein rattenhaftes Mädchen, das versucht hat, seinen noch ungeborenen Bastard zu verhökern.

»Mag sein, trotzdem muss das Urteil gesprochen werden«, raunt die Schmutzige dem Rattenmädchen zu.

Ich versuche es noch einmal. »Warum heißt er Richteherr? Richtet er uns hin?«

Mit einem merkwürdigen Laut bringt mich der Schließer zum Schweigen.

»Was für ein Blödsinn«, flüstert das Rattenmädchen und sieht sich Beifall heischend um. Als die anderen nicht darauf eingehen, schlage auch ich den Blick nieder.

»Und wann kommt der Richteherr?«, frage ich den Schließer, der sich im selben Moment von seinem Sitz erhebt.

Der Richteherr tritt durch einen Seiteneingang ein. Er geht auf ein Pult zu und erklimmt einen hohen Stuhl. Für einen kurzen Moment sieht er aus wie ein Kind, das auf den Stuhl seines Vaters klettert, und ich muss lachen. Schließer und Richteherr sehen scharf zu mir her, doch ich gucke unbeteiligt, und die anderen halten dicht, sogar die Ratte. Ich habe ein schlechtes Gewissen, weil ich ihr nicht beigestanden habe.

»Chasy Stow«, hebt der Richteherr an. Der Schließer gibt dem Mädchen zu verstehen, dass es aufstehen soll. »Vagabundieren und Betteln ohne Erlaubnis.«

»Ich bin aus Chester Town …«, wispert Chasy.

»Wir sind hier aber nicht in Chester Town«, entgegnet der Richteherr, ohne auch nur hochzusehen.

»Da gab’s keine Arbeit, und ich musste von zu Hause weg«, versucht Chasy, sich zu rechtfertigen.

Sogar ich weiß, dass der Grund keine Rolle spielt. Menschen ohne festen Wohnsitz werden festgesetzt, es sei denn, sie haben einen speziellen Brief der Königin.

Der Richteherr hält den Blick auf sein Pergament gerichtet. »Kannst du zwei Fürsprecher benennen?«

Was für ein Unfug. »Hier ist doch außer uns und dem Schließer keiner«, sage ich zur Hundeesserin, »und wie wahrscheinlich ist es wohl, dass der ihr Bruder ist?« Der Richteherr haut mit einem Hammer auf den Tisch, und ich halte den Mund.

Er spricht Chasys Urteil, genau wie die Schmutzige es vorhergesagt hat. Sie wird ausgepeitscht, und anschließend brennt man ihr mit einem daumendicken heißen Eisen ein Loch durchs Ohr. »Und solltest du je wieder vor diesem Gericht erscheinen müssen«, fährt er fort, »wirst du aufgeknüpft, auf dass der Tod eintrete.«

Auch das ist Unfug. Denn wann wird wohl jemand aufgeknüpft, auf dass der Tod nicht eintrete? Aber das sage ich nicht laut, ich sage es nur zu mir selbst. Und dann tadele ich mich dafür. Verächtliche Gedanken: Die Sündenesserin wird an meinem Sarg Pastinaken essen.

Mädchen um Mädchen nimmt sich der Richteherr vor. Ein paar sollen gehenkt, einige ausgepeitscht werden. Das Rattenmädchen wird bei lebendigem Leib verbrannt. Der Richteherr sieht nicht eine von uns an, stellt keine Fragen – nur ob wir glaubwürdige Fürsprecher benennen können, dabei weiß er nur zu gut: Das können wir nicht. Jedes Mal, wenn er die Frage stellt, brennt es heiß züngelnd in meiner Brust, dort, wo die Rippen aufeinandertreffen. Beim sechsten oder siebten Mal steigt rasender Zorn in mir auf, auch wenn ich sonst nicht zu Galle neige. Ich will, dass er aufhört zu fragen. Oder uns zumindest ansieht.

Im selben Moment ruft er: »Anna Owens.«

»Ja«, sage ich laut und bin darüber ebenso überrascht wie der Schließer, der mich misstrauisch ansieht. Aber ich habe es geschafft. Ich habe den Richteherrn dazu gebracht, dass er aufblickt.

Er sieht mich lange an. Oder vielmehr stiert er mich an, und seine Augen werden zu dunklen Schlitzen. Die Stille reißt die anderen aus ihren Gedanken, worin auch immer die bestanden haben mögen. »Anna Owens«, wiederholt er, wendet und schmeckt diesmal jeden einzelnen Laut auf der Zunge. »Geborene Daffrey.«

»Ich bin eine Owens.« Meine Stimme klingt schärfer als beabsichtigt. Sofort taste ich nach Pas Ring. Ich weiß nicht, woher der Richteherr den Namen meiner Mutter kennt. Seine Augen sind kleine schwarze Mondsicheln, die stieren und starren. Vielleicht sieht er ja mein Inneres, so wie ich es mir zuvor gewünscht habe.

Dann ruft er unvermittelt: »Winnie Fletcher«, und der Bann bricht. Wir alle sehen den Richteherrn verblüfft an. »Winnie Fletcher!« Er schaut zum Schließer, der sich zu uns umdreht. Winnie Fletcher steht verunsichert auf. »Taschendiebstahl. Leumundszeugen, die für dich sprechen würden?«

Nach dem letzten Urteilsspruch geht der Richteherr auf den Seiteneingang zu. Der Schließer scheucht uns von der Bank.

»Aber ich habe noch keine Strafe bekommen«, sage ich zu ihm. Ich habe nur meinen Namen bekommen. Und den Blick.

Zur schmutzig nassen Mittagsstunde kehren wir ins Gefängnis zurück.

»Was wird aus mir?«, frage ich den Schließer erneut, als ich an ihm vorbei durch die Zellentür gehe.

Achselzuckend wendet er sich ab. Ich sehe die anderen an.

»Was wird aus mir?«

Sie weichen meinem Blick aus wie zuvor dem der Ratte.

*

Sein Urteil zu bekommen ist fast besser, als kein Urteil zu bekommen. Die Mädchen, die aufgeknüpft werden sollen, werden in drei Tagen hängen.

»Soll ich da auch...

Erscheint lt. Verlag 28.6.2023
Übersetzer Leena Flegler
Sprache deutsch
Original-Titel Sin Eater
Themenwelt Literatur Historische Romane
Schlagworte 16. Jahrhundert • 1793 • 2023 • atmosphärisch dicht • Beichte • Der Report der Magd • eBooks • Elisabethanisches Zeitalter • England • Essen • Feministisch • Folklore • Frauenmorde • Hannah Kent • Historische Kriminalromane • Historischer Kriminalroman • Historische Romane • Historischer Roman • höfische Intrigen • Krimi • Kriminalromane • Kriminalroman Neuerscheinungen 2023 • Krimis • Margaret Atwood • Mord • Neuerscheinung • Niklas Natt och Dag • Rache • Seelenhaus • spannend • Spannungsroman • Sünde • Sündenesser • Verrat
ISBN-10 3-641-28336-1 / 3641283361
ISBN-13 978-3-641-28336-0 / 9783641283360
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