Einsam und versteckt lebt die Tierpräparatorin Sonja im Wald. Ihre Kundschaft ist dubios, viele Aufträge sind finster und illegal. Als sie einem jungen Mann begegnet und Gefühle für ihn entwickelt, versucht sie, aus ihrem Außenseiterleben auszubrechen. Doch dafür muss sie einen letzten Auftrag annehmen, der dunkle Geheimnisse aus der Vergangenheit wieder hochspült und tödlich endet ...
Michaela Kastel, geboren 1987, studierte an der Universität Wien und arbeitete viele Jahre im Buchhandel. Seit 2019 widmet sie sich ganz dem Schreiben. Ihre Romane wurden bereits mehrfach für Preise nominiert, außerdem erhielt sie den Viktor Crime Award als verheißungsvolle neue Stimme im Spannungs-Genre.
1.
MANCHE SAGEN, ich lebe in meiner eigenen Welt. Als ob das so furchtbar wäre. Hier bin ich wenigstens ungestört.
Ich weiß nicht, wie die anderen die Welt sehen, aber meine Welt ist schön. Voller Liebe. Ich liebe die glasklare Luft, wenn ich morgens das Fenster öffne und um mich herum nur Stille herrscht. Das beruhigende Grün der Nadelbäume, das sich oftmals nicht vom Schwarz der Nacht unterscheiden lässt. Das feine Rascheln des Laubs unter meinen Füßen, das Zwitschern der Vögel im Geäst und den satten Geruch nach Holz. Es gibt dafür ein Wort: Magie. Wenn man nicht aufpasst, findet man sich plötzlich in einem verwunschenen Märchenreich wieder. Wo die Wiesen in bunten Blüten erstrahlen und sich im Sonnenlicht der Goldstaub der Feen sammelt. Oft ist es bloß ein Schritt, der den Unterschied macht. Ein simpler Schritt über die Grenzen der Realität hinaus.
Diese Welt ist sehr einsam, doch wenn es stimmt, was die Leute sagen, dann ist es meine Welt, meine ganz allein, und ich werde sie verteidigen. Mit allem, was ich habe.
Der Falke hat die Welt bereits verlassen. Schlapp und reglos liegt der gefiederte Körper auf meinem Arbeitstisch, nachdem ich ihn behutsam aus dem Plastiksack, in dem er mir übergeben wurde, genommen habe. Heute Morgen habe ich den Kadaver von seinem Besitzer abgeholt und komplett vermessen, nun möchte ich schnellstmöglich mit der Präparation beginnen.
Alles ist vorbereitet, auch wenn das auf den ersten Blick nicht so aussieht. Der kleine Garagenanbau meines Hauses erinnert an eine Gerümpelkammer: Marode Holzstellagen verstellen die Wände, vollgeräumt mit Kanistern voller Chemikalien zur Konservierung, Farbeimern, Holzsockeln, Gipsformen, allerhand Kleinmaterial für die Präparation. In den Ecken habe ich Säcke mit Kartoffelmehl und Holzwolle gelagert, daneben wölben sich Drahtrollen in unterschiedlichen Größen und Stärken. Dazwischen liegen Spritzen mit Alkohol, Wurzeln, Äste und andere Holzstücke, die ich im Wald finde, und mittendrin eine Ansammlung älterer Präparate, die gereinigt oder neu aufgesetzt werden müssen und das Chaos als stille Beobachter überwachen. Vielleicht wirkt es eher wie ein Gruselkabinett. Für mich ist es ein Atelier. Innerhalb dieser überfüllten vier Wände lasse ich meiner Kreativität freien Lauf.
Nadel und Faden, Föhn und Skalpell. Ich beginne mit dem Entnehmen der Organe. Der Schnitt am Bauch geht schnell und fühlt sich erstaunlich weich an, weil das Gewebe so stark nachgibt. Magen, Lunge, Darm. Alles so winzig, so fragil. Das Herz kommt zum Schluss. Fasziniert schaue ich es an, dieses kleine rote Gebilde in meiner Hand, die vielen Adern, durch die längst kein Blut mehr fließt, und ich strecke den Finger aus und berühre es ganz sachte. Fahre konzentriert die Linien nach, spüre das kalte, feuchte Fleisch, das sich bei meiner Berührung leicht zusammenzuziehen scheint, als hätte ich es erschreckt. Das pure Leben liegt da in meiner Hand. Erstarrt jetzt, bloß noch ein toter Muskel ohne Wärme und Zweck, aber immer noch wunderschön. Ich höre die Stimme meines Großvaters in meinem Kopf, als ich ihm zum ersten Mal bei der Arbeit zusehen durfte: »Alle Tiere kommen in den Himmel, nachdem ich ihr Herz in Händen gehalten habe. Denn nur so kann man ihre Seele befreien. Du musst ihr Herz berühren. Und wenn du genau aufpasst, dann spürst du, dass sie dein Herz in diesem Moment auch berühren.«
Daran glaube ich noch heute. Du musst ihr Herz berühren. Dann berühren sie auch deines.
Die Organe gebe ich in einen Plastiksack, um sie später zu entsorgen. Als Nächstes kommt das Entfleischen der Flügel und Beine. Auch hier setze ich kleine präzise Schnitte, um anschließend die Haut wie eine Strumpfhose von innen nach außen zu stülpen. Da die Knochen dran bleiben, ist das die beste Methode, um das Federkleid intakt zu halten. Zielsicher greife ich nach dem Sack mit Kartoffelmehl, das ich zum Einreiben des Gefieders benutze. Salz ginge auch, aber ich bevorzuge das Mehl, da es Flüssigkeit aufsaugt und beim Hantieren für besseren Griff sorgt.
Früher habe ich meinen Großvater für sein Geschick und seine extrem ruhige Hand bewundert, heute beherrsche ich diese Tätigkeit genauso gut. Mit gerade einmal siebenundzwanzig kann ich mich wohl als eine Meisterin meines Fachs bezeichnen. Die geregelten Abläufe, die Genauigkeit, die kleinen, bedachten Handgriffe, das alles hat eine beruhigende Wirkung auf mich. So war es nicht immer. Als ich zum ersten Mal mit in die Werkstatt durfte, jagte mir die Geräuschkulisse einen Mordsschrecken ein. Dieses Rupfen und Knacken, Hobeln und Tropfen.
Wenn du einem Tier die Haut abziehst, entsteht ein ganz eigenes Geräusch, du spürst es förmlich. Wie es in deinen Ohren kribbelt. Hirschen muss man das Geweih mitsamt der oberen Schädeldecke absägen. Das ist buchstäblich Knochenarbeit und entsprechend laut. Mein Großvater pflegte dazu Musik aus einem alten Radio zu hören. Für mich hingegen gehört der spezielle Klang mittlerweile einfach dazu.
Sobald der Vogel ausreichend mit Mehl eingerieben ist, schabe und schneide ich das Fleisch und die Sehnen von den Knochen, als würde ich eine Holzskulptur schnitzen. Das ist wichtig, um Fäulnis oder Schadinsekten erst gar keine Chance zu geben. Es ist ein recht grober Vorgang, ich bin alles andere als zimperlich. Mit jedem Stückchen Fleisch, das ich entferne, steigt mir der Geruch des Federkleids in die Nase, vermischt mit Nuancen von Blut und der schweren Note der alten Holzstellagen. Von draußen dringt dumpf der Klang des Waldes zu mir vor, Vogelzwitschern, Windrauschen, aber ich konzentriere mich auf das, was hier drin stattfindet. Diesen Teil der Präparation mag ich besonders gern. Die dünnen Gliedmaßen in meinen Händen fühlen sich so zerbrechlich an, dabei bräuchte ich einiges an Kraft, um sie zu zerschmettern.
Das Federkleid inklusive Knochen wird nun gereinigt und getrocknet. Dafür habe ich einen Eimer Wasser mit Seifenlauge und einem Schuss Insektenschutzmittel versetzt. Eine trübe, nicht gerade einladende Suppe, deren penetranter Gestank das ganze Atelier erfüllt. Bei den meisten Tieren kommt zusätzlich ein Salzbad zur Gerbung zum Einsatz, in dem die Haut mehrere Tage eingeweicht und anschließend getrocknet wird. Bei Vögeln hat das keinen Sinn, da das Federkleid darunter leiden würde.
Ich habe den Falken eben in der Lauge verschwinden lassen, als ich eine Gestalt am Fenster vorbeihuschen sehe.
Mein Herz macht einen nervösen Satz. Niemand verirrt sich auf meine abgeschiedene Lichtung. Rasch trockne ich die Hände an meiner Schürze ab und eile aus dem Haus. Die klare Luft des Morgens kriecht unvermittelt in meine Nase, als ich konzentriert in alle Richtungen schaue. Das Vogelzwitschern wirkt plötzlich doppelt so laut, der Wind hat aufgefrischt und zerrt verbissen an meiner Kleidung. Nichts zu sehen. Ich gehe eine Runde ums Haus, berühre Sträucher und Büsche, als könnten sie mir bestätigen, was ich da eben gesehen habe. Immer noch nichts. Habe ich mir die Bewegung vor dem Fenster am Ende nur eingebildet? Manchmal passiert das, wenn meine Sinne zu sehr auf die Arbeit konzentriert sind und ich die Außenwelt komplett vergesse. Da wirkt aus dem Augenwinkel ein im Wind wippender Ast plötzlich wie ein lebendiges Wesen.
Vielleicht sollte ich eine Pause machen. Der Falke befindet sich ohnehin in seinem Reinigungsbad. Ich gehe ins Haus zurück, entzünde ein Feuer im Ofen und setze Wasser für einen Tee auf. In den kleinen verwinkelten Räumen des Hauses hält sich noch die Kühle der letzten Nacht, und ich atme den vertrauten Geruch des alten, in Stierblut eingelassenen Deckenholzes ein. In der Küche finde ich mich trotz schlechter Lichtverhältnisse leicht zurecht, alles hat seinen fixen Platz.
Mit meiner Teetasse gehe ich in die Stube, wo Hexe bereits ungeduldig vor ihrer leeren Futterschüssel wartet. Mit ihrem pechschwarzen langen Fell ist sie oft nicht vom dunklen Kachelofen zu unterscheiden, der wie ein versteinerter Troll in der Ecke steht. Sie stürzt sich gierig auf die Mischung aus Reis und gekochtem Hühnerfleisch. Ich selbst schiebe mir bloß rasch eine Banane in den Mund, um meinen knurrenden Magen zu beruhigen. Wenn ich arbeite, habe ich nie großen Appetit. Auch wenn ich mit dem Essen etwas nachlässig bin, während der Präparationsphasen achte ich streng auf saubere Kleidung sowie Handschuhe und halte möglichst Ordnung. Nicht so wie mein Großvater. Er kam mir vor wie ein Schlächter mit seiner schmutzigen Schürze und dem chaotischen Arbeitstisch. Ein Metzger bei der Schlachtung, nur unheimlicher.
Erst mit der Zeit begriff ich, mit welchem Feingefühl und wie respektvoll er mit den Tieren umging. Er glaubte fest daran, dass auch Tiere eine Seele haben. Ich weiß nicht, ob das stimmt. Aber ich versuche mir dabei stets eines bewusst zu machen: Die meisten Tiere waren alt oder krank. Ihre Zeit war gekommen.
Hexe ist fertig mit ihrer Schüssel und sitzt schwanzwedelnd vor mir auf dem Teppich. Ihre Art, mich zu fragen, was als nächstes Spannendes passiert. Sie wurde von ihren früheren Besitzern im Tierheim abgeliefert, weil sie angeblich zu stürmisch war. Offenbar wussten diese Leute nicht, wie Hunde funktionieren; dass sie Auslauf und Aufmerksamkeit brauchen genauso wie strenge Regeln. Und dass es einem Hund selbst in jungen Jahren das Herz bricht, wenn er abgegeben wird. Die meisten Leute wissen überhaupt sehr wenig über irgendwas.
»Jetzt bist du bei mir«, raune ich ihr lächelnd zu. Eine ganze Welt habe ich ihr zum Austoben geschenkt. Ihr gehört das Haus, die Lichtung, der Wald. Hier hat sie alles, was...
Erscheint lt. Verlag | 12.4.2023 |
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Sprache | deutsch |
Themenwelt | Literatur ► Krimi / Thriller / Horror ► Krimi / Thriller |
Schlagworte | 2023 • eBooks • Familiengeheimnis • Leichenpräparation • Liebe • Liebes Kind • Neuerscheinung • Österreich • Plastination • Preisgekrönte Autorin • Psychothriller • Rache • Schatten der Vergangenheit • Starke Frau • Thriller • Tierpräparation • Totenfrau • Wald |
ISBN-10 | 3-641-29141-0 / 3641291410 |
ISBN-13 | 978-3-641-29141-9 / 9783641291419 |
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