Dinge, die wir brennen sahen (eBook)
368 Seiten
Eichborn AG (Verlag)
978-3-7517-4264-1 (ISBN)
Ein sengend heißer Freitagnachmittag in Durton, einer Kleinstadt im ländlichen Australien: Ronnie und Esther, beste Freundinnen, fahren gemeinsam nach der Schule nach Hause - doch nur Ronnie kommt schließlich dort an. Die zwölfjährige Esther bleibt zunächst verschwunden, eine groß angelegte Suche beginnt - bis wenige Tage später ihre Leiche gefunden wird. Was ist geschehen?
Die kleinstädtische Gemeinschaft kämpft mit Trauer und Schrecken ob des Verlusts - und mit gegenseitigen Verdächtigungen, die nicht lange auf sich warten lassen.
Hayley Scrivenor leitete zuletzt das Wollongong Writers Festival und stammt aus einer Kleinstadt. DINGE, DIE WIR BRENNEN SAHEN ist ihr erster Roman. Eine frühere Textfassung stand auf der Shortlist für den Penguin Literary Prize und gewann den KILL YOUR DARLINGS UNPUBLISHED MANUSCRIPT AWARD. Andrea O'Brien übersetzt seit vielen Jahren Literatur aus dem Englischen und wurde für ihre Arbeit mehrfach ausgezeichnet. Sie lebt und arbeitet in München.
Hayley Scrivenor leitete zuletzt das Wollongong Writers Festival und stammt aus einer Kleinstadt. DINGE, DIE WIR BRENNEN SAHEN ist ihr erster Roman. Eine frühere Textfassung stand auf der Shortlist für den Penguin Literary Prize und gewann den KILL YOUR DARLINGS UNPUBLISHED MANUSCRIPT AWARD. Andrea O’Brien übersetzt seit vielen Jahren Literatur aus dem Englischen und wurde für ihre Arbeit mehrfach ausgezeichnet. Sie lebt und arbeitet in München.
RONNIE
Freitag, 30. November 2001
Einmal hat Esther mich so durchgekitzelt, dass ich mir in die Hose gemacht habe. Wir waren bei ihr, hinten im Garten.
»Hör auf, Esther!«, flehte ich und musste immer weiterlachen, obwohl es wehtat.
»Kein Erbarmen!«, rief sie.
Sie war immer der Bösewicht, wenn wir spielten, diejenige, die die Geschichte vorantrieb, während ich mich noch mit Kleinigkeiten aufhielt. Wir waren acht Jahre alt.
Ich war in den Dreck gefallen, Esther saß auf mir. Das ist nun schon viele Jahre her, aber ich erinnere mich an den Lachschmerz, wie er anschwoll, wenn sie mir den Finger in den weichen Bauch bohrte. Es zog sich ewig hin, wie wenn man nach dem Sprung ins Schwimmerbecken ins Wasser taucht und wartet und wartet, dass man endlich den Boden erreicht, damit man sich wieder nach oben abstoßen kann. Ich sah, wie sich die Nässe über meine Sporthose ausbreitete, bevor ich es spürte. Esther sah es auch. Auf dem Hintern rutschte ich von ihr weg. Ich war zu alt, um mir in die Hose zu machen.
Was sie dann tat, werde ich nie vergessen. Sie stand einfach auf und trat einen Schritt zurück. Ich erwartete, dass sie loskreischen oder mich auslachen würde. Stattdessen sah ich eine goldgelbe Flüssigkeit, sie rann unter dem Saum ihres Netball-Rocks hervor und lief an der Innenseite ihres langen Beins herunter. Ihre weiße Haut war zerschrammt, von lauter kleinen violetten und braunen Flecken übersät wie das Hinterteil eines Apfelschimmels. Die weißen Schulsocken verfärbten sich, im Nu sahen sie aus wie die Küchengardinen: butterblumengelb.
Grinsend schnappte sie sich den Gartenschlauch, drehte den Hahn voll auf und lenkte den Strahl mit den Fingern ab, sodass er mich mit voller Wucht erwischte. Ich versuchte, ihr den Schlauch wegzunehmen, wir rauften und kreischten laut. Meine Verlegenheit wurde einfach abgewaschen, winzige Insekten tanzten über der immer größer werdenden Wasserlache, bevor sie in den Boden sickerte.
Esthers Mum Constance bestand kopfschüttelnd darauf, dass wir uns an der Hintertür auszogen. Sie gab mir eine ihrer Blusen für den Heimweg. Sie war so lang, dass sie mir über die Knie reichte, wie ein Kleid, und darunter trug ich keine Unterhose. Constance hatte offenbar nicht daran gedacht, mir eine von Esther zu leihen, ich hatte sie auch nicht darum gebeten. Esthers Vater fuhr mich in seinem Pick-up heim. Ich erinnere mich noch an das angenehme Schaudern, das mich damals überlief, nur die zarte weiße Baumwolle zwischen mir und dem Rücksitz. Ich fand es toll, heimgefahren zu werden von Steven, wie ich ihn nennen durfte. Wenn ich mit ihm allein war, konnte ich so tun, als wäre ich seine Tochter und wir wären unterwegs irgendwohin. Er redete nie viel, schien mir aber gern zuzuhören. Ich hätte so gut wie alles getan, um ihn zum Lachen zu bringen. Meiner Mutter konnte ich nicht gestehen, wie sehr ich ihn mochte. Sie verkrampfte sich schon, wenn ich sie nach meinem Vater fragte. Auch das war eine Sache, die Esther erreicht hatte und ich nicht schaffen konnte – sie hatte einen Vater –, aber ich war nicht neidisch. Sie verdiente einen Dad, der stark war, der sie in der Luft herumwirbelte. Einen Dad, der sie so sehr liebte wie ich.
Meine beste Freundin trug ihren Namen – Esther – wie eine kühne Königin, die ihre Krone schief auf dem Kopf hat. Mich nannte sie immer nur Ronnie, weil der Name, auf den man mich getauft hatte, nicht zu mir passte. Das glamouröse, erwachsene Ve-ro-ni-ca hatte nichts mit mir zu tun. Wir waren zwölf Jahre alt, als sie verschwand. Ich war rechthaberisch und ziemlich stämmig, kleiner als Esther, aber fest entschlossen, die Spielregeln zu bestimmen und die Rollen zu verteilen, wenn wir in den Schulpausen Power Rangers spielten. Wollten die anderen Kinder nicht mitmachen, stapfte ich wutschnaubend davon. Bei Esther setzte ich meinen Dickkopf allerdings nur selten durch, es war eher so, dass ich aussprach, was sie bereits beschlossen hatte. Oft stürmte sie mit herausgestreckter Zunge ins Zimmer, machte einen Satz und landete wie ein Frosch mit angewinkelten Knien und gespreizten Beinen vor mir. Dann verdrehte sie die Augen, bis nur noch das Weiße zu sehen war, rief lauthals »Rah!« und sauste wieder hinaus. Ich brauchte Aufmerksamkeit, Esther nicht, jedenfalls nicht wie ich, und vermutlich fühlte ich mich deshalb zu ihr hingezogen.
Es war kein Wunder, dass Esthers Mum glaubte, ich hätte einen schlechten Einfluss auf ihre Tochter. Aber alles Vorlaute und Alberne ging von Esther aus. Manchmal musste ich sie nur ansehen – aus dem Augenwinkel im Klassenzimmer, in der Umkleide unseres Schwimmbads, wenn ich ihr an den niedrigen Tischen im Kindergarten gegenübersaß –, um draufloszukichern. Wir lachten ständig, und ich lief ihr ständig hinterher, obwohl ich versuchte, wie die Anführerin zu wirken.
An jenem Freitagnachmittag im November, dem Tag, an dem Esther verschwand, sollte ich eigentlich am Schreibtisch in meinem Zimmer sitzen und Hausaufgaben machen. Freitags hatten wir schon um halb drei Schule aus, und Mum wollte immer, dass ich die Aufgaben vor dem Wochenende erledigte. Wir mussten Poster zu einem Land in Südamerika basteln, und ich hatte mir Peru geschnappt. Um ein Haar hätte es nicht geklappt, weil eine von den Addison-Zwillingen es sich unter den Nagel reißen wollte, obwohl alle wussten, wie toll ich Lamas fand. Auf sämtlichen meiner Schulbücher klebten Lamabilder. Aber jetzt, als ich eines davon mit dem Bleistift zeichnen wollte, kriegte ich es nicht hin. Mein Lama schielte, und die Beine sahen aus wie Baumstämme, obwohl ich es akribisch aus den alten Ausgaben von National Geographic abmalte, die Mum aus dem Zeitschriftenladen neben ihrer Arbeit mitgebracht hatte. Unser dicker getigerter Kater Flea wand sich um die Stuhlbeine. Ich schob das Heft unter das Poster, aber das Papier war zu dick, um das Lamabild abzupausen. Also gab ich mich geschlagen und beschloss, mir stattdessen Instantnudeln aus der Küche zu holen.
Flea schoss unter dem Stuhl hervor und war schon halb aus der Tür, bevor ich sie ganz geöffnet hatte. Wie ein geölter Blitz sauste er durch den Flur in die Küche. Eigentlich hieß er Mr Mistoffelees, aber als ich klein war, hatte ich immer nur »Flea« herausbekommen, und diese Kurzform war ihm geblieben. Mum stand mit dem Rücken zu mir neben dem Wandtelefon, den weißen Hörer am Ohr. Ich tappte barfuß auf sie zu, Flea stolzierte voraus, ohne mich aus den Augen zu lassen.
»Ist Esther mit dir aus der Schule nach Hause gelaufen?«, fragte Mum, die Hand auf der Muschel.
»Klaro.« Ich schob mich an ihr vorbei zur Spüle, nahm ein Glas aus dem Gestell und füllte es mit Wasser.
»Welchen Weg habt ihr genommen?«
»An der Kirche vorbei.« Wie sollte ich mir so unbemerkt die Nudeln aus dem Schrank holen?
»Und dann habt ihr euch getrennt?«
»Genau.« In der Obstschale lagen glänzende Äpfel. Wenn ich Mum sagte, dass ich Hunger hatte, würde ich einen davon essen müssen. Lebensmittel waren teuer. Besonders frisches Obst. Manchmal trank Mum selbst den ganzen Tag lang nur Tee und aß nichts außer Minzplättchen, aber ich sollte unbedingt »gesund« essen.
Mum war ungeduldig, die Muschel hatte sie immer noch abgedeckt. »In welche Richtung ist sie weitergegangen?«
»Nach links. An der Kirche geht sie immer links.« Ich leerte das Glas.
Mum sah mich unverwandt an. »Veronica Elizabeth Thompson, sagst du die Wahrheit?«
Ich trat von einem Bein aufs andere. Früher hatte ich geglaubt, Elizabeth sei ein Wort, das »jetzt hab ich dich erwischt!« bedeutete und an jeden Namen angehängt werden konnte. Ich probierte es an meinem Cousin aus, nachdem er mir auf der alljährlichen Ostereiersuche auf Pops Farm ein Ei aus dem Korb gemopst hatte. Die ganze Familie hatte sich über mich kaputtgelacht.
Ich spülte mein Glas aus. »Ich schwöre!«, sagte ich, trocknete es ab und ging zum Schrank.
Mum sagte nichts, ließ ihr Schweigen für sich wirken und schob sich das rote Haar hinters Ohr. Meine Mutter hatte keinen zweiten Namen, sie war einfach Evelyn Thompson. In ihrer Familie hatten komischerweise nur die Jungen Doppelnamen bekommen. Ihr Bruder Peter hieß außerdem noch Reginald, aber das war kein Name, sondern eine Strafe. Als ich erfuhr, was man meinem Lieblingsonkel da angetan hatte, war ich völlig entrüstet gewesen. Flea rieb sich an Mums Bein, aber sie sah nicht einmal hin. An jedem anderen Nachmittag hätte sie ihn auf den Arm genommen und mit Kosenamen überhäuft, ihn Flauschmonster und mein vierbeiniges Kind genannt. Oder sie hätte mich mit gespieltem Schrecken angesehen, die Hand auf der Brust, weil ich freiwillig abgetrocknet hatte. Stattdessen drehte sie sich von mir weg und murmelte etwas Unverständliches in den Hörer.
Nachdem ich das Glas in den Schrank gestellt hatte, schlich ich zurück in mein Zimmer, ein Tütchen Mamee Instantnudeln im Unterhosenbund versteckt.
Meine Erinnerungen an Esther sind untrennbar miteinander verbunden, wie die Waggons eines Zugs, deren Kupplungen verschweißt sind. Jede Erinnerung zieht eine weitere nach sich, und noch eine, in einer langen, ratternden Reihe. Esther war immer da, seit meiner frühesten Kindheit, wichtig und alltäglich zugleich, wie das Haus, in dem man aufwächst. Ihr Dad wurde in Durton geboren wie meine Mum, aber seine Familie war nicht mit meiner verwandt, den Thompsons – leicht zu erkennen am roten Haar. Sie war auch weder mit den reichen Rutherfords verwandt noch mit den geizigen McFarlanes. Es gab ein paar andere Bianchis – allen gemeinsam waren die...
Erscheint lt. Verlag | 31.3.2023 |
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Sprache | deutsch |
Original-Titel | Things we thought would burn |
Themenwelt | Literatur ► Romane / Erzählungen |
Schlagworte | Arbeitslosigkeit • Auf dem Land • Australien • Befragung • Broadchurch • Celeste Ng • Dirt Town • Dorf • Dorfgemeinschaft • Ermittlung • Familienbande • Geheimnis • Gerüchte • Klatsch • Kleinstadt • literarische Unterhaltung • Mädchen • Outback • Polizei • prairie • Provinz • Sozialstudie • Spannung • Todesfall • Tratsch • Trauer • Unfall • Verdächtigungen • Verlust • Verschwinden |
ISBN-10 | 3-7517-4264-6 / 3751742646 |
ISBN-13 | 978-3-7517-4264-1 / 9783751742641 |
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Größe: 974 KB
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