Die Verborgenen (eBook)
368 Seiten
Piper Verlag
978-3-492-60366-9 (ISBN)
Linus Geschke, 1970 geboren, lebt in Köln und hat für führende deutsche Magazine und Tageszeitungen, darunter Spiegel Online und die Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung, gearbeitet. Für seine Reisereportagen wurde er mit mehreren Journalistenpreisen ausgezeichnet. Mit seinem Thrillerdebüt gelangte Geschke aus dem Stand auf die Bestsellerliste, seine Jan-Römer-Serie wurde aufwendig verfilmt. Der psychologische Thriller »Das Loft« stand wochenlang auf der Bestsellerliste.
- Spiegel Bestseller: Belletristik / Paperback (Nr. 30/2023) — Platz 18
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Linus Geschke, 1970 geboren, lebt in Köln und hat für führende deutsche Magazine und Tageszeitungen, darunter Spiegel Online und die Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung, gearbeitet. Für seine Reisereportagen wurde er mit mehreren Journalistenpreisen ausgezeichnet. Mit seinem Thrillerdebüt gelangte Geschke aus dem Stand auf die Bestsellerliste, seine Jan-Römer-Serie wurde aufwendig verfilmt. Der psychologische Thriller »Das Loft« ist sein erster Stand-Alone.
Eine Woche zuvor
Du
Es ist kalt, es ist Nacht, und vor einer Stunde hat der Wind stark zugenommen. Er weht vom Meer über Dünen und Felder hinweg, biegt Gräser und Halme, bricht sie aber nicht. Du schaust nach oben. Der Himmel ist bewölkt, nur ab und zu sieht man zwischen den Wolken auch Sterne funkeln. Die Lichter ganzer Ewigkeiten.
Zwischen den Dünen und der schmalen Küstenstraße wachsen ein paar unansehnliche Sträucher, und hinter einem davon hast du dich versteckt. Regungslos verharrst du und beobachtest das Haus, das auf der anderen Seite der Straße steht. Es ist ein altes Haus, groß und würdevoll, aber in keinster Weise protzig. Seine zweigeschossige Fassade ist weiß getüncht, die Fenster sind mit grünen Läden versehen und das Satteldach mit Reet bedeckt. Es fügt sich in die Landschaft ein, als sei es schon immer ein Teil von ihr gewesen.
Das nächste Gebäude ist zweihundert Meter entfernt, der nächste Ort anderthalb Kilometer. In dieser Gegend leben Menschen, die ihre Ruhe haben wollen. Menschen wie die Hoffmanns. Obwohl das Haus viele Zimmer hat, bewohnen es die Hoffmanns nur zu dritt: Mama, Papa, Kind, eine Familie wie aus dem Bilderbuch. Der Vater arbeitet als Journalist, die Frau in einem Tourismusbüro, und die siebzehnjährige Tochter Tabea steht kurz vor dem Abitur. Abgesehen von dem Haus ist sie der eigentliche Grund, warum du hier bist.
Noch ist es zu früh, um loszugehen, die Lichter sind gerade erst verloschen. Bevor du dein Versteck verlassen kannst, müssen die Hoffmanns erst noch die schmale Grenze überschreiten, die das Wachsein vom Schlaf trennt. Sobald sie tief und fest in ihren Träumen versunken sind, kannst du dich aus ihren Albträumen erheben.
Die stundenlange Warterei macht dir nichts aus, die Einsamkeit auch nicht. Um die aufkommende Langeweile zu vertreiben, breitest du das Innere des Hauses wie eine Landkarte in deinem Kopf aus. Du kennst jedes Zimmer, jeden Winkel und jeden potenziellen Unterschlupf. In den vergangenen Tagen hast du das Gebäude bereits ausgiebig erkundet – immer dann, wenn die Hoffmanns nicht daheim waren.
Wenn dieses Haus ein Neubau wäre, könnte es in Verbindung mit der modernen Einrichtung vielleicht kalt wirken, aber das ist es nicht. Es ist alt – es lebt. Die Augen, Ohren und Gefühle ehemaliger Bewohner haben es über die Jahrzehnte hinweg in ein Lebewesen verwandelt. Es atmet durch sie, nimmt Anteil an ihrem Leben und beobachtet geduldig, was neue Bewohner in ihm anstellen. Privatsphäre ist in solchen Häusern nur eine Illusion, das weißt du. Es gibt sie nicht, zumindest nicht wirklich. Alles, was dort geschieht, kann unsichtbare Spuren hinterlassen. Angst kann in die Mauern eindringen, Freude, das Lachen eines Kindes.
Der Schmerz der Eltern, wenn diesem Kind etwas geschieht.
Um deine kalt werdenden Muskeln zu lockern, machst du ein paar Dehnübungen, dann hältst du plötzlich inne. Auf der Landstraße nähern sich zwei Lichter, die schnell größer werden. Du gehst wieder in Deckung, kurz darauf zieht auch schon ein weißer Lieferwagen mit hoher Geschwindigkeit vorbei. Du schaust ihm hinterher, bis die Rücklichter in der Ferne verschwunden sind; zwei rote Glühwürmchen auf dem Weg nach Irgendwo.
Auch du wirst irgendwann weiterziehen. Weit weg, in ein anderes Land, auf einen anderen Kontinent. Sobald du hier fertig bist und das Haus und seine Bewohner dir gegeben haben, wonach du dich sehnst.
Doch das liegt noch in der Zukunft, entscheidend ist das Hier und Jetzt, und im Hier und Jetzt leistet dir nur der Wind Gesellschaft. Er vertreibt die wenigen Wolken und zerrt an der olivfarbenen Jacke sowie an dem schweren Rucksack, der über deinen Schultern hängt. Zehn weitere Minuten geht das so, zwanzig, dann schaust du dich ein letztes Mal um. Vor dir ist nur Dunkelheit, und hinter dir ist nur Dunkelheit. Es ist perfekt. Du gehst los.
Mit gleichmäßigen Schritten überquerst du die Küstenstraße und wendest dich dem schmalen Fußweg zu, der neben dem Haus auf die dahinterliegenden Felder führt. Auf diesem Weg kommst du geradewegs an einem kleinen Anbau des Hauses vorbei, einer ehemaligen Waschküche vielleicht. Anders als die anderen Türen des Hauses wurde die des Anbaus nie ausgetauscht oder modernisiert. Ein dummer Fehler, denkst du, aber vielleicht wollten die Hoffmanns ja, dass du kommst. Möglicherweise haben sie sich heimlich gewünscht, dass ihre kleine Familie Zuwachs erhält.
Als du dein Ziel erreicht hast, bleibst du stehen und lässt den Rucksack von den Schultern gleiten. Du nimmst heraus, was du brauchst, es ist nicht viel. Nach sieben Sekunden ist das einfache Schloss bereits geöffnet, nach drei weiteren stehst du im Warmen. Du schließt die Tür hinter dir und gibst dich dem erhabenen Gefühl hin, das dich immer überkommt, wenn du in ein fremdes Haus eindringst. Dem Adrenalin, das in solchen Momenten deine Blutbahn flutet. Dieses faszinierende Hormon aus den Nebennieren sorgt dafür, dass alles an dir effizient wird. Deine Atmung, deine Instinkte, jede einzelne Bewegung.
Ab jetzt gibt es für dich kein Zurück mehr, also entscheidest du dich, voranzugehen. Durch den Anbau in den Flur und von dort aus weiter in die Küche. Das schwache Mondlicht, das durch die Fenster fällt, genügt dir. Du weißt sowieso, wo alles steht; du kennst das Haus bereits, als ob es dein eigenes wäre.
Aus einem Hängeschrank über der Spüle holst du eine Packung Cornflakes. Du isst, bis du satt bist, dann stellst du die Packung wieder an genau die gleiche Stelle zurück. Jetzt musst du dich lediglich noch um deinen Durst kümmern. Im Kühlschrank findest du nur wenige Getränke, aber in der kleinen Vorratskammer direkt daneben stößt du auf mehrere Kisten Bier, Wasser und Apfelschorle. Das ist perfekt. Niemand wird morgen merken, dass zwei Flaschen fehlen.
Nachdem du die Getränke im Rucksack verstaut hast, bist du im Erdgeschoss fertig. Jetzt ist die Zeit gekommen, endlich deinen Unterschlupf für die nächsten Tage aufzusuchen. Um ihn zu erreichen, musst du auf Zehenspitzen die Treppe hochschleichen, die ins obere Stockwerk führt. Du setzt deine Schritte bedächtig, und die dritte Stufe lässt du aus, sie knarzt manchmal.
Am oberen Ende der Treppe schließt sich ein weiterer Flur an, von dem mehrere Zimmer abgehen. Tabeas Schlafzimmer und das der Eltern, außerdem ein Gästezimmer, eine Abstellkammer und zwei Bäder. Du legst das Ohr an die Tür des Elternschlafzimmers und lauschst, hörst ein leises Schnarchen und glaubst sogar, die Ausdünstungen ihrer Körper riechen zu können. Du lächelst. Wie einfach es jetzt wäre, sie ein für alle Mal aus ihren friedlichen Träumen zu reißen.
Doch das tust du nicht, noch nicht. Stattdessen schleichst du weiter, bis du vor dem Zimmer der Tochter stehst. Der Gedanke, dass sie hinter dieser Tür in ihrem Bett liegt, lässt dich zittern. Wenn du wolltest, könntest du die Tür jetzt öffnen, dich neben sie legen und sie mit den Armen umschlingen, aber so bist du nicht. Du willst sie, natürlich willst du das, aber nicht auf diese Weise.
Noch immer kannst du dein Glück nicht fassen, sie unter Millionen von Menschen gefunden zu haben. Tabea ist nicht Miriam, selbstverständlich ist sie das nicht, aber sie sieht aus wie sie, und das genügt. Fürs Erste zumindest.
In den letzten Jahren ist es immer nur um Miriam gegangen, auch wenn du dir das lange nicht eingestehen wolltest. Miriam ist eine Wunde, die sich tief in dein Herz gegraben hat, sich niemals schließt und ewig schmerzt. Wenn du an sie denkst, dann denkst du an Tage voller Freude und an Nächte voller Leidenschaft. Du denkst an ihre Küsse und Berührungen und an das, was ihr gemeinsam vorhattet. Du denkst an alles, nur an das Ende denkst du nie.
An die Schreie.
Das viele Blut.
Das ist zu grausam. Selbst für jemanden wie dich, der manchmal glaubt, die Grausamkeit erfunden zu haben.
Nur widerwillig löst du dich von der Tür, hinter der Tabea schläft, und schüttelst den Gedanken an sie ab wie ein nasser Hund...
Erscheint lt. Verlag | 1.6.2023 |
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Verlagsort | München |
Sprache | deutsch |
Themenwelt | Literatur ► Krimi / Thriller / Horror ► Krimi / Thriller |
Schlagworte | aktuell • Bestseller • Bestsellerautor • Catherine Shepherd • Das Böse in ihr • Das Loft • Einbrecher • Eindringling • Erwachsene • Familiengeheimnis • Fitzek • Frauen • Gefahr • Going back • heimliche Mitbewohner • Heimweg • Hochspannung • Horror • Männer • Neu • Neuerscheinung 2023 • Nordsee • parasite • Phrogger • Phrogging • Psycho-Thriller • Roman • spannende Bücher • Spiegel-Bestsellerliste • Thriller • Top 10 Krimi • trautes Heim |
ISBN-10 | 3-492-60366-1 / 3492603661 |
ISBN-13 | 978-3-492-60366-9 / 9783492603669 |
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