Im Dunkeln spielen (eBook)
144 Seiten
Rowohlt Verlag GmbH
978-3-644-01619-4 (ISBN)
Toni Morrison wurde 1931 in Lorain, Ohio, geboren. Sie studierte an der renommierten Cornell University Anglistik und hatte an der Princeton University eine Professur für afroamerikanische Literatur inne. Zu ihren bedeutendsten Werken zählen «Sehr blaue Augen», «Solomons Lied», «Beloved», «Jazz» und ihr essayistisches Schaffen. Sie war Mitglied des National Council on the Arts und der American Academy of Arts and Letters. Ausgezeichnet mit zahlreichen Preisen, u. a. mit dem National Book Critics' Circle Award und dem American-Academy-and-Institute-of-Arts-and-Letters Award für Erzählliteratur. 1993 erhielt sie den Nobelpreis für Literatur, und 2012 zeichnete Barack Obama sie mit der Presidential Medal of Freedom aus. Toni Morrison starb am 5. August 2019.
Toni Morrison wurde 1931 in Lorain, Ohio, geboren. Sie studierte an der renommierten Cornell University Anglistik und hatte an der Princeton University eine Professur für afroamerikanische Literatur inne. Zu ihren bedeutendsten Werken zählen «Sehr blaue Augen», «Solomons Lied», «Beloved», «Jazz» und ihr essayistisches Schaffen. Sie war Mitglied des National Council on the Arts und der American Academy of Arts and Letters. Ausgezeichnet mit zahlreichen Preisen, u. a. mit dem National Book Critics' Circle Award und dem American-Academy-and-Institute-of-Arts-and-Letters Award für Erzählliteratur. 1993 erhielt sie den Nobelpreis für Literatur, und 2012 zeichnete Barack Obama sie mit der Presidential Medal of Freedom aus. Toni Morrison starb am 5. August 2019.
Vorwort
Vor einigen Jahren, ich glaube, es war 1983, las ich Marie Cardinals Les Mots pour le dire[1]. Mehr noch als die Begeisterung der Person, die mir das Buch empfahl, überzeugte mich der Titel: fünf Wörter – entlehnt von Boileau –, die das gesamte Programm und eindeutige Ziel einer Autorin oder eines Autors von Romanen zum Ausdruck bringen. Marie Cardinals Vorhaben hatte allerdings keinen fiktionalen Charakter; vielmehr sollte es ihren Wahnsinn, ihre Therapie und den komplizierten Prozess ihrer Heilung dokumentieren, und dies sprachlich so präzise und plastisch wie nur möglich, um sowohl die Erfahrung selbst als auch ihr Verständnis davon fremden Menschen begreiflich zu machen. Die Geschichten, in deren Form sich das Leben zu gießen scheint, kommen bei bestimmten Arten der Psychoanalyse mit enormer Kraft an die Oberfläche, und Cardinal erweist sich als die ideale Autorin, diesen «Tiefenaspekt» ihrer Lebensgeschichte wiederzugeben. Sie hat mehrere Bücher geschrieben, den Prix International gewonnen, Philosophie unterrichtet und bekennt im Verlauf ihrer Reise in die Gesundheit, dass sie schon immer vorhatte, eines Tages darüber zu schreiben.
Es ist ein faszinierendes Buch, und obwohl ich seiner Klassifizierung als «autobiografischer Roman» anfangs sehr skeptisch gegenüberstand, wird rasch deutlich, wie genau diese Bezeichnung trifft. Es ist angelegt wie die meisten Romane: Szenen und Dialoge folgen aufeinander und sind so angeordnet, dass sie die üblichen an eine Erzählung geknüpften Erwartungen erfüllen. Es gibt Rückblenden, gut platzierte beschreibende Passagen, ein sorgfältig bemessenes Handlungstempo und Entdeckungen zur rechten Zeit. Die Überlegungen der Autorin, ihre Strategien und ihr Bemühen, dem Chaos einen Zusammenhang zu geben, sind Autorinnen und Autoren von Romanen wohlvertraut.
Von Anfang an drängte sich mir eine Frage immer wieder auf: Wann genau merkte die Autorin, dass sie in Schwierigkeiten steckte? Welcher Augenblick in ihrer Geschichte, welche aufschlussreiche, vielleicht sogar spektakuläre Szene überzeugte sie davon, dass ihr der Zusammenbruch drohte? Knapp vierzig Seiten nach Beginn des Buches beschreibt sie diesen Moment, ihre «erste Begegnung mit der SACHE»:
«Meinen ersten Angstanfall hatte ich in einem Konzert von Louis Armstrong. Ich war neunzehn oder zwanzig … Armstrong mit seiner Trompete wird improvisieren. Er wird ein Stück aufbauen, in dem jede einzelne Note für sich und für den Gesamtzusammenhang wichtig war. Ich wurde nicht enttäuscht. Die Atmosphäre heizte sich schnell auf. Es erhoben sich Töne zu einem wunderbaren Gebäude. Wie Gerüste und Eckpfeiler stützten die übrigen Jazzinstrumente Armstrongs Trompete, schufen ausreichenden Raum für die Exposition des Themas, für die Durchführung und für das Finale. Die Töne drängten sich dicht aneinander, vermischten sich, prallten aufeinander und bildeten den musikalischen Grundstock. Aus diesem Schoß wurde eine einzigartige Note geboren. Es tat fast weh, ihrem Klang zu folgen, so bezwingend waren ihre Schwingungen und Dauer. Dieser Ton zerrte an den Nerven der gespannten Zuhörer.
Ich bekomme heftiges Herzklopfen, das bald die Musik zu übertönen scheint. Mein Herz rüttelt am Gitter meines Brustkorbs, schwillt an, drückt meine Lungen so sehr zusammen, dass ich kaum noch Luft bekomme. Und plötzlich erfasst mich Panik: die Vorstellung, hier zu krepieren, inmitten dieser Krämpfe, dem Gestampfe und Gejohle der Menge. Wie eine Besessene rase ich auf die Straße.»[2]
Ich erinnere mich daran, wie ich beim Lesen lächeln musste, teils aus Bewunderung für die Deutlichkeit ihrer Erinnerung an die Musik – ihre Unmittelbarkeit –, teils weil mir durch den Kopf schoss: Was, um alles in der Welt, hatte Louie an diesem Abend gespielt? Was war an seiner Musik, das dieses empfindsame junge Mädchen hyperventilierend hinaus auf die Straße trieb, wo die Schönheit und die Verheerung einer Kamelie sie so beeindruckte, «grazil von Erscheinung, aber innerlich zerrissen»?
Diesen Vorfall in Worte zu fassen, war entscheidend für den Beginn ihrer Therapie, aber die Bildersprache, die als Katalysator für ihren Angstanfall wirkte, bleibt unerwähnt – weder spricht sie selbst davon noch ihr Analytiker noch der berühmte Arzt Bruno Bettelheim, der sowohl das Vorwort als auch eine Nachbemerkung schrieb. Keiner interessiert sich dafür, was ihre starke Todesfurcht auslöste («Ich sterbe! Ich sterbe!», denkt sie und schreit es laut hinaus), was ihre Furcht davor, die Herrschaft über ihren Körper zu verlieren («Nichts kann mich beruhigen, und ich renne weiter»), und was endlich diese merkwürdige Flucht vor dem Improvisationsgenie, vor der erhabenen Ordnung, dem Gleichgewicht und der Illusion von Dauer. Die «einzigartige Note, deren Klang zu folgen fast wehtat, so bezwingend waren ihre Schwingungen und Dauer; dieser Ton, der an den Nerven der gespannten Zuhörerinnen und Zuhörer zerrte» [nicht denen von Armstrong offenbar. Hervorhebungen von der Autorin]. Unerträgliches Gleichgewicht und unerträgliche Dauer; nervenzerreißende Balance und Permanenz. Dies sind wunderbare Tropen für die Krankheit, die im Begriff ist, Cardinals Leben auseinanderzubrechen. Hätte ein Konzert von Édith Piaf oder eine Komposition von Dvořák die gleiche Wirkung gehabt? Gewiss hätte beides diese Wirkung haben können. Meine Aufmerksamkeit hingegen konzentrierte sich auf die Frage, ob die kulturellen Assoziationen zum Jazz genauso bedeutend für Cardinals «Besessenheit» waren wie deren intellektuelle Grundlagen. Mich interessierte, und zwar schon seit geraumer Zeit, wie Schwarze Menschen in literarischen Werken, die sie selbst nicht geschrieben haben, kritische Momente der Entdeckung oder des Wandels oder der Emphase auslösen können. Ich hatte sogar schon, ganz nebenbei und wie im Spiel, solche Fälle zu sammeln begonnen.
Louis Armstrong als Katalysator war ein neuer Beitrag zu dieser Kartei und ermutigte mich, über die Wirkungen des Jazz nachzudenken – darüber, wie er Instinkte, Gefühle und den Intellekt der Zuhörenden beeinflusst. Später wird in Cardinals Autobiografie noch ein anderer erhellender Moment beschrieben. Diesmal handelt es sich jedoch nicht um eine heftige physische Reaktion auf die Kunst eines Schwarzen Musikers; vielmehr geht es um eine begriffliche Antwort auf ein Schwarzes oder, genauer, nichtweißes Symbol. Die Autorin bezeichnet die Manifestation ihrer Krankheit – die halluzinatorischen Bilder von Furcht und Selbsthass – als die SACHE. Beim Rekonstruieren des Ursprungs der überaus abstoßenden Gefühle, die die SACHE auslöst, schreibt Cardinal: «Mir scheint, die SACHE hat in mir endgültig Wurzeln gefasst, als ich begriff, dass wir Algerien vernichteten. Denn Algerien war meine eigentliche Mutter. Ich trug es in mir wie ein Kind das Blut seiner Eltern.» Im Folgenden beschreibt sie den schmerzhaften Konflikt, den der Algerienkrieg in ihr – einem in Algerien geborenen französischen Kind – auslöste, und ihre Assoziation dieses Landes mit Kindheitsfreuden und keimender Sexualität. In bewegenden Bildern von Muttermord, dem weißen Abschlachten einer Schwarzen Mutter, findet sie den Ursprung der SACHE. Wieder wird eine innere Verwüstung mit einer von der Gesellschaftsordnung bestimmten Beziehung zu Race in Verbindung gebracht. Cardinal gehörte zu den Kolonialist*innen, ein weißes Kind, das die Araber*innen liebte und von ihnen geliebt wurde, aber vor Beziehungen zu ihnen, die über ein distanziertes und kontrolliertes Verhältnis hinausgingen, stets gewarnt wurde. In der Tat: eine weiße Kamelie, «grazil von Erscheinung, aber im Innern zerrissen».
In Cardinals Erzählung sind Schwarze oder People of Color und symbolische Darstellungen des Schwarzseins jeweils Symbole für das Wohlwollende und das Böse; für das Spirituelle (aufregende Geschichten von Allahs geflügeltem Pferd) und das Lüsterne; für «sündige», aber köstliche Sinnlichkeit, die mit Forderungen nach Reinheit und Zurückhaltung gepaart ist. Diese Symbole nehmen über die Seiten der Autobiografie hin Gestalt an, bilden Muster, treiben ihr Spiel. Eine von Cardinals frühesten Erkenntnissen im Verlauf der Therapie betrifft die vorpubertäre Sexualität. Als sie diesen Aspekt ihres Ichs versteht und nicht mehr verachtet, wagt es Marie Cardinal, aufzustehen und beim Verlassen der Praxis zu dem Arzt zu sagen: «Sie sollten diese Skulptur nicht in Ihrem Arbeitszimmer stehenlassen, sie ist schrecklich.» Und kommentiert dann: «Es war das erste Mal, dass ich ihn nicht wie eine Patientin anredete.» Den Durchbruch signalisierend und strategisch wichtig für seine Artikulation steckt dieses Symbol für Abscheu und Furcht in einer Skulptur, über die sie, die nunmehr befreite Patientin, eine gewisse Macht hat.
Viele andere Beispiele solcher erzähltechnischer Schaltstellen – Metaphern; Aufforderungen; rhetorische Gesten des Triumphs, der Verzweiflung und des Abschließens, die davon abhängig sind, ob die das Schwarzsein begleitende assoziative Sprache von Furcht und Liebe angenommen wird – sammelten sich in meiner Kartei. Beispiele, die ich für eine Kategorie von Quellen an Bilderreichtum hielt wie Wasser, Flucht, Krieg, Geburt, Religion und so weiter, die das Handwerkszeug eines Schriftstellers, einer Schriftstellerin ausmachen.
Solche...
Erscheint lt. Verlag | 13.6.2023 |
---|---|
Übersetzer | Barbara von Bechtolsheim, Helga Pfetsch |
Vorwort | Sharon Otoo |
Verlagsort | Hamburg |
Sprache | deutsch |
Themenwelt | Literatur ► Essays / Feuilleton |
Schlagworte | Alltagsrassismus • Bild der Schwarzen • Black lives matter • Debattenbeitrag • Essays • Essaysammlung • Gesellschaftskritik • Literaturkritik • Literaturnobelpreis • Literaturnobelpreisträger • Neuübersetzung • Nobelpreis für Literatur • Nobelpreis Literatur • Nobelpreisträgerin • Nobelpreisträger Literatur • Rassenkonflikt • Rassismus • Rassismusdiskurs • Sehr blaue Augen • Sharon Dodua Otoo • USA • weiße Literatur |
ISBN-10 | 3-644-01619-4 / 3644016194 |
ISBN-13 | 978-3-644-01619-4 / 9783644016194 |
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Größe: 1,8 MB
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