Tea Time (eBook)
320 Seiten
Diogenes (Verlag)
978-3-257-61312-4 (ISBN)
Ingrid Noll, geboren 1935 in Shanghai, studierte in Bonn Germanistik und Kunstgeschichte. Sie ist Mutter dreier erwachsener Kinder und vierfache Großmutter. Nachdem die Kinder das Haus verlassen hatten, begann sie Kriminalgeschichten zu schreiben, die allesamt zu Bestsellern wurden. 2005 erhielt sie den Friedrich-Glauser-Ehrenpreis der Autor:innen für ihr Gesamtwerk.
- Spiegel Bestseller: Belletristik / Taschenbuch (Nr. 12/2024) — Platz 18
- Spiegel Bestseller: Belletristik / Taschenbuch (Nr. 11/2024) — Platz 14
- Spiegel Bestseller: Belletristik / Taschenbuch (Nr. 10/2024) — Platz 17
- Spiegel Bestseller: Belletristik / Hardcover (Nr. 52/2022) — Platz 18
- Spiegel Bestseller: Belletristik / Hardcover (Nr. 51/2022) — Platz 17
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- Spiegel Bestseller: Belletristik / Hardcover (Nr. 49/2022) — Platz 15
- Spiegel Bestseller: Belletristik / Hardcover (Nr. 48/2022) — Platz 12
Jahrelang kannte bloß meine Schwester den wahren Grund für meinen Tick. Ich konnte nämlich nur einschlafen, wenn ich mich in meine Bettdecke wie in einen strammen Kokon einwickelte. Unter keinen Umständen durfte ein Fuß oder gar ein Unterschenkel ungeschützt herausragen. Sollte ich es doch einmal vergessen, würde ein rot gekleideter Henkersknecht mit einem Beil auftauchen und mir meine freiliegenden Gliedmaßen einfach abhacken. Während die meisten Deutschen die festgestopfte Steppdecke in Hotelbetten wieder etwas lockern, war es mir gerade so am liebsten. Ich überlegte sogar, ob ich mir nicht einen engen Mumien-Schlafsack anschaffen sollte, worin ich mich wie ein russisches Wickelkind geborgen fühlen konnte. Es ist mir daher auch völlig unverständlich, wie es andere Menschen stundenlang zu zweit unter einer Decke aushalten.
Ich war damals etwa neun, meine Schwester elf. Es hört sich sicher merkwürdig an, aber wir waren bisher noch nie am späten Abend allein gewesen. Erst als meine Großmutter in ein Pflegeheim umsiedeln musste, kamen wir in diese Situation. Unsere Eltern hielten es für selbstverständlich, dass wir auch ohne Aufsicht für ein paar abendliche Stunden uns selbst überlassen blieben; notfalls waren sie ja telefonisch erreichbar. Wir taten ebenfalls so, als seien wir längst erhaben über Räubermärchen oder furchterregende Gespenstergeschichten.
Im Fernsehen fanden wir zunächst nur langweilige Sendungen, bis wir schließlich auf eine Doku über entführte Kinder stießen. Vor vielen Jahren wurden die minderjährigen Töchter einer deutschen Journalistenfamilie während eines Italienurlaubs gekidnappt. Die Lösegeldforderungen, die diplomatischen Verwicklungen und die schwierigen Verhandlungen mit den Gangstern interessierten uns weniger, wir verfolgten mit viel größerem Interesse die Aufregung und das Leid der Eltern. Ob unsere Erzeuger, die uns heute so schnöde allein gelassen hatten, ebenso unglücklich wären und ihr letztes Hemd für unsere Befreiung hergeben würden?
»Was meinst du, Nina, sollen wir sie mal testen?«, fragte meine Schwester, und wir beschlossen, unseren Eltern einen Denkzettel zu verpassen, beziehungsweise einen gehörigen Schrecken einzujagen. Auf dem Dachboden gab es eine Kammer mit Gerümpel, hinter einem ausgedienten Schrank deponierten wir die Polster eines zweisitzigen Sofas. Dort sollte ich mich über Nacht und möglichst auch noch länger versteckt halten. Dann schnitten wir Buchstaben aus der Zeitung aus und bastelten einen nach unserem Wissensstand professionellen Erpresserbrief, in dem wir eine horrende Summe für unsere Freilassung forderten. Da zu erwarten war, dass die Eltern nach ihrer Rückkehr noch einen Blick auf ihre schlafenden Kinder werfen würden, ließen wir unter meiner Bettdecke einen Strumpf hervorlugen und deponierten das Haarteil unserer Mutter auf meinem Kopfkissen. Schließlich malten wir uns die Verzweiflung unserer Eltern genussvoll aus und waren hochzufrieden mit unserer Strafmaßnahme. Obwohl ich mich auf dem kalten Dachboden etwas ängstigte, bin ich schließlich doch eingeschlafen.
Leider kam es anders; meine Schwester hatte am nächsten Morgen dem mütterlichen Verhör nicht lange standgehalten. Irgendwann hörte ich wie im Traum die Stimmen meiner Eltern. Bevor ich noch richtig wach war, stand mein Vater vor meinem Lager und sagte: »Diese bleichen Flossen sind natürlich ebenso eine Attrappe wie die Perücke in Ninas Bett. Gut, dass Opas Axt hier noch herumliegt, jetzt werde ich gleich mal kräftig zuschlagen, um der blöden Schaufensterpuppe die hölzernen Beine abzuhacken!«
Schreiend fuhr ich hoch, unsere Eltern lachten sich fast krank. Irgendwann fand ich es wichtig, dieses peinliche Erlebnis meiner besten Freundin Franziska zu beichten. Vielleicht würde sie mich und meine Macke dann besser verstehen, denn sie tickt ja selbst nicht ganz richtig.
»Mein Gott, Nina, ich wusste zwar schon längst, dass du ein wenig spinnst, aber unter Klaustrophobie scheinst du nicht gerade zu leiden«, sagte Franzi. »Ich werde bereits bei dem Gedanken fast wahnsinnig, man könnte mich in einer Zwangsjacke festzurren! Ich kriege ja schon Platzangst in einem vollbesetzten Lift! Mein Alptraum wäre es, halbtot in einen Teppich eingerollt zu werden.«
Teppiche haben für meine Freundin eine ganz spezielle Bedeutung. Aber sie hat recht, kleine und enge Räume sind mir wesentlich lieber als riesige Säle.
Franzi und ich hatten zwar früher die Parallelklassen desselben Gymnasiums besucht, aber damals hatten wir uns kaum beachtet. Erst als uns der Beruf in die gleiche Stadt verschlug, begann eine vorsichtige, aber stetig wachsende Freundschaft. Richtig eng wurde unsere Beziehung erst durch ein schreckliches Erlebnis, ein gemeinsames Geheimnis, von dem niemand etwas erfahren sollte.
Als ich vor einiger Zeit nach Weinheim zog, sorgte Franzis Bruder anfangs für eine leichte Verstimmung, weil er eine Zeitlang hinter mir her war. Meine Freundin hätte es wahrscheinlich nicht ungern gesehen, wenn ich ihn erhört hätte, aber ich fand diesen Alexander zwar gutaussehend und lustig, aber trotzdem nicht sympathisch. Nachdem ich ihn wiederholt abgewimmelt hatte, spielte er die beleidigte Leberwurst und versuchte sogar, mich bei seiner Schwester madig zu machen, was ihm aber nicht gelang. In Anlehnung an einen alten Filmtitel nannte er uns »die Hochmütigen«. Er fand es geradezu abartig, dass Männer für uns anscheinend nicht das zentrale Thema waren. Vor allem hätte er aber mehr Dankbarkeit von mir erwartet, weil ich ihm mein neues Domizil verdankte.
Durch seine Vermittlung wohnen Franzi und ich nämlich im selben alten Fachwerkhaus, allerdings in verschiedenen Stockwerken. Es war ein Glücksfall für uns, dass der alte Besitzer verstarb und dessen nun leerstehende Zimmer vom Erben rasch vermietet werden sollten. Dieser Neffe lebte im Ausland, kannte sich mit hiesigen Preisen und der zentralen Lage am Marktplatz nicht aus und war bloß froh, sich nicht um die unbekannte Immobilie kümmern zu müssen. Obwohl das Gebäude etwas heruntergekommen ist, kann man es durchaus als Sahneschnittchen bezeichnen. Und wenn nicht ausgerechnet Franzis Bruder der zuständige Makler gewesen wäre, hätten wir nie hier einziehen können. Ein sachkundiger Eigentümer hätte das Objekt nämlich an einen geschäftstüchtigen Investor verkauft, der das Gebäude aufwendig renoviert und in Luxusappartements oder ein Restaurant mit Gästezimmern verwandelt hätte.
Hier am Weinheimer Marktplatz sammeln sich im Sommer Touristen und Einheimische, um unter japanischen Schnurbäumen Eis zu essen, Wein zu trinken und den lauen Abend in heiterer Gesellschaft zu verbringen. Deswegen ist es gerade an den Wochenenden bis in die späte Nacht hinein ziemlich laut, doch wofür gibt es Ohrstöpsel. Wenn ich aber an einem grauen Novembertag morgens die alten grünen Fensterläden öffne und hinausblicke, ist es ruhig und still. Nebel liegt über der fernen Burg, ein paar Saatkrähen haben sich verirrt und kreisen um den Roten Turm, der noch von der ehemaligen Stadtmauer übriggeblieben ist. Ich wohne im Dachgeschoss, Franzi im ersten Stock. Neben ihr gibt es eine etwas größere Wohnung, in der eine spanische Familie mit drei Kindern lebt. Außerdem soll ein sogenannter einsamer Wolf hier leben, ein angeblich durchgeknallter Typ und freier Mitarbeiter einer wissenschaftlichen Zeitschrift. Im Erdgeschoss befindet sich ein Buchladen, dort kaufen Einheimische ihre Lektüre und Touristen bunte Ansichtskarten, Souvenirs sowie Rätsel- und Sudokuhefte.
Es war lustig für uns beide, so nah beieinander zu wohnen, so manchen Abend gemeinsam zu verbringen und dabei ausgiebig über unsere Freundinnen und Feindinnen, Chefs und Kollegen, über unsere Eltern, über attraktive oder gemeine Männer oder über Gott und die Welt zu reden. Auch über unsere eigene Befindlichkeit, unsere Sehnsüchte, Schwächen und Stärken.
Franziska leitet ihre Macke von ihrem Namen ab, denn sie wurde von klein auf Franzi genannt. Hätte man sie Klara oder Amelie getauft, wäre sie niemals eine Fransenspezialistin geworden, wie sie allen Ernstes behauptet. Manchmal kann es schon ein wenig peinlich werden, wenn man gemeinsam mit Franziska eine fremde Wohnung betritt – einmal war es sogar bei einer Schlossführung –, wo Orientteppiche ausgelegt sind. Mit Adleraugen sieht sie sofort, wenn sich die Fransen in liederlichem Zustand befinden, also nicht akkurat und kerzengerade nebeneinander liegen. Schon zieht sie einen breitzinkigen Kamm aus der Tasche, kniet nieder und macht sich an die Arbeit. Sie kann sich richtig aufregen, wenn ein Teppich immer wieder von einer aufgehenden Tür gestreift wird und die Fransen an dieser Stelle mehr oder weniger abgesäbelt werden. Die Bezeichnung ausgefranst ist für sie eines der gemeinsten Schimpfwörter.
Natürlich gönne ich ihr das Vergnügen der Instandsetzung von ganzem Herzen, ja ich sorge in meinen beiden Zimmern absichtlich für verzottelte Fransen, wenn ich Franzi erwarte. Die Liebe geht allerdings nicht so weit, dass ich den von ihr verabscheuten Teppichboden im Flur herausreiße und durch einen Perser ersetze.
Aber da Franziska sowieso nicht überall auf liegende Beute trifft, spürt sie auch handgestrickte Schals auf, die irgendeine Großmutter irgendwann mit Quasten versehen hat, ebenso das quadratische Seidentuch von Tante Karin, die mir das bildschöne Stück vor Jahren aus Sevilla mitgebracht hatte. Der Mantón de Manila ist ein gefundenes Fressen für Franzi, denn seine Fransen...
Erscheint lt. Verlag | 26.10.2022 |
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Verlagsort | Zürich |
Sprache | deutsch |
Themenwelt | Literatur ► Krimi / Thriller / Horror ► Krimi / Thriller |
Schlagworte | Alkoholiker • Alptraum • Apotheke • Bäume • Botanik • Burg • Burg Windeck • Club • Diebstahl • Exotenwald • Franzose • Gift • Happy End • Hermannshof • Humor • Kauz • Kleptomane • Klub • Klub der Spinnerinnen • Kriminalroman • Lehrerin • Liebesgeschichte • Liebhaber • Macke • Mannheim • Marktplatz • Mittelalter • Mörder • Nerd • Neurose • Panik • Picknick • Reborn Baby • Schlafmittel • Schlosspark • Spaziergang • spleen • Tea Time • Tee • Teppich • Tick • Weihnachten • Weinheim • Weschnitz • Wickelkind |
ISBN-10 | 3-257-61312-1 / 3257613121 |
ISBN-13 | 978-3-257-61312-4 / 9783257613124 |
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