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Verschwörung (eBook)

Ein Fall für Kostas Charitos
eBook Download: EPUB
2022 | 2. Auflage
288 Seiten
Diogenes (Verlag)
978-3-257-61309-4 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Verschwörung -  Petros Markaris
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Athen in der Pandemie. Die Läden sind geschlossen, viele Menschen am Rande der Existenz. Da verwundert es nicht, dass sich auch alte Leute das Leben nehmen. Und doch horcht Kostas Charitos auf, als ein Neunzigjähriger in seinem Abschiedsbrief schreibt: Es lebe die Bewegung der Selbstmörder! Steckt hinter seinem Freitod mehr als die pure Verzweiflung? Charitos ermittelt - und lernt seine Stadt Athen und den Widerstandsgeist ihrer Bewohner neu kennen.

Petros Markaris, geboren 1937 in Istanbul, ist Verfasser von Theaterstücken und Schöpfer einer Fernsehserie, er war Co-Autor von Theo Angelopoulos und hat deutsche Dramatiker wie Brecht und Goethe ins Griechische übertragen. Mit dem Schreiben von Kriminalromanen begann er erst Mitte der Neunzigerjahre und wurde damit international erfolgreich. Er hat zahlreiche europäische Preise gewonnen, darunter den Pepe-Carvalho-Preis sowie die Goethe-Medaille. Petros Markaris lebt in Athen.

Um hervorzuheben, dass alles beim Alten war, sagten wir früher »Im Westen nichts Neues«. Das änderte sich mit dem Coronavirus. Heute ist nichts, wie es mal war, und die Dinge verschlechtern sich von Tag zu Tag. Wir sagen daher auch nicht mehr »Letztes Jahr war alles besser«, sondern nur noch »Gestern war alles besser«.

Bloß bei meiner Tochter zu Hause, da ist jeden Tag »alles beim Alten«. Abend für Abend hoffe ich, dass sich etwas ändert, begegne aber nur demselben reizbaren Fanis, der erschöpft aus dem Krankenhaus kommt, und meiner angespannten Tochter, die in ihrer Kanzlei eine wahre Sisyphusarbeit leistet.

Unter dieser Situation leidet vor allem ihr Sohn. Bei der kleinsten Unartigkeit werden die beiden laut und weisen Lambros zurecht, der in Tränen ausbricht. Seine Oma bringt ihn dann ins Kinderzimmer und versucht ihn zu beruhigen.

Mit diesen Gedanken klingle ich bei Katerina. Adriani öffnet mir die Tür mit Lambros auf dem Arm.

»Der Opa ist da!«, sagt sie fröhlich zu unserem Enkel und wippt mit ihm auf und ab. Zu mir sagt sie knapp: »Zieh dich um, und komm ins Kinderzimmer.«

An ihrer Miene ist abzulesen, dass auch heute wieder »alles beim Alten« ist. Ich ziehe mich um, gehe ins Kinderzimmer und nehme ihr Lambros ab, der sich darüber sichtbar freut.

Ich setze mich mit ihm auf den Boden, um die Teile seiner Spielzeugeisenbahn zusammenzufügen, die er auseinandergenommen hat. Er liebt diese Eisenbahn. Sobald sie über die Schienen fährt, lacht er und klatscht in die Hände. Genau das tut er auch jetzt, während ich das Pfeifen der Dampf‌lok nachahme.

»Haben sie sich wieder gestritten?«, frage ich Adriani, als sich Lambros seinem Spielzeug zuwendet.

Sie hebt verzweifelt die Hände. »Wie kann es sein, dass ein so verliebtes, harmonisch zusammenlebendes Paar ständig aufeinander herumhackt? Es ist mir ein Rätsel!«

Als die Eisenbahn stehen bleibt, beschwert sich Lambros lauthals. Während ich sie aufziehe, damit sie weiterfahren kann, kommt Katerina ins Kinderzimmer.

»Guten Abend, Papa«, sagt sie und wendet sich dann an ihre Mutter. »Lambros’ Essen ist fertig. Willst du ihn füttern oder soll ich?«

»Mach du das. Ich übernehme das Abendessen.«

Wir gehen gemeinsam ins Wohnzimmer. Das Essen für Lambros steht bereits auf dem Tisch. Katerina setzt ihn in seinen Stuhl und beginnt ihn zu füttern.

Als Fanis hereinkommt, gibt er seinem Sohn einen Kuss und lässt sich danach in einen Sessel fallen. Er sieht fertig aus. Ob seine Erschöpfung körperlich oder seelisch ist, kann ich nicht sagen, wahrscheinlich beides.

Während Lambros isst, will ich kein Gespräch anfangen. Ich habe Angst, dass ihm bei einem lauten Wortwechsel der Appetit vergeht. Zum Glück beginnt Adriani den Tisch für uns zu decken.

»Komm, wünsch uns gute Nacht, und dann ab ins Bettchen«, sagt Katerina zu Lambros, während sie ihn hochhebt. Lambros lässt sich von uns drücken und küssen, bevor ihn seine Mutter wegbringt.

Wir drei schweigen uns an. Fanis hat keine Lust auf ein Gespräch, und Adriani und ich, das alte Ehepaar, wissen auch nicht, was wir miteinander reden sollen. Adriani deckt den Tisch fertig und bringt das Lammfrikassee, das sie zubereitet hat. Wir warten auf Katerina, bevor wir uns an den Tisch setzen.

Adriani serviert das Gericht und sagt dann plötzlich: »Jetzt, da Kostas auch dabei ist, will ich eine Sache klarstellen: Wenn ihr vorhabt, euch weiter täglich zu streiten, dann nehmen wir den Kleinen besser zu uns. Er ist schon ganz durcheinander. Dieses eigentlich doch ausgeglichene Kind bricht ständig in Geschrei und Tränen aus. Wenn das so weitergeht, befürchte ich, dass er psychische Probleme bekommt, wenn er älter ist.«

Die beiden starren auf ihre Teller. Adriani wirft mir einen Blick zu, als wollte sie mich auf‌fordern, zu übernehmen.

»Ihr seid doch sonst ein so besonnenes Paar. Was ist nur plötzlich mit euch los, dass ihr dermaßen aufeinander losgeht?«, frage ich.

Fanis hebt seinen Kopf und sieht mich an. »Du bist doch Kommissar. Kennst du den Begriff ›Grenzüberschreitung‹?«

»Ob ich den Begriff kenne? Sie ist das Motiv für mindestens die Hälfte aller Morde, mit denen ich zu tun hatte!«

»Etwas Ähnliches passiert gerade mit Katerina und mir. Wir stoßen an unsere Grenzen. Das Krankenhaus bricht unter dem Zustrom zusammen. Wir konzentrieren uns ganz auf die Coronapatienten, doch es gibt auch noch andere sehr ernste Krankheiten. Jeden Tag wird es schlimmer, und wir wissen nicht, ob und wann wir zur Normalität zurückkehren. Wenn ich nach Hause komme, muss ich mich abreagieren.«

»Und du, warum bist du so genervt?«, frage ich meine Tochter.

Katerina versucht ruhig zu bleiben. »Papa, du hast eine Anstellung im Polizeidienst mit einem festen Einkommen. Aber versetz dich mal in meine Lage. Derzeit werden keine Gerichtsverhandlungen angesetzt, und die meisten meiner Mandanten mussten ihre Tätigkeit entweder einstellen oder können sich keinen Anwalt mehr leisten. Obwohl ich mir das Büro mit Mania teile, fallen jeden Monat Miete und Gehalt der Sekretärin an, ganz abgesehen davon, dass ich zu unserem Haushalt keinen einzigen Euro beitrage. Ich habe keine Ahnung, wann meine Kanzlei die Arbeit wieder aufnimmt und ich meinen beruf‌lichen und familiären Verpflichtungen wieder nachkommen kann. Also frage ich dich: Wie soll ich da nicht an meine Grenzen kommen?«

»Und was war der Grund für euren Streit heute? Das Krankenhaus oder die Kanzlei?« Fanis und Katerina blicken sich an, dann müssen sie plötzlich lachen.

»Der Selbstmord«, sagt Fanis und lacht immer noch.

»Der Selbstmord?«, frage ich und bin mir nicht sicher, ob ich richtig gehört habe.

»Katerina wird es dir erklären.«

»Als ich heute mein Facebook-Profil geöffnet habe, bin ich zufällig auf den Abschiedsbrief eines alten Mannes gestoßen, der sich umgebracht hat.« In mir steigt eine böse Ahnung auf, aber ich halte mich zurück und unterbreche sie nicht. »Der Selbstmörder schrieb, er habe sein Leben lang gekämpft, und es tue ihm weh, dass sich heutzutage keiner mehr auf‌lehne oder protestiere. Am Ende stand, er hoffe, dass durch seinen Tod vielleicht ein paar Leute aus dieser Lethargie erwachen.« Sie macht eine Pause, in der sie tief Luft holt. »Als ich das Fanis erzählt habe, hat er sich furchtbar aufgeregt und meinte, die Tage eines Neunzigjährigen seien sowieso gezählt. Doch wenn sich Leute durch seinen Brief zum Widerstand ermuntern ließen, würden die Coronazahlen mit Sicherheit weitersteigen, und das Gesundheitssystem würde zusammenbrechen. Ich habe ihm daraufhin Gefühllosigkeit vorgeworfen.« Sie stützt den Kopf in beide Hände und lächelt.

»Hieß der Selbstmörder vielleicht Dimos?«, frage ich.

»Ich glaube, ja«, erwidert Katerina. Sie holt ihr Handy aus ihrer Jackentasche und beginnt zu suchen. »Dimos Begleris«, sagt sie kurz darauf.

»Und der Brief endet mit dem Satz ›Es lebe die Bewegung der Selbstmörder‹?«

»Ja, stimmt, hast du ihn auch gelesen?«, will sie von mir wissen.

»Ein früherer Mitarbeiter hat mir den Brief geschickt. Der letzte Satz hat ihn stutzig gemacht.«

»Und, was meinst du?«

»Nichts weiter. Wir kamen in der Mordkommission zum Schluss, dass es sich wohl um ein letztes verzweifeltes Aufbäumen handelt.«

»Selbstmord ist doch auch nur eine weitere Grenzüberschreitung«, fügt Fanis hinzu.

Adriani bekreuzigt sich. »Gott behüte! Da kommt ja noch Schreckliches auf uns zu«, bemerkt sie.

»Adriani hat recht. Und genau deshalb müssen wir einen kühlen Kopf bewahren und uns gegenseitig unterstützen«, sage ich.

Das weitere Essen verläuft in geregelten Bahnen, und wir unterhalten uns gelöst. Doch mich lässt die Frage nicht los, wie der Brief seinen Weg in die sozialen Medien gefunden hat. Es könnte natürlich sein, dass seine Enkelin ihn gepostet hat.

»Die Stimmung hat sich anscheinend beruhigt«, sage ich auf dem Nachhauseweg zu Adriani.

»Na hoffentlich bleibt es so. Du kannst dir nicht vorstellen, wie nervenaufreibend es ist, wenn du förmlich darauf wartest, dass gleich nach Fanis’ Ankunft die Streiterei losgeht. Und wenn da bei mir schon die Nerven blank liegen, wie soll dann ein zweijähriges Kind damit umgehen?«

Als wir zu Hause sind, blicke ich auf die Uhr. In einer Viertelstunde beginnen die Abendnachrichten. Die Verbreitung von Begleris’ Abschiedsbrief hat eine unerklärliche Unruhe in mir ausgelöst, und falls sich in der Zwischenzeit doch etwas Neues ergeben hat, muss ich das unbedingt wissen.

»Ich schaue mir noch die Nachrichten an«, sage ich.

»Ich habe meine Dosis Corona-Elend für heute Abend gehabt. Eine zweite kann ich nicht gebrauchen«, antwortet Adriani und geht ins Schlafzimmer.

Der Abschiedsbrief wird unmittelbar nach den Coronanews eingeblendet, und ich beglückwünsche mich zu meinem guten Instinkt.

In letzter Zeit ist es in Mode gekommen, für jedes Thema einen Experten einzuladen, der den Zuschauern eine tiefschürfende Analyse liefert. In Begleris’ Fall kommt ein Psychiater zu Wort, der eine Menge Erklärungen parat hat und schließlich eine Diagnose stellt, die schon am Esstisch gefallen ist: Verzweif‌lung.

Die eigentliche Überraschung kommt jedoch zum Schluss. Die Handelsverbände haben angekündigt, dass sie morgen gegen den Lockdown protestieren wollen. Unglaublich, aber wahr: Begleris hat es tatsächlich geschaff‌t, die Menschen mit seinem Selbstmord zu mobilisieren.

Ich schalte den Fernseher aus und gehe ins...

Erscheint lt. Verlag 27.7.2022
Reihe/Serie Kostas Charitos
Kostas Charitos
Übersetzer Michaela Prinzinger
Verlagsort Zürich
Sprache deutsch
Original-Titel To kinima tis aftoktonias
Themenwelt Literatur Krimi / Thriller / Horror Krimi / Thriller
Schlagworte Arbeitslosigkeit • Armut • Athen • Corona • Familie • Griechenland • Griechische Küche • Griechische Literatur • Kostas Charitos • Krimi • Kriminalroman • Linke • Obdachlosigkeit • Protest • Rechte • Verschwörung • Verschwörungstheorie • Widerstand • Zusammenhalt
ISBN-10 3-257-61309-1 / 3257613091
ISBN-13 978-3-257-61309-4 / 9783257613094
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