Turmschatten (eBook)
592 Seiten
Piper Verlag
978-3-492-60240-2 (ISBN)
Peter Grandl, geboren 1963, ist Drehbuchautor und Chefredakteur eines Onlinemagazins. Außerdem engagiert er sich ehrenamtlich bei den Organisationen German Dream und Schule ohne Rassismus.
Peter Grandl, geboren 1963, ist Drehbuchautor, Werbetexter und Chefredakteur eines Musikermagazins. Außerdem engagiert er sich ehrenamtlich bei den Organisationen German Dream und Schule ohne Rassismus.
Prolog – Der Turm I
Montag, 8. Januar 1945
Es war kurz nach Mitternacht. Ein auf- und abschwellender Signalton zerriss die Stille der abgedunkelten deutschen Großstadt im Süden. Nur acht Kilometer östlich vom Stadtzentrum befand sich nahe einem Moosfeld ein kleines Dorf, dessen Kirche jetzt ebenfalls Alarm schlug und den bevorstehenden Bombenangriff einläutete. Diese Angriffe hatten bisher immer nur der Innenstadt gegolten, aber was waren schon acht Kilometer? Erst am Tag zuvor war einer der britischen Bomber im Wald abgestürzt und bei einer riesigen Explosion in Flammen aufgegangen. Bomben hatten die angrenzenden Felder verwüstet, einen großen Bauernhof sowie dessen noch verbliebenen Viehbestand mit einem Schlag vernichtet und das gefrorene Ackerland in eine unwirtliche Kraterlandschaft verwandelt. Am nächsten Tag fand man eine einzelne Kuh, die in der Mitte eines Bombenkraters stand und brüllend versuchte, die steile Anhöhe zu erklimmen. Ihre Artgenossen waren, angekettet im Stall, der Feuersbrunst zum Opfer gefallen.
So fürchterlich diese Bombenangriffe auch waren, so sehr gehörten sie inzwischen zur schaurigen Routine der Stadtbewohner. Die langen Abstände zwischen den Angriffen halfen dabei, das Grauen zu verarbeiten und den Unverbesserlichen wieder Hoffnung auf den Endsieg zu geben. Zwischen Juli und Dezember 1944 hatte man die Stadt gänzlich verschont. Die Strategen des »Moral Bombing« schickten die Luftflotten zur Unterstützung der Soldaten an der nahenden Front monatelang zu Städten im Norden und Westen. Doch nun waren die Bombergeschwader zurückgekehrt, mit dem Ziel, die Moral der Stadtbevölkerung mit Gewalt zu brechen. Die Abstände zwischen den nächtlichen Angriffen waren mittlerweile kürzer geworden, doch zwei Angriffe hintereinander, in einer Nacht, das hatten selbst die leidgeplagten Bewohner der Siedlung noch nie erlebt.
Als die Sirenen in dieser Nacht zum zweiten Mal heulten, waren die Bewohner gerade wieder erschöpft in ihre Häuser zurückgekehrt. Eine Brandbombe hatte im Dorfzentrum das Haus der Familie Engelhard getroffen. Die Bombe krachte durch die Dachziegel, durchschlug die Böden von zwei Stockwerken und explodierte schließlich im Wohnzimmer. Die fünf Hausbewohner – eine junge Frau, ihre Eltern und ihre zwei Kinder – hatten zu diesem Zeitpunkt im Keller Schutz gesucht und die Explosion überlebt. Doch dann fegte ein Feuersturm über sie hinweg, der ihnen die Luft zum Atmen raubte.
Ein angrenzendes Haus brannte ebenfalls lichterloh und konnte erst nach zwei Stunden in gemeinsamer Anstrengung aller Dorfbewohner gelöscht werden. Es dauerte eine weitere Stunde, bis man die Trümmer weit genug abgetragen hatte, um in den Keller der Familie Engelhard zu gelangen.
Im Licht der Taschenlampen fand man schließlich die zusammengekauerte Familie. Sie alle waren jämmerlich erstickt.
Im Flammenschein der fernen Innenstadt trug man die fünf Leichen in die nahe gelegene Kirche, die beim Angriff unversehrt geblieben war. Dort legte man sie im Kirchenschiff auf dem eiskalten Steinboden ab und hüllte sie in Armeedecken, auf denen höhnisch das Hakenkreuz prangte. Die Beerdigung sollte am nächsten Morgen stattfinden.
Die Tragödie der Familie Engelhard führte dazu, dass nun kaum einer der Dorfbewohner noch glaubte, im eigenen Keller sicher zu sein. Alle Hoffnung auf Überleben richtete sich von da an auf den Turm.
Dieses achteckige Gebäude stand am Rande des Dorfes auf einem Hügel und überragte mit seinem mittelalterlich anmutenden Schindeldach sogar die Spitze der Kirche, was den Dorfpfarrer seit jeher störte. Der mächtige Turm war breit und massiv gebaut und hatte bereits einen Bombentreffer ohne nennenswerten Schaden überstanden. Doch das Privileg, während eines Angriffs dort unterzukommen, war genau reglementiert. Ausgewählte Dorfbewohner, darunter alle Parteimitglieder, hatten einen Sonderausweis für Schutzsuchende erhalten, der ihnen gestattete, im Notfall den Turm aufzusuchen. Der Eingang wurde vom Ortsgruppenleiter der NSDAP streng kontrolliert. Wolfgang Danner besaß zur Wahrung der öffentlichen Ordnung eine Dienstwaffe und drohte jeden zu erschießen, der versuchte, den Turm ohne Sonderausweis zu betreten. Danner neigte trotz der Entbehrungen der Kriegsjahre zu starker Fettleibigkeit. Er war erst Mitte vierzig, doch dank seiner politischen Beziehungen hatte man ihn als »nicht kriegsdienstverwendungsfähig« eingestuft. Stattdessen durfte er an der Heimatfront Wach- und Sicherungsaufgaben übernehmen.
Da mit Erlass des »Volkssturms« im Oktober 1944 der Kreis der wehrfähigen Männer auf die Jahrgänge 1884 bis 1924 erweitert worden war, fand er sich unter Frauen, Kindern und Greisen wieder. Es war niemand mehr da, der ihm seine Macht hätte streitig machen können – und trotz all der Zerstörung und des täglichen Grauens war es für Wolfgang Danner die bis dahin schönste Zeit seines Lebens. Er war jemand! Man respektierte ihn! Oder zumindest tat man so. Wenn er in seiner Uniform mit dem rot-schwarzen Parteiabzeichen durch den Ort flanierte – Benzin gab es auch für seinen Parteiwagen nicht mehr –, dann fühlte er sich allmächtig. Schließlich war er derjenige, der über die Zuteilung von Sonderrationen und die Verteilung von Ausgebombten auf angrenzende Bauernhöfe entschied. Danner hatte außerdem die Macht, Strafen zu erlassen, und rein theoretisch durfte er sogar Todesurteile gegen Volksverräter verhängen.
Als in der Nacht vom 7. auf den 8. Januar 1945 fünfhundertsiebenundneunzig Bomber der Royal Air Force ihre tödlichen Ladungen über der Großstadt abwarfen, war Wolfgang Danner als Erster am Turm, um akribisch zu kontrollieren, wer ihn betreten durfte und wer nicht. Und obwohl er fast jeden im Dorf persönlich kannte und genau wusste, wem der Zugang gestattet war, bestand er darauf, die Sonderausweise zu sehen. Er hatte die Macht, er ganz allein – und er genoss es, diese Macht auszuüben.
Der Horizont war rot erleuchtet von den Feuerstürmen, die acht Kilometer entfernt im Zentrum der Großstadt gerade unzählige Leben auslöschten. Die weißen Strahlen der Flak-Scheinwerfer suchten den schwarzen Himmel ab, doch die Bomber waren längst abgedreht. Das Schauspiel erinnerte an die Ouvertüre einer Oper, bei der die Bühnenscheinwerfer einen roten Vorhang beleuchteten.
Die Gesichter der sinnlos ums Leben gekommenen Familie Engelhard waren den Dorfbewohnern noch frisch in Erinnerung. Auch wenn keiner schlafen konnte, so versuchte man trotz alledem, die Kinder zu beruhigen, ins Bett zu gehen und nicht an die Qualen zu denken, die andere Menschen in unmittelbarer Nähe die ganze Nacht lang erleiden mussten.
Wolfgang Danner ging nach dem ersten Angriff jedes Stockwerk des massiven Turms ab und kontrollierte Raum für Raum. Vor Monaten hatte sich hier mal eine junge Frau erbrochen. Er selbst musste am folgenden Tag die Sauerei aufwischen. Daraufhin hatte er wutentbrannt der Frau und ihrer Familie den Sonderausweis entzogen. In dieser Nacht konnte Danner zum Glück keine unliebsame Hinterlassenschaft entdecken – selbst die Toiletten waren gespült worden, soweit sich das bei der dürftigen Notbeleuchtung erkennen ließ. Danach ging er nach unten ins Erdgeschoss, verließ den Turm und sperrte die schwere Stahltür ab. Auf seinem Weg nach Hause schien das nächtliche Firmament erneut zu erbeben. Wieder heulten die Sirenen los, wieder ertönten Kirchenglocken.
Doch diesmal kam der Alarm zu spät. Schon regnete es Staniolstreifen, mit denen die ersten Bomber den Radar der deutschen Flugabwehr störten. Schaurig schön flatterte das Lametta glitzernd vom Himmel und eröffnete den zweiten Satz einer minutiös geplanten Symphonie des Todes.
Es war das grausame Ziel der Angreifer, nun all jene Einsatzkräfte in den Tod zu reißen, die ausgerückt waren, um den Notleidenden zu helfen. Die brennenden Straßen in der Innenstadt waren voll von Feuerwehrleuten, Sanitätern und zivilen Hilfskräften, die versuchten, Leben zu retten. Genau ihnen galt diese zweite Bombardierung.
Hatte bei der ersten Angriffswelle im Dorf noch eine...
Erscheint lt. Verlag | 28.7.2022 |
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Reihe/Serie | Die Turm-Reihe |
Die Turm-Reihe | Die Turm-Reihe |
Verlagsort | München |
Sprache | deutsch |
Original-Titel | Turmschatten |
Themenwelt | Literatur ► Krimi / Thriller / Horror ► Krimi / Thriller |
Schlagworte | actionreich • Entführer • Geiselnahme • Geschenk für Männer • Gesellschaftsthriller • Hinrichtung • Hochbunker • Judenhass • Medien • Mossad • Neonazis • Politik • Politthriller Bücher • rasant • Rechter Terror • Rechtsradikale • Social Media • Thriller • Turmgold • Turm-Reihe |
ISBN-10 | 3-492-60240-1 / 3492602401 |
ISBN-13 | 978-3-492-60240-2 / 9783492602402 |
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Größe: 7,5 MB
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