Turmgold (eBook)
592 Seiten
Piper Verlag
978-3-492-60181-8 (ISBN)
Peter Grandl, geboren 1963, ist Drehbuchautor und Chefredakteur eines Onlinemagazins. Außerdem engagiert er sich ehrenamtlich bei den Organisationen German Dream und Schule ohne Rassismus.
Peter Grandl, geboren 1963, ist Drehbuchautor, Werbetexter und Chefredakteur eines Musikermagazins. Außerdem engagiert er sich ehrenamtlich bei den Organisationen German Dream und Schule ohne Rassismus.
Marie I
Freitag, 16. Oktober 2020
Das Fadenkreuz des Zielfernrohrs schwenkte behutsam von Kopf zu Kopf der Gäste, die schwer atmend mit Mundschutz oben am Plateau des Hügels eintrafen, auf dem ein achteckiger Wehrturm stand.
Seit gut einer Stunde harrte der kräftige Mann mit dem Scharfschützengewehr an seiner Position aus. Eine kühle Brise wehte um seinen Kopf und linderte die Hitze, trotzdem musste er immer wieder kurz die Waffe absetzen, um zu verhindern, dass Schweißtropfen in die Optik liefen. Eine Augenbraue, die den Schweiß abgehalten hätte, besaß der Mann nicht.
Der Kiesweg vom provisorisch angelegten Parkplatz am Fuße des Hügels bis hinauf zum Plateau war relativ steil, was es ihm ermöglichte, jeden einzelnen Gast ausgiebig ins Visier zu nehmen. Von seiner Position aus könnte er mindestens ein Dutzend Personen niederstrecken, bis er selbst zur Zielscheibe werden würde, doch er zwang sich zur Geduld.
Die Sonne stand an ihrem höchsten Punkt, und so spendete das vierstöckige Bauwerk nur wenig Schatten, in dem sich trotz der Corona-Pandemie die ersten Besucher drängten und Erfrischungsgetränke reichen ließen. Für einen Herbsttag war es ungewöhnlich heiß geworden.
Zwar wirkte der beeindruckende Turm wie ein Bauwerk aus dem Mittelalter, doch hinter der historisch anmutenden achteckigen Fassade verbarg sich ein massiver Hochbunker aus dem Zweiten Weltkrieg, der vor genau zehn Jahren Schauplatz einer schrecklichen Geiselnahme und eines unfassbaren Medienspektakels geworden war.
Die Gemeinde hatte lange diskutiert, ob der monströse Turm oder die neu erbaute Synagoge am Marktplatz der geeignetere Ort für den geplanten Gedenktag sein würde. Die Turmgegner im Komitee führten vor allem einen Grund an, der mit rationalen Argumenten nur schwer zu entkräften war; sie meinten, der Turm sei »ein böser Ort«.
Ungeachtet der Tatsache, dass das Gebäude inzwischen seit vielen Jahren einen jüdischen Kindergarten beherbergte und die spielenden Kinder dem Hügel eine lebendige Wärme verliehen, hatten viele sensationslüsterne Touristen, die den Hochbunker nach dem Geiseldrama besuchten, den Eindruck, dass von dem Turm eine unerklärliche Kälte ausging. Es gab sogar eine Website namens thetowerofevil.net, die abenteuerlustigen Usern empfahl, unbedingt eine Nacht in der Nähe zu verbringen, da man dort besonders grauenvolle Albträume haben würde. Die Jugendlichen, die hier wild campten, hatte die Gemeinde zunächst noch zähneknirschend hingenommen; nachdem aber eines Nachts die Polizei ein Treffen von Satanisten, deren brennendes Holzkreuz weithin zu sehen war, auflösen musste, wurde rund um den Hügel eine hohe Hecke errichtet. Sie verbarg einen massiven Doppelstabmattenzaun, der nur schwer zu überwinden war. Doch die unerklärliche Kälte, die von dem Turm ausging, war in den Köpfen vieler Bürger bis heute präsent.
Den Ausschlag zugunsten des Turms als Veranstaltungsort hatte schließlich der Spezialist einer Sicherheitsfirma gegeben, mit der Information, dass für die Überwachung des Marktplatzes im Ortskern doppelt so viel Personal notwendig werden würde als zur Sicherung des Plateaus. Die Kostenaufstellung hatte dann auch die letzten Zweifler im Gemeinderat zum Schweigen gebracht.
Im Fadenkreuz des Scharfschützen tauchte soeben eine hochgewachsene schlanke Frau auf, deren lange, dunkle Haare im Nacken lieblos von einem Haargummi zusammengehalten wurden. Marie Stresemann. Der Schütze erkannte die ehemalige Bewährungshelferin sofort. Wut stieg in ihm hoch, zusammen mit dem gnadenlosen Verlangen, jetzt den Abzug zu betätigen. Es wäre ihm eine Genugtuung, zu sehen, wie sie nach seinem gezielten Kopfschuss tot zwischen den Gästen zusammenbrechen würde. Aber noch hatte er sich unter Kontrolle.
Marie steuerte geradewegs auf Rabbi Shlomo Moshe zu, der in einem Rollstuhl saß und mit der ehemaligen Stadträtin Seligmann in ein Gespräch vertieft war. Sie lauschte seinen Worten und nickte sanft.
Ein Kellner in blau-weißer Livree und Atemmaske bot Marie auf einem Silbertablett Sekt und Orangensaft an, aber sie wich aus, ohne den jungen Mann eines Blickes zu würdigen.
Aus den Augenwinkeln entdeckte der greise Rabbi die Frau in den ausgewaschenen Jeans, unterbrach seinen Monolog und setzte ein breites Lächeln auf.
»Liebe Frau Seligmann, darf ich Ihnen Marie Stresemann vorstellen?«
Die Frau im dunklen Kostüm drehte sich zu Marie um und prüfte sie mit strengem Blick und einem angedeuteten Lächeln.
»Angenehm, Seligmann«, stellte sie sich vor.
Einem Reflex folgend, bot ihr Marie die rechte Hand an.
»Oh, lieber nicht, am besten, wir befolgen die AHA-Regeln«, erwiderte die Frau und wich einen Schritt zurück.
Marie hätte am liebsten die Augen verdreht, beherrschte sich aber. Dann wandte sie sich Rabbi Moshe zu und beugte sich zu ihm hinunter. Der Rabbi schloss sie in seine Arme und küsste sie auf die Wange, woraufhin die ehemalige Politikerin sich empört abwandte und auf die Suche nach einem neuen Gesprächspartner machte.
»Wie geht es Ihnen, meine Liebe?«, wollte der Rabbi von Marie wissen. »Gehört habe ich seit Jahren nichts mehr von Ihnen, und die schöne neue Synagoge haben Sie noch kein einziges Mal gesehen«, setzte er ein wenig vorwurfsvoll nach.
Marie hatte ein schlechtes Gewissen wegen des Rabbis. Nach den dramatischen Ereignissen vor zehn Jahren waren Michael Koch und der vollbärtige Rabbiner die einzigen beiden Menschen gewesen, die ihr Halt gegeben hatten. Der Kommissar, weil er annähernd dieselben schrecklichen Dinge durchlebt hatte, und der Rabbi, weil sie sich ihm geöffnet hatte, als sie Beistand suchte.
Marie war nie ein aktives Mitglied der jüdischen Gemeinde gewesen. Die Begriffe Glaube und Gott hatten für sie keine tiefere Bedeutung. Eine anständige Therapie war ihrer Meinung nach der einzige Weg, mit den traumatischen Erlebnissen des Geiseldramas fertigzuwerden, aber der gewünschte Erfolg blieb aus. Schuld daran waren vor allem ihre Ungeduld und der Ehrgeiz, mit dem sie einen spürbaren Therapieerfolg förmlich erzwingen wollte. Wie schon so oft in ihrem Leben führte dieser Eifer jedoch zum Misserfolg. Einmal mehr resignierte sie, weil sie die selbst gesteckten Ziele nicht erreicht hatte.
Es waren die immer wiederkehrenden Belehrungen ihrer Mutter gewesen, die sie schließlich dazu brachten, an einem Sabbat die alte Synagoge zu besuchen.
»Was du brauchst, ist kein Psychiater, Mädchen. Geh, sprich mit dem Rabbi. Ein Rabbi ist besser als ein Psychiater. Glaub deiner alten Mutter mal was … Geh zum Rabbi, er wird dir helfen.«
Und tatsächlich, es funktionierte. Marie hatte jedoch nicht den geringsten Zweifel daran, dass Glaube und Religion keinen Einfluss auf den Erfolg gehabt hatten. Vielmehr war es der Umstand gewesen, dass sie den Rabbi ohne irgendeine Erwartungshaltung besucht hatte.
Nach dem grauenvollen Mord an Esther Goldstein, der ehemaligen Haushälterin von Ephraim Zamir, empfand Shlomo Moshe seinerseits den Besuch von Marie wie eine Herausforderung Gottes. Aus dieser Aufgabe schöpfte er neue Kraft; sie brachte ihn zurück ins Leben.
Anfangs saß Marie nur schweigend bei ihm und hörte sich seine zweideutigen Geschichten an, die er mit blumigen Worten und tiefer Stimme vortrug. Sie waren wie Rätsel, die sie mit nach Hause nahm und deren Entschlüsselung sie bis in ihre Träume begleitete. Und je mehr sie verstanden zu haben glaubte, umso mehr neue Fragen taten sich auf.
Eines Tages begann sie schließlich zögerlich, eigene Geschichten beizutragen, erst von anderen, dann von sich selbst. Dabei schilderte sie die Erlebnisse oft in Form von Gleichnissen, selten aber so, wie sie sich tatsächlich zugetragen hatten. Es war wie ein Spiel zwischen ihr und dem Rabbi, das sich nach und nach wie ein kühler Verband über die geschundenen...
Erscheint lt. Verlag | 1.12.2022 |
---|---|
Reihe/Serie | Die Turm-Reihe |
Die Turm-Reihe | Die Turm-Reihe |
Verlagsort | München |
Sprache | deutsch |
Themenwelt | Literatur ► Krimi / Thriller / Horror ► Krimi / Thriller |
Schlagworte | actionreich • Geiselnahme • Geschenk für Männer • Gesellschaftsthriller • Hochbunker • Judenhass • jüdische Kinder • Katakomben • Kindergarten • Nazigold • Neonazis • Politik • Politthriller Bücher • rasant • rechte Parteien • Rechter Terror • Rechtsradikale • Thriller • Turm-Reihe • Turmschatten |
ISBN-10 | 3-492-60181-2 / 3492601812 |
ISBN-13 | 978-3-492-60181-8 / 9783492601818 |
Informationen gemäß Produktsicherheitsverordnung (GPSR) | |
Haben Sie eine Frage zum Produkt? |
Größe: 7,9 MB
DRM: Digitales Wasserzeichen
Dieses eBook enthält ein digitales Wasserzeichen und ist damit für Sie personalisiert. Bei einer missbräuchlichen Weitergabe des eBooks an Dritte ist eine Rückverfolgung an die Quelle möglich.
Dateiformat: EPUB (Electronic Publication)
EPUB ist ein offener Standard für eBooks und eignet sich besonders zur Darstellung von Belletristik und Sachbüchern. Der Fließtext wird dynamisch an die Display- und Schriftgröße angepasst. Auch für mobile Lesegeräte ist EPUB daher gut geeignet.
Systemvoraussetzungen:
PC/Mac: Mit einem PC oder Mac können Sie dieses eBook lesen. Sie benötigen dafür die kostenlose Software Adobe Digital Editions.
eReader: Dieses eBook kann mit (fast) allen eBook-Readern gelesen werden. Mit dem amazon-Kindle ist es aber nicht kompatibel.
Smartphone/Tablet: Egal ob Apple oder Android, dieses eBook können Sie lesen. Sie benötigen dafür eine kostenlose App.
Geräteliste und zusätzliche Hinweise
Buying eBooks from abroad
For tax law reasons we can sell eBooks just within Germany and Switzerland. Regrettably we cannot fulfill eBook-orders from other countries.
aus dem Bereich