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Heute ist mitten in der Nacht (eBook)

eBook Download: EPUB
2023 | 1. Auflage
192 Seiten
Berlin Verlag
978-3-8270-8055-4 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Heute ist mitten in der Nacht -  Kerstin Preiwuß
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»Zum ersten Mal habe ich das Gefühl, über etwas, das mich betrifft, so sprechen zu können, als ginge es alle etwas an«, erklärt das Ich dieses Textes, »weil ich schon lange in der Welt lebe, in die jetzt alle geraten sind. Ich bin ruhig in diesem Ausnahmezustand. Ich bin beisammen.« Kerstin Preiwuß, vielfach ausgezeichnete Autorin von Romanen, Gedichten und Essays, legt einen wichtigen Text vor, der Selbstvergewisserung und Sprachkraft auf eindrucksvolle Weise zusammenführt und ein Zeitempfinden in den Blick nimmt, das unsere Gegenwart bestimmt.

Kerstin Preiwuß wurde 1980 in Lübz geboren und lebt heute mit ihrer Familie in Leipzig. Seit dem Wintersemester 2021 hat sie den Lehrstuhl für »Literarische Ästhetik« am Deutschen Literaturinstitut Leipzig inne. Die Lyrikerin, Romanautorin und Essayistin promovierte über deutsch-polnische Ortsnamen und debütierte 2006 mit dem Gedichtband »Nachricht von neuen Sternen«, dem der Gedichtband »Rede« (2012) folgte. 2014 erschien ihr vielbeachtetes Romandebüt »Restwärme«, 2016 der Lyrikband »Gespür für Licht« und 2017 ihr zweiter Roman »Nach Onkalo«, der für den Deutschen Buchpreis nominiert war. 2020 erschien der Gedichtband »Taupunkt«. Für ihre Arbeiten wurde sie vielfach ausgezeichnet etwa mit dem Hermann-Lenz-Stipendium, dem Lyrikpreis Meran, dem Eichendorff-Literaturpreis und zuletzt 2020 mit dem Anke-Bennholdt-Thomsen-Lyrikpreis der Deutschen Schillerstiftung. Kerstin Preiwuß ist seit 2021 Mitglied der Deutschen Akademie für Sprache und Dichtung.

Kerstin Preiwuß wurde 1980 in Lübz geboren und lebt heute mit ihrer Familie in Leipzig. Seit dem Wintersemester 2021 hat sie den Lehrstuhl für »Literarische Ästhetik« am Deutschen Literaturinstitut Leipzig inne. Die Lyrikerin, Romanautorin und Essayistin promovierte über deutsch-polnische Ortsnamen und debütierte 2006 mit dem Gedichtband »Nachricht von neuen Sternen«, dem der Gedichtband »Rede« (2012) folgte. 2014 erschien ihr vielbeachtetes Romandebüt »Restwärme«, 2016 der Lyrikband »Gespür für Licht« und 2017 ihr zweiter Roman »Nach Onkalo«, der für den Deutschen Buchpreis nominiert war. 2020 erschien der Gedichtband »Taupunkt«. Für ihre Arbeiten wurde sie vielfach ausgezeichnet etwa mit dem Hermann-Lenz-Stipendium, dem Lyrikpreis Meran, dem Eichendorff-Literaturpreis und zuletzt 2020 mit dem Anke-Bennholdt-Thomsen-Lyrikpreis der Deutschen Schillerstiftung. Kerstin Preiwuß ist Mitglied des P.E.N. und seit 2021 Mitglied der Deutschen Akademie für Sprache und Dichtung.

Habe ich je erzählt von dem Vorfall in der Provence, als ich mich einmal zum Trampen entschloss, weil das letzte Stück zwischen Orange und dem Ferienhaus, in dem ich erwartet wurde, nicht mehr mit den öffentlichen Verkehrsmitteln erreichbar war; habe ich erzählt, wie ich in Orange aus dem Bus stieg und anfing, die Straße entlangzuwandern, eine junge Frau mit Rucksack; habe ich je erzählt, wie das Auto hielt und mich ein älterer Mann zum Einsteigen einlud, ohne mich nach meinem Weg gefragt zu haben, wie er also nur anhielt, um mir zu sagen, steig ein, ich nehm dich mit, und ich mir nichts dachte, nur dass der Rucksack schwer war und der Weg nicht ganz klar; habe ich das je erzählt, wie ich vorn neben ihm einstieg und ihm sagte, wo ich hinwollte, und es nicht lange brauchte, wahrscheinlich nur Minuten, bis ich bemerkte, dass ich plötzlich wusste, wo es nicht langging, denn ich musste die Frage stellen, die unvermeidbar wurde: Wohin fahren wir? Habe ich das schon erzählt, wie er darauf nicht antwortete und mich zwang, meine Frage zu wiederholen, lauter im Ton, denn um die Panik zu unterdrücken, gab ich mir eine laute Stimme, und er mir dann ausweichend antwortete, dass wir in den Wald fahren würden, woraufhin ich weiter fragte, wofür, als wäre das nicht klar, dieser Dialog, der zu etwas führt, was man vermeiden möchte, was so nicht eintreten soll, es gibt Wortgruppen für diesen wahr gewordenen Albtraum. Aber er antwortete nur, ich solle dort nachsehen, ob noch alles natürlich wäre, ob noch alles funktionierte an ihm, und das habe ich sicher nicht erzählt, aber ich weiß es bis heute, wie ich ab dann alles überdeutlich sah und dachte und in dieser Situation die zwei Möglichkeiten abglich, es mitzumachen und zu ertragen, oder die Tür bei laufender Fahrt zu öffnen und mich rauszuwerfen. Ich wurde kühl im Innern, ich war ganz bei mir und handlungsfähig, ich würde handeln, wusste ich in diesem Moment, nur noch nicht, wie. Man könnte sich abrollen, auch war das Auto zu alt für eine automatische Verriegelung, das Auto war so alt wie der Mann, der mich nicht überwältigen würde, eher dass ich ihm irgendwohin trat und entkam, also, und das würde ich immer so wiedergeben, schrie ich, ich brüllte ihn an, in exaktem Französisch, noch nie ging mir das so flüssig über die Lippen, das schwöre ich, dass ich absolut nicht interessiert sei und er mich sofort rauslassen solle, ich schrie, und es bewirkte, dass er anhielt, da waren wir schon von der Straße abgebogen und auf einem schmaleren Weg am Rande des Wäldchens. Er hielt an, und sofort öffnete ich die Tür und, daran erinnere ich mich übergenau, das muss ich jetzt mal sagen, stieg aus und öffnete noch die Hintertür, um meine Sachen rauszuholen, denn wenn ich hier entkam, dann vollständig, und vielleicht war es genau diese kleine Geste in ihrer Selbstverständlichkeit, man nimmt alles von sich mit, die verantwortlich dafür war, dass er mir nicht nachstellte, wie man altmodisch sagt, ich nahm also auch mich wieder mit, würdigte ihn dabei keines Blickes, wie man so sagt, ich weiß also auch nicht mehr, wie er aussah, nur dass er alt war, vielleicht sechzig, und offensichtlich bei Gegenwehr die Lust verlor. Ich konzentrierte mich nur auf mich und entkam, ich schlug die Tür zu und er muss abgefahren sein, wie, weiß ich nicht, ab hier wird die Erinnerung undeutlich, sie wird sowieso eher von der Selbstbeobachtung dominiert, als wäre ich mein Kommentar, um zu beweisen, dass mir nichts geschehen war in einer Situation, die darauf angelegt war. Ich weiß noch, ich hatte mir sämtliche Wege und Abzweigungen eingeprägt und vollzog sie ab dem Moment, wo ich allein war, rückwärts wieder nach, so fand ich von den Nebenwegen wieder auf die Landstraße zurück und setzte meinen Weg einfach fort, und was soll ich sagen, das nächste Auto hielt an, es war ein jüngerer Mann, und er sprach so wie ich Französisch mit Akzent. Er sagte, los steig ein, ich nehm dich mit, und ich blieb stehen und sagte sehr laut und entschieden Nein, und wissen Sie, warum, holte ich aus und erzählte ihm alles, was mir eben widerfahren war. Er hörte es sich an und sagte nur, bist du blöd, ich mach so was nicht, ich hab Kinder, und das überzeugte mich, also stieg ich ein. Er fragte, wohin, ich nannte die Adresse, er drehte um und fuhr zurück ins Dorf bis zur Kneipe, dort gingen wir hinein, und er sprach mit dem Wirt, während ich wartete, bis auch der Wirt mit rauskam, in sein Auto stieg und wir ihm folgten und ich am Ende mit zwei Autos, quasi eskortiert, ankam. Weit war es nicht, vielleicht zehn Minuten, bis wir beim Ferienhaus waren, wo ich erwartet wurde, man freute sich außerordentlich, wunderte sich nur, warum ich so bleich war, fragte aber nicht nach, denn mein Vater war kurz zuvor gestorben.

So habe ich das noch nie erzählt, sondern immer nur abgekürzt und zusammengefasst, was geschehen kann, womit ich hätte rechnen müssen. Die klassische Situation, die man nicht wahrhaben möchte, aber die dann folgt, das glückliche Entrinnen, die wundersame Begebenheit danach, was wäre das, würde ich es erzählen, was würde daraus, wenn nicht eine unglaubwürdige Geschichte. Ich habe das also noch nie erzählt, schloss ich meine Erzählung gegenüber meiner Freundin ab, als wir in Orange den Kreisverkehr passierten, den ich wiedererkannte, weil ich damals hier mit dem Bus vorbeigekommen war, es war im Prinzip vorhersehbar gewesen.

Warum war mir das nur nicht klar, was ist die Zeit nur für eine Verzögerin, die immer für diese bestimmten Momente ihr Band abspielt, als würde man ständig auf der Owl Creek Bridge stehen, die ganze kurze Zeitspanne lang wird die Zeit mit Hoffnung überdehnt, aber Hoffnung findet nicht statt, Hoffnung ist nur der Wunsch, der nicht eintreten kann. Und was heißt dann plötzlich und unerwartet, aus heiterem Himmel? War der Himmel heiter? Die New Yorker sagten, nach 9/11 ja, kaum zu ertragen, was für ein schöner blauer schneidend klarer Himmel das war, der den ganzen Herbst füllte, sie hätten sich Regen gewünscht und bekamen blauen Himmel bis Weihnachten, es war alles surreal.

 

Kann es sein, dass wir nicht nur an die Situationen gebunden sind, die sich ereignet haben, sondern auch an die, die sich hätten ereignen können? Was geschieht im Gegensatz dazu mit den Situationen, die sich ereignet haben, sind wir in ihnen enthalten, bleiben wir zurück? Wie kann es sein, dass man mit der Zeit geht, ohne dass die Zeit sich in einem vollzieht? Entgegen allen Befürchtungen schreibe ich aus der Vergangenheit, obwohl ich erst seit Kurzem wieder fähig bin, sie zu empfinden. Die Zeitspanne zwischen der Gegenwart des letzten Jahres und ihrer Vergangenheit ist bislang nur ein schmaler Spalt, eine gerade sich öffnende Tür. Ich bin noch frisch im Nicht-mehr-hier, zwar hat die Gegenwart mich nicht mehr ganz, aber sie sitzt mir immer noch im Genick, diese endlose Starre löst sich nur langsam auf. Aber der Reihe nach.

 

Ich schreibe aus einer Erfahrung heraus, die mich erstaunt. Sie lässt sich schnell in Worte fassen. Die Katastrophe erschreckt mich nicht. Was bedeutet das? Das muss bedeuten, ich bin abgehärtet. Das kann bedeuten, dass ich mich so weit zurückgezogen habe, dass mir nicht mehr viel etwas kann, und darum geht mich auch nicht mehr viel etwas an. Eine merkwürdige Deckungsgleichheit bestimmt die Tage, ich lebe, denke, schlafe mit ruhiger Hand und ordne meine Angelegenheiten. Ich scheine nichts mehr zu erwarten, denn keine Erwartung fühlt sich enttäuscht. Ich werde nicht ungeduldig, denn ich habe es schon vorher aufgegeben, Wünsche zu hegen. Jeden Tag erfüllt sich etwas Neues nicht, wird uns wieder etwas genommen, nur mir nicht, ich habe es vorher schon unterlassen, mich an etwas zu binden. Als hätte ich schiffbrüchig gelernt, von meinen Ausscheidungen zu leben, und triebe jetzt als Perpetuum mobile in einem Ozean voller Schiffbrüchiger. Das Schlimme ist nur, es fühlt sich nach nichts an. Und das viel Schlimmere ist, das Leben vorher fühlte sich auch nach nichts an.

 

Nicht mal mehr vor der Angst erschrecke ich, sondern betrachte interessiert, wie sie die Situationen dominiert, in denen sie aufkommt. Als würde ich zuschauen, wie ich mich verhalte. Es ist ein andauerndes Handeln, das keine vereinzelten Tatsachen kennt, als hätte man längst diesen endlosen Tag des Jüngsten Gerichts erreicht, als stromere man durch die Apokalypse und könne sie sogar bewerten. Die ganze Zeit ist eine Katastrophe ...

Erscheint lt. Verlag 6.1.2023
Verlagsort München
Sprache deutsch
Themenwelt Literatur Essays / Feuilleton
Schlagworte Angstbewältigung • Anspruchsvolle Literatur • Autobiographisches • Autofiktion • Bestandsaufnahme • Gegenwart • Gegenwartsdiagnose • Gesellschaftsanalyse • Pandemie • Poetik • Selbstbefragung • Zeitgenossenschaft
ISBN-10 3-8270-8055-X / 382708055X
ISBN-13 978-3-8270-8055-4 / 9783827080554
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