Die Botschaft der verborgenen Bilder (eBook)
303 Seiten
Verlagsgruppe Lübbe GmbH & Co. KG
978-3-7517-2802-7 (ISBN)
Großes Kino im sizilianischen Vigàta
Aufruhr in Vigàta: Eine schwedische Produktionsfirma will in dem Küstenstädtchen einen Film mit Sechzigerjahre-Flair drehen. Zur Vorbereitung der Kulisse werden die Bewohner gebeten, alte Fotos und Filme beizusteuern. Auch Commissario Montalbano erreicht eines Tages ein Paket: Der Ingenieur Sabatello hat auf dem Dachboden mehrere Filme seines verstorbenen Vaters gefunden. Sie zeigen jeweils minutenlang dasselbe Detail einer Mauer, und Sabatello kann sich keinen Reim darauf machen. Fasziniert und auch ein bisschen froh, den Turbulenzen in der Stadt den Rücken kehren zu können, geht Montalbano der Sache auf den Grund. Und kommt bald einem mörderischen Familiengeheimnis auf die Spur ...
»Sonniges Sizilienflair, ein dunkles Geheimnis aus der Vergangenheit und ein eigenwilliger Commissario von großer Menschlichkeit - beste Krimiunterhaltung« LA STAMPA
<p><strong>Andrea Camilleri </strong>(1925-2019) ist der erfolgreichste zeitgenössische Autor Italiens und begeistert mit seinem vielfach ausgezeichneten Werk ein Millionenpublikum. Ob er seine Leser mit seinem unwiderstehlichen Helden Salvo Montalbano in den Bann zieht, ihnen mit kulinarischen Köstlichkeiten den Mund wässrig macht oder ihnen unvergessliche Einblicke in die mediterrane Seele gewährt: Dem Charme der Welt Camilleris vermag sich niemand zu entziehen.</p>
Andrea Camilleri (1925-2019) ist der erfolgreichste zeitgenössische Autor Italiens und begeistert mit seinem vielfach ausgezeichneten Werk ein Millionenpublikum. Ob er seine Leser mit seinem unwiderstehlichen Helden Salvo Montalbano in den Bann zieht, ihnen mit kulinarischen Köstlichkeiten den Mund wässrig macht oder ihnen unvergessliche Einblicke in die mediterrane Seele gewährt: Dem Charme der Welt Camilleris vermag sich niemand zu entziehen.
Zwei
Er verbrachte eine schlimme Nacht, denn obwohl er bei Enzo zu Abend gegessen hatte, klebte ihm der widerliche Geschmack des Pseudo-Fleischklößchens und des gleichermaßen künstlichen Pürees am Gaumen, weshalb er zwei, drei Mal aufstehen musste und sich im Bad fluchend den Mund ausspülte, was jedoch nicht half.
Den Geschmack wurde er erst los, als er sich am nächsten Morgen einen starken Espresso kochte, pechschwarz und dickflüssig wie Erdöl. Auf der Fahrt ins Kommissariat bekam er schlechte Laune bei dem Gedanken daran, dass ein weiterer chaotischer Tag im Zeichen des großen Fernseh-Zirkus vor ihm lag.
Und tatsächlich hatte er, wie auf Bestellung, einen Sattelschlepper vor sich, der mit Autos aus den Fünfzigerjahren beladen im Schneckentempo nach Vigàta fuhr.
»Ah, Dottori, heute Morgen noch ganz früh am Morgen war ein Signore hier, der sich Stampatello nannte und Ihnen persönlich selber ein Päckchen übergeben wollte, das ich Ihnen übergeben soll.«
Er bückte sich, griff nach etwas, das nicht viel größer war als ein Schuhkarton, und sagte:
»Gehen Sie voraus, Dottori, ich verfolge Sie mit dem Päckchen.«
In Montalbanos Büro stellte Catarella es vorsichtig auf den Schreibtisch, schlug die Hacken zusammen und ging wieder auf seinen Posten.
Montalbano setzte sich und öffnete das Päckchen. Es enthielt die sechs Filmspulen, von denen der Ingegnere Sabatello gesprochen hatte, und den dazugehörigen Projektor. Auch ein an ihn adressierter Brief lag bei.
Sehr geehrter Dottore Montalbano,
zunächst einmal herzlichen Dank für Ihre Hilfsbereitschaft.
Ich schicke Ihnen die Sachen, von denen ich gestern Abend gesprochen habe.
Es ist mir ein Anliegen, Ihnen mitzuteilen, dass der im Jahr 1963 gedrehte Film die einzige Aufnahme meines Vaters in jenem Jahr war, da die Krankheit, an der er litt, sich erheblich verschlimmert hatte und ihn ans Bett fesselte. Er starb am 15. Mai desselben Jahres in der Villa der Familie. Um diese Aufnahme zu machen, hat mein Vater also aufstehen und alle seine ihm noch verbliebenen Kräfte aufbieten müssen. Was meiner Ansicht nach darauf hindeutet, dass diese kleinen Filme für ihn von außerordentlicher Bedeutung waren. Aber worin bestand diese Bedeutung? Ich hoffe, Sie können mir helfen, auf diese Frage eine Antwort zu finden.
Für weitere Informationen stehe ich Ihnen selbstverständlich jederzeit zur Verfügung.
Beiliegend meine Handynummer.
Ihr Ernesto Sabatello
Es war der Satz »die einzige Aufnahme meines Vaters in jenem Jahr«, der Montalbano keine Ruhe ließ: der Umstand, dass ein Sterbenskranker solche Mühen auf sich nahm, um ein Stück Mauer zu filmen. Und weil im Kommissariat totale Flaute herrschte, beschloss er, seine Neugier sofort zu stillen.
Er nahm den Kalender und ein großes Foto mit der gesamten Polizeitruppe des Kommissariats von der Wand, hängte beides an einen Nagel neben der Tür und zog den Vorhang zu. Als es im Zimmer dunkel war, schaltete er das Licht an und schob den Stecker des Projektors in die Steckdose. Auf der Wand erschien ein leuchtend helles Rechteck. Er griff nach der ersten Filmspule.
Dann hielt er inne. Von welcher Seite musste man das Zelluloidband einführen? Durch welche Rädchen musste es gefädelt werden, damit die Bilder an die Wand geworfen wurden? Wo war der Knopf zum Abspielen der Bilder?
Er war völlig überfordert.
Er holte Catarella zu Hilfe, der ihm in null Komma nichts erklärte, was zu tun war, und ihm zeigte, mit welchem Knopf man das Bild anhielt.
Als Catarella gegangen war, schaltete Montalbano den Projektor ein. Doch schon beim ersten Surren der Filmspule stoppte er den Apparat und blieb minutenlang reglos sitzen.
Aus einem unbekannten Winkel der Erinnerung war eine Szene seiner Kindheit in sein Bewusstsein getreten: eine Szene mit seinem Vater, der einen 8-mm-Film abspielte, auf dem von hinten und nur für einen kurzen Moment seine Mutter zu sehen war. Es war das einzige Bild, das er von ihr hatte, und auf dem sie sich ihm in einer Weise präsentierte, die sich ihm tief ins Gedächtnis eingebrannt hatte: von hinten, mit langen blonden Haaren, die sich sanft bewegten wie Weizen im Wind.
Er stand auf, trank ein Glas Wasser und nahm wieder Platz, dann schloss er kurz die Augen, um diese Bilder aus dem Kopf zu bekommen, und setzte den Projektor erneut in Gang.
Der Ingegnere hatte recht. Es war ein Stück Mauer, und sie war so aufgenommen, dass weder der Sockel noch die obere Kante zu sehen waren. Dreieinhalb Minuten, so lange dauerte der Film, war nur dieses eine Stück Mauer zu sehen.
Der Commissario legte den zweiten Film ein. Er unterschied sich in nichts von dem ersten.
Drei, vier Mal spulte er vor und wieder zurück, hielt das Bild an einigen Stellen an, um ein Detail genauer zu betrachten, dann spielte er beide Filme noch einmal hintereinander ab und versuchte, sich das Gesehene einzuprägen.
Es gab überhaupt keinen Unterschied.
Im dritten Film jedoch entdeckte er etwas Neues. Aus einem Riss im Putz schauten ein paar kümmerliche Grashalme hervor, die auf der nachfolgenden Filmrolle allerdings wieder verschwunden waren. Es musste ein windiger Tag gewesen sein, denn das Pflänzchen zitterte. Im fünften Film hatte sich der Riss so stark vergrößert, dass der Putz heruntergefallen war und die darunterliegenden Tuffsteinquader zum Vorschein kamen. Der letzte Film, der von 1963, unterschied sich in nichts vom vorletzten.
Montalbano schaltete den Projektor aus, öffnete das Fenster, zündete sich eine Zigarette an und rauchte, die Ellbogen auf das Fensterbrett gestützt.
Sabatellos Bemerkungen am Vorabend hatten seine Neugier geweckt, doch beim Betrachten der Bilder spürte er den unbezwingbaren Wunsch, deren Sinn und Bedeutung zu verstehen. Und in dem Augenblick, da er diesen Wunsch verspürte, wusste er, dass er erst dann seinen Frieden finden würde, wenn er eine stichhaltige und konkrete Antwort gefunden hatte – für den Ingegnere Sabatello, in erster Linie aber für sich selbst.
Derartige Geschichten sprachen einen ganz bestimmten Zug seines Charakters an. Natürlich interessierten ihn rechtsrelevante Angelegenheiten, aber vor allem faszinierten ihn die Irrungen und Wirrungen der menschlichen Seele.
Er kehrte an seinen Schreibtisch zurück, rief Fazio zu sich und erzählte ihm die Geschichte exakt so, wie er sie von Sabatello gehört hatte.
Fazio setzte sich neben ihn, und Montalbano schaltete erneut den Projektor ein. Am Ende der Vorführung sah Fazio den Commissario fragend an.
Statt einer Antwort reichte der Commissario ihm Sabatellos Brief.
»Was hältst du davon?«
Fazio beschränkte sich darauf, mit den Schultern zu zucken.
»Dottore mio«, sagte er nach einer Weile. »Zuallererst frage ich mich, ob dieser Signore womöglich nicht ganz richtig im Kopf war.«
»Das weiß ich nicht, aber ich glaube, er wusste schon, was er tat. Sonst hätte er in seinem Zustand doch niemals das Bett verlassen.«
»Eine andere Hypothese«, sagte Fazio ins Blaue hinein, »könnte lauten, dass sich hinter dieser Mauer etwas verbirgt und diese Filme belegen sollen, dass das Stück Mauer noch unangetastet ist.«
»Wenn das stimmt«, erwiderte Montalbano, »muss man annehmen, dass die Filme nicht nur für den bestimmt waren, der sie gedreht hat, sondern einer dritten Person gezeigt werden sollten. Aber vielleicht kann uns der Ingegnere weiterhelfen, bevor wir uns auf dem weiten Feld der Spekulationen verlieren.«
»Wie Sie meinen«, sagte Fazio in versöhnlichem Ton.
In diesem Moment knallte die Bürotür mit einer solchen Wucht gegen die Wand, dass das notdürftig aufgehängte Gruppenfoto herunterfiel. Natürlich war es Catarella, der auf der Schwelle stand. Die Hand sei ihm ausgerutscht, lautete seine Entschuldigung.
Dann verkündete er, dass die Signora Sciosciostrom mit zwei Herren gekommen sei und persönlich selber mit dem Commissario zu sprechen wünsche.
»Bring sie her.«
Catarella hängte das Foto wieder an den Nagel und verschwand, und jetzt erschien Ingrid, gefolgt von dem blonden Bären, dem Filmregisseur, sowie einem der vier Schweden, die Montalbano schon beim Festakt zur Besiegelung der Städtepartnerschaft gesehen hatte.
Ingrid stellte ihn als den Produzenten auf schwedischer Seite vor. Erstaunt bemerkte Montalbano, dass der Bär tatsächlich tanzte wie ein Bär. Er verlagerte sein Gewicht von einem Bein aufs andere und fletschte die Zähne. Er schien ziemlich wütend zu sein.
»Wir würden gern mit dir allein sprechen«, sagte Ingrid.
»Wenn Sie mich entschuldigen«, sagte Fazio.
Er stand auf, verließ das Zimmer und schloss die Tür hinter sich.
»Setzt euch«, sagte der Commissario.
Ingrid ergriff das Wort. Ihre Miene war ernst, aber Montalbano, der sie gut kannte, bemerkte in ihren Augen ein amüsiertes Funkeln.
»Es handelt sich um eine heikle Angelegenheit, Salvo. Ich weiß nicht, ob dir bekannt ist, was gestern Abend nach dem Festakt im Rathaus passiert ist.«
»Ich habe keine Ahnung.«
»Der zweite Teil des Zeremoniells sah vor, eine Flasche mit Wasser aus der Ostsee bei Kalmar ins Meer von Vigàta zu schütten. Also formierte sich ein Festzug zum Hafen, angeführt von den beiden Bürgermeistern. Der Bürgermeister von Kalmar übergab die Flasche Ostseewasser an Pillitteri, und der entkorkte und entleerte sie am Hauptkai ins Meer. In diesem...
Erscheint lt. Verlag | 27.1.2023 |
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Reihe/Serie | Commissario Montalbano | Commissario Montalbano |
Übersetzer | Rita Seuss, Walter Kögler |
Verlagsort | Köln |
Sprache | deutsch |
Original-Titel | La rete di protezione |
Themenwelt | Literatur ► Krimi / Thriller / Horror ► Krimi / Thriller |
Schlagworte | Commissario Montalbano • Familiengeheimnis • feelgood • Film • Fotografie • Italien • Kriminalroman • Krimis • Kulinarik • Photographie • Regisseur • Retro • Schweden • Sechzigerjahre • Sizilien • Social Media • Vigàta |
ISBN-10 | 3-7517-2802-3 / 3751728023 |
ISBN-13 | 978-3-7517-2802-7 / 9783751728027 |
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