Das Bernsteinkind (eBook)
480 Seiten
Goldmann (Verlag)
978-3-641-29209-6 (ISBN)
Max Bentow wurde in Berlin geboren. Nach seinem Schauspielstudium war er an verschiedenen Bühnen tätig. Für seine Arbeit als Dramatiker wurde er mit zahlreichen renommierten Preisen ausgezeichnet. Seit seinem Debütroman »Der Federmann« hat sich Max Bentow als einer der erfolgreichsten deutschen Thrillerautoren etabliert, alle seine Bücher waren große SPIEGEL-Bestsellererfolge.
ZWEI
DIENSTAG, 18. MAI, ABENDS
Die Türglocke schepperte. Katja trat ein. Ein Geruch von Papier, Staub und Pfeifentabak umfing sie. Sie schritt die Reihe der Regalwände ab, die vollgestopft waren mit alten Büchern, seltenen Folianten, antiquarischen Wälzern und zerlesenen Taschenbüchern. Von gewöhnlichen Krimis über Herz-Schmerz-Romane, erotischen Petitessen bis hin zu Raritäten und umfangreicher Sekundärliteratur zu den ausgefallensten Themen – in diesem Laden gab es eigentlich nichts, was es nicht gab, ein Sammelsurium für Experten, Spinner, Snobs und neugierige Kundinnen wie sie.
Der Betreiber, ein Faktotum namens Gandalf Rückert, klein, krumm, dickbäuchig, weißer Vollbart, silbergraues, langes Haar, saß halb versteckt hinter einem Stapel stockfleckiger Bildbände im hinteren Teil des Ladens. Er hatte das Kunststück vollbracht, auf wenigen Quadratmetern Hunderttausende von Büchern anzuhäufen. Etliche von ihnen waren zu wackligen Türmen auf dem Boden aufgeschichtet, um die sich Katja vorsichtig herummanövrieren musste, bis sie endlich vor ihm stand.
Rückert zog abwechselnd an seiner Pfeife, griff in eine Tüte mit Kartoffelchips, schob sich eine Handvoll in den Mund, zerkaute sie krachend, paffte und blätterte gleichzeitig in einer wissenschaftlichen Abhandlung. Offenbar ging es um die Verbreitung von Erdferkeln südlich der Sahara, wie Katja mit einem erstaunten Blick auf die zahlreichen Farbfotos und Zwischenüberschriften feststellte.
Sie war Stammkundin, deshalb wurde sie von Rückert mit einem jovialen Kopfnicken begrüßt.
»Na, Katja, schon was Interessantes gefunden?«
»Nein, ich wollte nur …«
Er tippte auf eine der Abbildungen. »Schau mal, das sind possierliche Tierchen, diese Erdferkel, nicht? Kräftiger Körper, aufgewölbter Rücken, muskulöse Beine, röhrenförmig verlängerte Schnauze und ein fleischiger Schwanz.«
Er grinste sie an und zerbiss ein paar Chips. Krümel hingen in seinem Bart.
Sie betrachtete die Fotos der sonderbaren Tiere. »Ich kann nichts Hübsches an ihnen entdecken.«
»Einzelgängerisch, nachtaktiv, graben im Erdreich. Mir sind die sympathisch.«
Sie versuchte es mit einem Scherz. »Weil sie ein bisschen aussehen wie du?«
Er verzog keine Miene.
Es entstand eine Verlegenheitspause, die ihr unangenehm war.
»Entschuldige, Gandalf. Humor ist nicht gerade meine Stärke. Ich probiere es immer wieder, aber meine Witze kommen einfach nicht an. Bei niemandem.«
»Schon gut. Ich weiß ja, dass ich bei dir nicht landen kann. Bin dennoch jedes Mal froh, wenn du zu mir kommst.« Er schaute auf das Buch in ihrer Hand. »Ist das von hier?«
»Nein.«
»Willst du es verkaufen?«
»Auch nicht. Ich hab nur eine Frage dazu. Kennst du es?«
»Gib mal her.«
Rückert klemmte seine Pfeife in den Mundwinkel, rieb sich die fettigen Finger an seinem Hemd ab und nahm das Buch in seine Hände.
Er betrachtete die Vorderseite mit der imposanten Aufmachung.
»Wo hast du das her?«
»Es lag in einer Kiste. An der Straße, wo ich wohne.«
»Einfach so?«
Sie nickte. »Es war zu verschenken. Ist ein Thriller.«
Rückert las die Großbuchstaben vom Einband ab. »NACHTLAND. Poetischer Titel. Ungewöhnlich für einen Thriller, findest du nicht?«
»Ja.«
»Schon ausgelesen?«
»Ich bin mittendrin.«
»Spannend?«
»Ziemlich.«
Er schlug das Buch auf. »Kein Klappentext. Wovon handelt es?«
»Es geht um eine junge Frau, die irgendwo in einem fensterlosen Raum gefangen ist. Sie hat große Angst. Es ist in der ersten Person geschrieben, im Präsens, sehr schnell, kurze Sätze, nahezu atemlos. Diese Frau weiß, dass sie in der Nacht umgebracht wird. Von ihrem Kidnapper, den sie nie zu Gesicht bekommen hat, wurde ihr das angekündigt. Er hat ihr Stift und Papier dagelassen. Sie darf schreiben. Aber sie ahnt, wenn das Papier aufgebraucht ist, bedeutet das ihr Ende. Es sind gewissermaßen ihre letzten Aufzeichnungen.«
Auf einmal fröstelte sie.
Rückert runzelte die Stirn. »Du siehst blass aus. Was ist los mit dir?«
Sie holte Luft, war selbst erstaunt, wie rau ihre Stimme klang. »Die Art, wie es geschrieben ist … die arme Frau … ihre letzten Sätze … fieberhaft … rasend vor Angst … Das macht es so authentisch.«
»Aber es ist Fiktion.«
»Wie auch immer. Ich hab gestern den ganzen Tag darin gelesen. Und dann noch die halbe Nacht.«
Der Antiquar untersuchte erneut das sonderbare Buch. Katja lief ein Schauer über den Rücken, als ihr Blick zum wiederholten Male auf die Vorderseite fiel. Es war ein Hardcover, ohne Umschlag, dafür direkt auf dem Einband aufgedruckt ein einziges großes, orangegelbes Auge. Es wölbte sich leicht nach vorn, ein Relief, kunstvoll gefertigt.
Das leuchtende Auge starrte sie direkt an.
Der Hintergrund war schwarz, unter dem Auge prangte der Titel in großen Lettern:
NACHTLAND
Oben war der rätselhafte Verfassername notiert:
NON NOMINATUS
»Sagt dir dieses Pseudonym etwas?«, fragte sie.
Er schüttelte den Kopf. »NONNOMINATUS? Nein.«
»Es ist Lateinisch, oder?«
»Hmm. Heißt übersetzt so viel wie ›nicht benannt‹.« Abermals schlug er das Buch auf. »Keine Angaben zum Verfasser, keine zum Verlag. Nichts zum Publikationsort, kein Copyright, keine Jahreszahl, keine ISBN. Offenbar im Selbstverlag herausgegeben.«
»NONNOMINATUS«, wiederholte sie. Und während sie es aussprach, verspürte sie eine Gänsehaut.
»Ich schau mal im Internet nach«, sagte er.
»Hab ich schon.«
»Und?«
»Nichts gefunden. Rein gar nichts.«
»Dieser Titel … NACHTLAND …?«
»Den gibt es einfach nicht. Er ist nirgendwo aufgeführt.«
Rückert fuhr mit seinen wurstigen Fingern über das Auge. »Jedenfalls hat sich der Autor einen hübschen Aufmacher für seinen Buchdeckel ausgewählt. Leihst du es mir mal aus, wenn du es ausgelesen hast?«
»Klar.«
»Kann ich sonst noch etwas für dich tun?«
»Im Moment nicht, danke.«
»Du wirkst irgendwie mitgenommen.«
»Schon komisch. Gestern Morgen ging es mir besser. Bevor ich das Buch gefunden hab.«
»Ist nur Fiktion, Katja. Thrillerautoren spielen mit den Emotionen ihrer Leser. Du verschlingst doch viele Bücher dieser Art. Müsste dir vertraut sein.«
»Das hier ist anders.«
»Neigst du zur Panik?«
»Eigentlich nicht …«
»Ich glaube, du nimmst das alles viel zu ernst.«
»Kann sein.«
Er gab ihr das Buch zurück. »Pass auf dich auf. Und wie gesagt, ich würde es gerne mal lesen.«
Sie steckte es in ihre Tasche. »Ich komme wieder. Sobald ich damit durch bin.«
»Nett von dir.«
Katja spürte seine Blicke im Rücken, als sie ging.
Auf ihrem Heimweg dämmerte es bereits. Sie lief schnell. Das Gespräch mit Rückert hatte sie beunruhigt. Wer zum Teufel hatte dieses Buch geschrieben? Und warum regte es sie dermaßen auf? Sollte sie es vielleicht lieber wegwerfen? Nein, das wäre zu schade. Sie musste unbedingt wissen, wie es ausging.
Zu Hause legte sie es auf ihren Küchentisch. Während sie mit Kochen beschäftigt war, fühlte sie sich von dem Auge auf dem Einband beobachtet. Es schien ein Eigenleben zu haben.
Nach dem Essen setzte sie sich in ihren Lieblingssessel im Wohnzimmer und las weiter.
Sie war auf den allerletzten Seiten. Die namenlose Icherzählerin spürte ihr Ende nahen. Unruhig ging sie in dem fensterlosen Raum hin und her. Manchmal lauschte sie an der verschlossenen Eisentür, ob sich ihr Mörder näherte. Dann wieder warf sie ein paar Sätze aufs Papier. Die Schrift in dem schmalen Notizbuch, das ihr von ihrem Kidnapper unter dem Türspalt hindurchgeschoben worden war, wurde immer kleiner. Ihre Hoffnung auf Erlösung sank.
Katja blätterte um. Die Buchstaben schienen zu verwischen.
Sie blinzelte.
Nein, es lag nicht daran, dass ihre Augen tränten. Ein paar der Wörter waren wohl tatsächlich durcheinandergeraten. Sie ergaben keinen Sinn. War das ein Druckfehler? An der Stelle hieß es:
Ich muss Papier sparen. Es ist die letzte Seite in diesem Notizbuch. Meine Schrift ist winzig, kaum lesbar. Doch es beruhigt mich ein wenig, den Stift zu führen. Die fahrigen Bewegungen meiner Hand beweisen, dass ich noch am Leben bin.
Ich weiß nicht, ob du überhaupt jemals diese Zeilen lesen wirst. Du. Ja, du. Ich meine dich. Niemand anderen als dich.
Cyl xum tcymn, yiff ch Zchmnylhcn mych.
Ja, du hast richtig gelesen: Cyl xum tcymn, yiff ch Zchmnylhcn mych.
Meine Hand zittert. Die Buchstaben verwischen. Ich glaube, es ist aus.
Gleich ist es vorbei mit mir.
Katja legte die Stirn in...
Erscheint lt. Verlag | 21.9.2022 |
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Reihe/Serie | Ein Fall für Nils Trojan | Ein Fall für Nils Trojan |
Sprache | deutsch |
Themenwelt | Literatur ► Krimi / Thriller / Horror ► Krimi / Thriller |
Schlagworte | 2022 • Berlin • bestsellerliste spiegel aktuell • eBooks • krimi und thriller • Neuerscheinung • Neuerscheinung 2022 • Paperback • Psychothriller • Reihe • Spannung • Thriller • Trojan • Zehnter Band |
ISBN-10 | 3-641-29209-3 / 3641292093 |
ISBN-13 | 978-3-641-29209-6 / 9783641292096 |
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