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Der Roman ist die Form des Teufels (eBook)

Tübinger Vorlesungen
eBook Download: EPUB
2023
128 Seiten
btb Verlag
978-3-641-27089-6 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Der Roman ist die Form des Teufels - Karl Ove Knausgård
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Über das Schreiben eines Romans - und die Verbindung zwischen Himmel und Erde, dem Alltäglichen und dem Fantastischen, dem Göttlichen und dem Teuflischen.
Als Karl Ove Knausgård im Dezember 2019 seine zwei Vorlesungen zur Tübinger Poetik-Dozentur hielt, war sein neuer Roman »Der Morgenstern« noch im Entstehen - wie auch (noch unbemerkt) die Pandemie. Prophetisch und programmatisch mutet an, was er in seiner zweiten Vorlesung vorträgt:

»Lawrence Durell sagte einmal, ein Kunstwerk zu erschaffen, heiße, sich ein Ziel zu setzen und anschließend im Schlaf dorthin zu wandeln. Das habe ich getan, ich habe mir zwei Ziele gesetzt und nun bin ich schlafend auf dem Weg in dieser Richtung.

Bei meinem ersten Ziel geht es um ein Gefühl, das mich seit längerem umtreibt, dass die Zukunft nicht mehr existiert, weil die Jetztzeit uns in Formen vermittelt wird, die so fest sind und so auf Wiederholung basieren, dass das Zukunftsartige an der Zukunft, Ihre Unvorhersehbarkeit, verschwunden ist, ähnlich einem Fluss, der in eine Röhre verlegt wird.

Bei meinem zweiten Ziel geht es darum, dass wir uns von der Natur abgewendet haben.

Wie schreibt man darüber einen Roman?«

Karl Ove Knausgård wurde 1968 geboren und gilt als wichtigster norwegischer Autor der Gegenwart. Die Romane seines sechsbändigen, autobiographischen Projektes wurden weltweit zur Sensation. Sie sind in 35 Sprachen übersetzt und vielfach preisgekrönt. 2015 erhielt Karl Ove Knausgård den WELT-Literaturpreis, 2017 den Österreichischen Staatspreis für Europäische Literatur, 2022 nahm er in Kopenhagen den Hans-Christan-Andersen-Literaturpreis entgegen. Er lebt in London.

IM ERSTEN TEIL der Anweisungen, die ich für diese Vorlesungen bekam, hieß es: »Die beiden Vorlesungen sollten sich mit ›Poetik‹ beschäftigen, also mit der theoretischen Reflexion über grundsätzliche Fragen und Konzepte von Literatur, von literarischen Formen und Genres.«

Obwohl ich Schriftsteller bin und der Beruf des Schriftstellers in meinen Augen in erster Linie eine praktische Angelegenheit ist, begrüßte ich diese Prämisse, als ich sie zum ersten Mal las. Mir gefiel sowohl, dass die Untersuchung theoretisch sein sollte, als auch, dass die Fragen an die Literatur grundsätzlicher Art sein sollten. Mir war, als hätte sich ein alter Freund bei mir gemeldet, denn damals, als ich Ende der achtziger und Anfang der neunziger Jahre Literaturwissenschaft studiert habe, nahm die Theorie eine so starke Position im literaturwissenschaftlichen Milieu ein, dass sie fast wichtiger erschien als die Literatur selbst.

Ich werde nie vergessen, wie ich im Herbst 1992 mit einem Freund den Zug von Bergen über die Berge nach Oslo nahm, um am Vormittag eine Vorlesung des französischen Philosophen Jacques Derrida zu hören und am Abend auf ein Konzert der britischen Band Blur zu gehen. Der Hörsaal war überfüllt, Hunderte, meist junge Menschen hatten sich an diesem kalten, sonnendurchfluteten Herbsttag in der Universitätsaula eingefunden, zu dem Konzert am Abend kamen dagegen kaum mehr als fünfzig Zuhörer. Der Philosoph und die Band waren natürlich identitätsstiftend, ein nicht geringer Teil der Freude daran, sie gesehen zu haben, bestand darin, hinterher in Bergen davon erzählen zu können. Das sagt im Grund alles, was man über uns wissen musste: Wir kannten uns ebenso gut mit französischer Gegenwartsphilosophie und Dekonstruktion aus wie mit jungen, aufstrebenden britischen Bands, waren also nicht nur auf der Höhe unserer Zeit, sondern ihr eventuell sogar ein klein wenig voraus.

Der Fokus auf Theorie beeinflusste uns natürlich auch auf andere Art. Die vielleicht wichtigste Konsequenz bestand darin, dass ein bestimmter Typ modernistischer, experimenteller Literatur bevorzugt und als die beste eingestuft wurde. Häufig waren es Bücher, in denen die Sprache Vorrang hatte, in denen es genauso wichtig, oder wichtiger war, was in der Sprache passierte, als in der Welt, auf die sich die Sprache bezog. Die Verbindung zwischen Sprache und Welt wurde in der Theorie ja sehr problematisiert, was in einem wenn möglich noch höheren Maße für die Verbindung zwischen Werk und Autor galt, sie heranzuziehen galt als regelrecht beschämend. Ich weiß noch, dass in einer Vorlesung über den Realismus gesagt wurde, der Glaube an das Referentielle, also daran, dass die Sprache in gewisser Weise transparent sei, bloß eine Art unsichtbare Membran zwischen dem Leser und der Welt, die der Roman beschreibe, sei banal. Gleichzeitig las ich so und hatte immer so gelesen. Ich sah nicht die Buchstaben in Madame Bovary, nicht die Worte oder Sätze, ich sah den jungen Arzt bei einem Patientenbesuch auf einem ländlichen Gutshof. Charles hieß er, und ich sah die Tochter des Patienten, sie hieß Emma, sie stand mit der Stirn ans Fenster gelehnt und blickte in den Garten hinaus, als er den Raum betrat. Ich sah vor mir, wie sie sich zu ihm umwandte, und hörte sie fragen, ob er nach etwas suche. Meine Reitpeitsche, antwortete er, und ich sah sie nach dieser suchen, ohne dass einer von ihnen etwas sagte, auf dem Bett, unter den Stühlen. Sie fand die Peitsche zwischen der Wand und ein paar Säcken, die auf dem Boden lagen. Als sie sich daraufhin bückte, um sie aufzuheben, noch immer, ohne dass die beiden miteinander gesprochen hatten, und wahrscheinlich erfüllt von dem, was zwischen ihnen war, was dieses Schweigen zum Vorschein brachte, da bückte auch er sich, etwas unbeholfen, und ich sah seine Brust vor mir, die ihr nahe kam, und wie sie errötete, als sie sich aufrichtete und ihm wortlos die Peitsche überreichte.

Aber obwohl ich jegliche Literatur so las, und obwohl ich wegen der Gefühle und Stimmungen las, die sie in mir auslöste, verleugnete ich damals, als Literaturstudent Anfang zwanzig, meine eigenen Neigungen und Vorlieben und stürzte mich mit meinem ganzen Wesen in die Welt der Theorie.

Das ist sicher kein ganz unbekanntes Phänomen, erst recht nicht unter jungen Menschen – die Generation vor der meinen stürzte sich in ganz ähnlicher Weise in die Politik –, sie lasen marxistisch-leninistische und maoistische Schriften und ließen die Ideologie das Leben und dessen Verständnis bestimmen und nicht umgekehrt das Leben und ihr Verständnis davon die Ideologie. Der Unterschied bestand natürlich darin, dass die politische Ideologie auf das Verständnis der Wirklichkeit abfärbte und es bestimmte, während die literaturtheoretische Ideologie nur auf das Verständnis der Literatur abfärbte.

Ich machte damals meine ersten literarischen Gehversuche, schrieb ein paar Erzählungen und begann einen Roman, aber das geschah eher nebenbei und halbherzig. Eigentlich schrieb ich vor allem Literaturkritiken für verschiedene Zeitungen und Zeitschriften. Es ist interessant, darauf zurückzublicken, denn in der Art, wie ein Kritiker über ein Buch schreibt, zeigt sich so viel. Eine Buchbesprechung soll einordnen, analysieren und bewerten. Die Kriterien, anhand derer das geschieht, stehen vorher fest, mit ihnen begegnet ein Kritiker der Literatur. Die Bücher sind natürlich ebenfalls fertig und anhand von ästhetischen Kriterien geschrieben worden, die der Kritiker herausarbeiten und deren Ausführung er beurteilen muss. Die Kriterien des Kritikers analysiert dagegen nur selten jemand. Ich selbst war blind für sie: Ich wusste durchaus, was ich meinte, aber die Frage, warum ich es meinte, stellte sich mir nie. Hätte ich sie mir gestellt, die Antwort hätte eine Poetik gebildet, verstanden als die »Reflexion über grundsätzliche Fragen und Konzepte von Literatur, von literarischen Formen und Genres«. Da diese Poetik weder erkannt noch definiert, aber ganz selbstverständlich gegenwärtig war, muss sie Allgemeingut gewesen sein, also etwas, das der einzelne Literaturinteressierte einfach übernahm, und damit war sie verwandt mit dem, was Roland Barthes eine Doxa nannte. Ich weiß nicht mehr, was ich vor fünfundzwanzig Jahren dachte, aber einige der Prämissen für die Urteile, die ich über die besprochenen Romane fällte, liegen auf der Hand. Sie sollten vor allem originell sein, und sie sollten das Genre in Frage stellen, zu dem sie gehörten, im Idealfall seine Grenzen überschreiten. Die Prosa sollte »Widerstand leisten«, sollte nicht glatt und fließend sein, und sie sollte möglichst etwas enthalten, was man in den Neunzigern »Brüche« nannte. Die Romane sollten ihre Einsichten entweder untergründig vermitteln, denn das Schlimmste waren Erklärungen und Psychologisierungen, oder sie so stark überzeichnen, dass sie in etwas anderes überschlugen.

Meine Ideale in der norwegischen Literatur damals, auf die sämtliche Punkte zutrafen, gehörten alle einer Generation an und waren ausnahmslos Männer. Jon Fosse, Tor Ulven, Svein Jarvoll, Ole Robert Sunde und Thure Erik Lund. Hinzu kam der Erzähler und Superminimalist Kjell Askildsen, der zur vorherigen Generation zählte: Die Hälfte von Norwegens Erzählern versuchte zu schreiben wie er.

Was mir jetzt ins Auge springt und wirklich auffällt, ist der Gegensatz zwischen dem Begriff »originell« und der behaglichen Sicherheit, die einem die Poetiken dieser Autoren vermittelten. Wenn dann ein Buch erschien, das keinem der anderen glich, die damals herauskamen, zum Beispiel Kaj Skagens Hodeskallestedet (Der Schädelort), verriss ich es schonungslos. Dass es originell war, was ich sonst doch so schätzte, kam mir niemals in den Sinn, weil es nicht auf die richtige, also spätmodernistische Art originell war. Originalität kann für mich also nichts anderes bedeutet haben, als das Erfüllen bestimmter Erwartungen, ähnlich wie »Bruch« ein leerer Begriff war, denn was geschieht, wenn der Bruch erwartet wird – es sollte doch gerade mit den Erwartungen gebrochen werden. Auch der Begriff Widerstand wird sinnentleert, wenn er es ist, der vorherrscht. Das soll die Bücher der genannten Autoren keineswegs herabwürdigen – Tor Ulven, Jon Fosse und Thure Erik Lund haben Bücher geschrieben, die ihren festen Platz in der modernen norwegischen Literaturgeschichte einnehmen, und hätte Lund auf Englisch geschrieben, würde dies für seine Bücher auch in der restlichen Welt gelten. Nein, es ist eine Herabwürdigung meines damaligen Literaturverständnisses. Ich erwähne das allerdings nicht, um mich selbst schlechtzureden, sondern weil ich zeigen möchte, dass »Poetik« keine aktive Größe, kein Ergebnis einer bewussten Wahl und einer durchdachten literarischen Strategie sein muss, sondern auch eine passive, nicht anerkannte und manchmal auch unbekannte Größe sein kann, verbunden mit anderen, aber ebenso anerkannten Idealen, für die man nicht selten ähnlich blind ist, da sie Teil der Art sind, wie wir die Welt sehen, wodurch sie uns selbstverständlich erscheinen.

Das heißt auch, dass ich ein erbärmlicher Leser der Theorie war, die mich umgab und der es damals ja gerade darum ging, die Strukturen sichtbar zu machen, die ansonsten unsichtbar waren, verschwunden im Klammergriff der Konventionen um das Verständnis und die blinden Flecken des Lesens. Darum ging es in Derridas Kritik des Logozentrismus, in Foucaults Die Ordnung der Dinge, in Barthes’ Mythen des Alltags und in Kristevas Untersuchungen zu den nicht bedeutungstragenden Teilen der Sprache.

Doch die Theorie...

Erscheint lt. Verlag 15.2.2023
Übersetzer Paul Berf
Sprache deutsch
Original-Titel Tübingen Lectures
Themenwelt Literatur Essays / Feuilleton
Schlagworte 2023 • Buch schreiben • eBooks • Neuerscheinung • Schriftsteller • Tübinger Poetik-Dozentur
ISBN-10 3-641-27089-8 / 3641270898
ISBN-13 978-3-641-27089-6 / 9783641270896
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