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Baumstämme im Schnee -  Wolf Eismann

Baumstämme im Schnee (eBook)

Roman

(Autor)

eBook Download: EPUB
2022 | 1. Auflage
168 Seiten
Books on Demand (Verlag)
978-3-7557-5064-2 (ISBN)
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Der Erzähler hat mit seinem Lebensgefährten Simon die Großstadt hinter sich gelassen, um auf dem Land mit Freundin Hannah ein Kulturhaus zu leiten. Sie organisieren Ausstellungen, buchen Abende mit Kabarett oder Kammermusik und inszenieren auch mal selbst kleine Theater-Events. Bei der örtlichen Presse stoßen sie auf Desinteresse, dem durchaus interessierten Publikum sind die kulturellen Angebote oft ein wenig zu avantgardistisch, und die Künstler sorgen mit ihren Allüren dafür, dass es nie langweilig wird. Simon, der nur widerwillig das Großstadtleben hinter sich gelassen hat, wähnt sich auf dem Abstellgleis. Hannah verliebt sich in einen jungen Cellisten und wittert ihre Chance auf die große weite Welt. Die Kultur hat es in der Provinz nicht leicht... "Wie schaffen Sie es immer nur, diese wunderbaren Künstler in unsere kleine Stadt zu holen?", fragt mich eine ältere Dame, die regelmäßig unsere Kammermusikabende besucht. "Eines kann ich Ihnen versichern", antworte ich mit einem freundlichen Lächeln: "Sie kommen freiwillig."

Wolf Eismann ist Autor und Journalist. Seit 1995 schreibt und produziert er Features und Hörspiele für die ARD. Seit 2011 leitet er zudem ein Kulturhaus in einer Kleinstadt nördlich von Hamburg.

1


„Darf man stören?“

Während ich in der Galerie an meinem Schreibtisch sitze und über die Grenzen meiner Originalität spekuliere, steht plötzlich Torben Leander in der Eingangstür.

„Ich denke gerade über das Thema unserer diesjährigen Gruppenausstellung nach“, entgegne ich ihm.

Torben ist einer meiner kreativen Schützlinge. Mitte dreißig. In seiner künstlerischen Arbeit stets bemüht kontrovers, immer mit einem leichten Hang zur Verzweiflung.

„Deshalb bin ich hier“, erklärt er mit jovialem Unterton. „Ich habe eine großartige Idee für eine neue Arbeit.“

Mit einer Mischung aus Unmut und Neugier drehe ich mich zu ihm um.

„Mit Helium gefüllte geometrische Figuren. Kegel, Quader ...“, fährt er aufgeregt fort. „Wie Ballons. Aus Polyester oder so. Und sie stecken in Käfigen, die von der Decke herabhängen.“

„Wie gesagt: Ich denke gerade darüber nach ...“

„Wie wäre es denn mit Luftgeister?“

Seit vier Jahren leite ich in einer Kleinstadt nördlich von Hamburg mit meiner langjährigen Freundin Hannah ein Kulturhaus. Kulturwerk, wie wir es nennen. Um die Veranstaltungen – Comedy, Kabarett, musikalische Abende und kleinere Theaterproduktionen – kümmern wir uns gemeinsam. Für die integrierte Galerie mit zeitgenössischer Kunst bin ich allein verantwortlich. Hier widme ich mich mehr oder weniger jungen, bislang vom Kunstmarkt wenig beachteten Künstlern, die ich in regelmäßigem Wechsel in Einzelausstellungen präsentiere. Hannah macht sich nichts aus Kunst, freut sich aber über die immer wieder neuen Bilder an den sonst nackten Wänden unseres Hauses. Für sie nicht mehr als Dekoration, für mich eine Herzensangelegenheit.

Unser Kulturwerk liegt wie eine Insel zwischen Kneipen, Supermärkten und Spielotheken. Ein restaurierter Altbau, 200 Quadratmeter mit hohen Decken, Parkettfußboden und einer breiten Fensterfront. Der große Raum im Zentrum des Gebäudes ist gleichzeitig unser Veranstaltungssaal mit improvisierter Bühne und Platz für 50 Zuschauer. Ein paar kultur– und kunstinteressierte Menschen gibt es überall. Selbst in der Provinz. Immer neugierig, manchmal dankbar, strömen sie regelmäßig auch aus den benachbarten Orten herbei, um sich von uns überraschen zu lassen.

Zum Ende eines jeden Jahres organisiere ich in der Galerie eine Gruppenausstellung, an der sich alle Künstler beteiligen können, die schon mal hier ausgestellt haben. Einzige Bedingung: Sie müssen sich an das Thema halten, das ich vorgebe.

In den vergangenen Jahren habe ich mit originellen Themen aufwarten können: Misstraue der Idylle, Das Wandern der Schatten, Spukhafte Fernwirkung, Kontrolliertes Delirium. Und in diesem Jahr? Es ist nicht einfach, sich immer wieder selbst zu übertreffen. Und wenn ich den Weihnachtstagen mit einem mulmigen Gefühl entgegensehe, dann genau deshalb: Ich will nicht vor mir selbst kapitulieren müssen und womöglich bei einem Motto landen wie Begegnungen. Auch so etwas wie Fundstücke kommt überhaupt nicht in Frage.

„Warum muss das immer so verkrampft originell sein bei dir?“, fragt Torben und sieht mich etwas konsterniert an.

„Wie meinst du das?“

„Na ja, warum machst du nicht einfach mal eine dieser normalen Weihnachtsausstellungen? Machen in den Metropolen doch viele Galerien zum Jahresende. Kleine, feine Arbeiten, etwas gefälliger als üblich. Und vor allem preisgünstiger. Zum Mitnehmen. Die Leute sind jetzt alle auf der Suche nach Geschenken.“

„Etwas gefälliger?“ frage ich ihn. „Das sagst ausgerechnet du?“

„Man will ja auch mal was verkaufen“, murmelt er.

Ich muss an Lisa denken, auch eine Künstlerin der Galerie. Sie hat sich auf Skulpturen aus Keramik spezialisiert. Menschliche Körperteile, leicht surreal verfremdet: Ineinander verschlungene Hände, ausgebreitete Arme, ausgehöhlte Füße. Skurrile Objekte, die ihr schon einige Kunstpreise eingebracht haben. Viel Anerkennung, aber kein Geld. Vor einiger Zeit hat sie deshalb begonnen, kleinere Keramikobjekte in Serie herzustellen. Zeigefinger, in Schachteln verpackt. Dutzende von Zeigefingern in Dutzenden von kleinen Schachteln. Im Vergleich sehr preisgünstig. Und immer noch Kunst.

„Das will ich nicht“, sage ich zu Torben.

„Was willst du nicht? Du willst nichts verkaufen?“

„Natürlich will ich verkaufen. Aber ich will nicht das, was alle machen.“

„Ich habe mich schon oft gefragt, wie ihr das hier finanziell überhaupt stemmt.“

„Hannah hat ihre Werbeagentur verkauft, und ich habe geerbt.“

„Tja, man muss es sich eben leisten können, den Mainstream zu ignorieren“, kommentiert Torben.

„Ach was! Wir haben schon während des Studiums zusammen für eine Studentenzeitung gearbeitet. In Berlin haben wir die ersten Stars der deutschen Comedy-Szene interviewt, aber auch Hausbesetzer und Schwulen-Aktivisten. Das war eine tolle Zeit, damals. Es ist, als hätten wir uns schon immer gekannt.“

„Vielleicht ist das euer Problem“, entgegnet Torben.

„Und deine in Käfigen eingesperrten Luftballons erinnern mich an Jahrmarkt“, kontere ich trotzig. „Bestenfalls an Disneyland.“

Torben winkt beleidigt ab, dreht mir den Rücken zu und verlässt die Galerie ohne ein weiteres Wort.

Am Abend erwartet mich Simon zu einem opulenten Drei-Gänge-Menü. Wir feiern unser verflixtes 7. Jahr, und da Simon wahnsinnig gern die gemeinsame Küche für die Herstellung ausgefallener kulinarischer Kreationen nutzt, die in der Regel mit einem Experiment beginnen und in einer Katastrophe enden, ist er stets beglückt, wenn sich dazu eine passende Gelegenheit bietet. Er backt und brutzelt eben gern.

Als ich mich vor vier Jahren entschlossen hatte, an diesem Ort gemeinsam mit Hannah ein Kulturhaus zu etablieren, ist mir Simon eher widerwillig aus der Großstadt in die Provinz gefolgt. Aber wir haben hier ein hübsches Häuschen gefunden, in dem sich Simon sogar ein Atelier einrichten konnte. Seit ich die Galerie besitze, hat er wieder angefangen zu malen. Er verfügt durchaus über Talent, wovon ich ihn mühsam überzeugen musste. Und ich habe ihm versprochen, im Lauf des kommenden Jahres eine Ausstellung mit seinen Arbeiten zu organisieren.

„Als Vorspeise gibt es kleine Tannenbäume“, kündigt er freudestrahlend an, während ich mich an den von ihm wie gewohnt liebevoll gedeckten Tisch setze.

„Mit echten Kerzen?“, frage ich.

Simon lacht. „Ich will dich schon mal ein bisschen in Weihnachtsstimmung bringen.“

„Etwas früh, findest du nicht? – Aber die Dinger sehen wirklich aus wie kleine Tannenbäume“, staune ich, als Simon die Teller hereinbringt.

„Das ist Tomate mit Avocado und Granatapfelkernen. Alles kleingeschnitten, mit Olivenöl und Senf vermengt und zu kleinen Kegeln geformt.“

„Mit Tannenzweigen obendrauf?!“

„Das ist Dill.“

Simon setzt sich zu mir, und wir stoßen mit einem Glas Prosecco an.

„Was macht die Galerie?“, fragt er, während er seinen Tannenbaum plündert.

„Torben war heute kurz da.“

„Hat er wieder genervt?“

„Nein“, sage ich. „Es war in Ordnung. Ich quäle mich eher mit dem Thema für die Gruppenausstellung.“

„Wie jedes Jahr. Immer wenn wir unseren Jahrestag feiern, ringst du andernorts um Originalität.“

„Falsch!“, sage ich. „Ich ringe immer um Originalität.“

„Stimmt.“

„Einer meiner Schwächen.“

Ein paar Tage später glaube ich, endlich eine Idee für die Gruppenausstellung gefunden zu haben. Simon hat mir zum Jahrestag eine neue Einspielung von Schuberts Winterreise geschenkt. Wenn das nicht passt, dachte ich. Winterreise! Die Tage sind kurz, die Bäume kahl, es ist trüb und kalt, manch einer versinkt da in Melancholie. Genau wie der Mann in Schuberts Liederzyklus. Die Geliebte hat ihn verschmäht, nun gibt es nichts mehr, was ihn halten könnte. Nachts bricht er auf, entflieht der Stadt, will alles hinter sich lassen. Es fällt ihm nicht leicht: Immer wieder blickt er zurück und schwelgt in Erinnerungen an glücklichere Tage. Die winterliche Landschaft wird ihm zum Spiegelbild.

Winterreise. Das klingt im ersten Moment nicht so originell wie Das Wandern der Schatten, aber die Assoziationen zur Seelenmusik Schuberts sollten eine spannende künstlerische Auseinandersetzung ermöglichen.

Fantasie einzufordern ist immer ein Wagnis. Doch mit der festen Absicht, meine Künstlerinnen und Künstler auf inspirierende Spaziergänge durch die Landstriche ihrer Emotionen zu schicken, fahre ich am Nachmittag in die Galerie...

Erscheint lt. Verlag 24.2.2022
Sprache deutsch
Themenwelt Literatur Comic / Humor / Manga
ISBN-10 3-7557-5064-3 / 3755750643
ISBN-13 978-3-7557-5064-2 / 9783755750642
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