WISMAR-MORDE (eBook)
728 Seiten
tolino media (Verlag)
978-3-7546-4422-5 (ISBN)
Der Autor wurde in Schleswig-Holstein geboren, machte sein Abitur in Hamburg und studierte an der Freien Universität in Berlin Kommunikationswissenschaften und Soziologie. Zwanzig Jahre arbeitete er als freier Journalist für diverse Fernsehsender. In seiner zeitweiligen Wahlheimat Mecklenburg-Vorpommern entstand eine satirische Roman-Tetralogie um Kommissar Ole Hansen und der berühmten Wismarer Kommandantur. Ab 2016 wechselte er die Gattung und publiziert moderne Erzählungen und Kurzgeschichten.
Der Autor wurde in Schleswig-Holstein geboren, machte sein Abitur in Hamburg und studierte an der Freien Universität in Berlin Kommunikationswissenschaften und Soziologie. Zwanzig Jahre arbeitete er als freier Journalist für diverse Fernsehsender. In seiner zeitweiligen Wahlheimat Mecklenburg-Vorpommern entstand eine satirische Roman-Tetralogie um Kommissar Ole Hansen und der berühmten Wismarer Kommandantur. Ab 2016 wechselte er die Gattung und publiziert moderne Erzählungen und Kurzgeschichten.
1
Donnerstag, den 21. Mai
Es war morgens kurz vor halb acht, als Lotte Nannsen in den Alten Hafen schlurfte, um ihren Kutter aufzusperren. Heute wollte sie ausnahmsweise etwas früher Klarschiff machen, weil zu Himmelfahrt das Geschäft mit Fischbrötchen brummte. Das lag zwar weniger am kirchlichen Feier-, als vielmehr am gleichzeitigen Herren- oder Vatertag, aber für eine Fischverkäuferin war das unerheblich. Der Unterschied zu sonst: Die Männer mit den Bollerwagen kamen früh, der Rest der Familien meist erst gegen Mittag.
Später gab sie zu Protokoll, dass sie schon aus der Ferne verwundert gewesen sei, dass das obligatorische Willkommensgeschwader der Wismarer Seemöwen fehlte. Die treuen Vögel saßen sonst in Reih und Glied und in aller Stille auf dem Dach ihrer Kajüte und linsten gelassen der Lotte entgegen, um sie dann mit einem heiseren Krächzen und einer kleinen Ehrenflugrunde in vertrauter Art zu begrüßen.
Heute Morgen jedoch störte ein massives, vielfach aufgeregtes, kehliges Geschrei, begleitet von heftigstem Flügelschlagen irgendwo hinter der Backbordwand des Fischkutters, die Ruhe des gemütlichen Hafens und der fünfundsechzigjährigen Lotte Nannsen. Rund um ihr Boot öffnete die rüstige Mecklenburgerin mit Schwung die schweren Regenplanen und guckte über die Reling, wo sie den Grund für das Gezeter vermutete.
Der Anblick war nichts für schwache Nerven. Im Brackwasser der Ostsee dümpelte ein Kopf, der bei leichtem Seegang mit stetigem Klopfen gegen die Außenwand des Kutters bollerte. Die Seemöwen machten sich zeternd und balgend an ihm zu schaffen, sie hatten den Morgen über ganze Arbeit geleistet. Die Physiognomie war grotesk zerpickt.
Mit drei gezielten Schüssen in die Luft mussten Oberkommissar Hansen und ich die Biester erst einmal verjagen, bevor wir uns jetzt mit Lotte Nannsen gemeinsam über Backbord beugten und staunten. Tatsächlich, ein Menschenkopf!
Oder das, was von ihm übrig geblieben war. Aufgedunsen und bleich, mit mächtig zerpflückten Hautflächen. Das rechte Sehorgan fehlte komplett, ein bisschen Glibber mit Seewasser schwappte am Grund der Augenhöhle. Das linke sah man nicht sofort, da eine schwarze Filzklappe über eben jenem vermutlich unversehrten Auge mit einem elastischen Band befestigt war. Aus dem langen, lasch herabhängenden Hals hingen noch längere weiße Venen- und Fleischfäden heraus. Keine Frage: der Kopf eines männlichen Individuums.
»Das ist Quatsch!«, knurrte Hansen jetzt. »Denken Sie mal logisch, Kubsch!«
»Was ist Quatsch, Chef?«, fragte ich irritiert zurück.
»Das mit dem linken unversehrten Auge.«
Wo er recht hat, hat er recht. Die Augenklappe war ein untrügliches Zeichen dafür, dass vermutlich auch mit dem anderen Sehorgan irgendetwas nicht stimmen konnte. Unwillkürlich fummelte ich etwas verlegen an meiner Brille herum.
»Aber davon mal abgesehen, tut das jetzt auch nichts zur Sache.«
Mein Chef war kein Freund vieler Worte, vor allem dann nicht, wenn die Arbeit rief. Lotte war da anders, die war stadtbekannt für ihre plattdeutschen Weisheiten. Sie hievte drei Kisten fangfrischen Fisch, die an der Kaimauer geduldig auf sie gewartet hatten, auf ihren Kahn.
»De Jung ward nich mihr ut keen kieken können.«
Für das Protokoll war die Bemerkung unerheblich, dennoch wollte ich jede weitere wesentliche Aussage aus Gründen des besseren Verständnisses gleich auf Hochdeutsch in meinen Klappblock notieren.
Zwei Kollegen von der Spurensicherung rückten an. Mit langen Stangen, an deren Enden in der Morgensonne Metallhaken glänzten, versuchten sie den Kopf, der jetzt wie ein Fußball im Wasser unberechenbar herumdriftete, aus dem Hafenbecken zu fischen.
»Da stimmt was nicht!«
Hansen beobachtete die ungeschickten Bemühungen unserer Kollegen.
»Klar«, ergänzte ich selbstsicher, »da fehlt der Rest.«
Der Rumpf schien unsauber abgetrennt, aber auch nach einem ersten gewissenhaften Suchen war er bislang nirgends im Hafenbecken und näheren Umfeld der Segelboote oder Fischkutter aufgefunden worden.
»Das mein ich nicht«, entgegnete er kühl und fügte nach einem kurzen Moment des Nachdenkens erklärend hinzu: »Der Kopf schwimmt oben! Das kann nicht sein.«
Hansen grübelte, ich auch.
Wasserleichen waren für die Wismarer Polizei keine Seltenheit. Die Ostsee konnte ganz schön ungemütlich werden, in einer Hafen- und Küstenregion, in der sich Fischer, Segler und Touristen tummeln, gehörten Seeunglücke fast schon zum traurigen Alltag. Es verging kaum ein Jahr ohne verunglückten Seemann beziehungsweise Badegast.
Fand man die Leiche nicht sofort, sogen sich die Lungen voll Salzwasser, und der Tote ging nach allen Regeln der Physik kurze Zeit später unter. Vorausgesetzt, dass er sich nicht im Seetang oder Fischernetz verhedderte, kehrte der Körper dann nach etwa drei Tagen wieder an die Wasseroberfläche zurück. Durch den Verwesungsprozess entstanden Fäulnisgase, die die Leiche aufblähten und nach oben trieben.
Aber so eine Wasserleiche schwamm nicht ewig. Nach drei bis vier Wochen war die Haut so vollgesogen mit Flüssigkeit, dass der Leichnam fast das Doppelte an Masse hatte, dann sank er aufgrund seines Gewichts zum letzten Mal und endgültig auf den Grund des Meeres. Der Tote wurde langsam zu Modder und war dann irgendwann ganz weg.
Das Ganze funktionierte nur auf der Basis eines geschlossenen Systems. Davon konnte man bei einem einzelnen Kopf natürlich nicht sprechen.
Die beiden Kollegen von der Spurensicherung hatten endlich Erfolg und balancierten den Schädel zwischen zwei Stangen von der Wasseroberfläche in ein Auffangnetz und kippten ihn von dort kullernd auf eine schwarze Plastikplane, die man vorausschauend an der Kaimauer ausgelegt hatte.
Neben Lotte, der Fischbrötchenverkäuferin, versammelten sich die ersten neugierigen Schaulustigen, die an diesem Feiertag sehr früh den Weg zum Hafen gesucht und gefunden hatten. Nun standen sie auf ihrem morgendlichen Spaziergang im angemessenen Abstand um einen Leichenkopf herum.
Ich war zwar schon seit fünf Jahren bei der Polizei, davon zwei Jahre als Kriminalassistent bei der Kripo Wismar, als sogar ein Serienmörder monatelang in der Altstadt sein Unwesen getrieben hatte, aber so ein Totenschädel war auch für mich ein gruseliger Anblick.
»Kennt den jemand?«, fragte ich in die Runde.
Die meisten glotzten entsetzt und schüttelten nur ihren eigenen, ohne den Blick von dem aufgedunsenen, zerfledderten Kopf abzuwenden.
Hansen kniete jetzt auf der Plane und begutachtete den Schädel genauer. Dazu benutzte der Kommissar einen Bleistift, mit dem er hier und da in den Öffnungen des Kopfes herumpulte.
»Da haben wir ja das Corpus Delicti.«
Hansen zog mit dem Stift ein Stück weißen Kunststoff aus dem offenen Hals. Keine Ahnung, ob die Gerichtsmediziner im Labor das gern gesehen hätten, aber eines musste man ihm lassen, den richtigen Riecher für das Lösen rätselhafter Phänomene hatte Hansen wie kein Zweiter.
Die Plastiktüte (denn als solches erwies sich der Kunststoff) verstopfte den Zugang in die Kopfhöhle, sodass weder Wasser eindringen noch die Verwesungsgase aus dem Hirnbereich austreten konnten, vermutete ich. Das entstandene Vakuum zwischen Schädeldecke und künstlichem Pfropfen füllte sich mit fauligem Gas und ließ den Kopf auf der Meeresoberfläche tanzen.
»Sieht fast aus wie ‘ne Qualle.«
Das war einmal mehr Lotte, die nahm nie ein Blatt vor den Mund, sie band sich gerade eine alte Küchenschürze um. Fast jeder kannte und mochte die Nannsen vor allem wegen ihrer exquisiten Fischbrötchen, die waren nicht nur hier unten am Pier des Alten Hafens konkurrenzlos, die hatten mittlerweile einen Ruf weit über die Grenzen der Hansestadt hinaus.
»Wenn du nur lang genug auf die See schaust«, fabulierte Lotte (im Original natürlich auf Plattdeutsch) mit schlauer Zunge zwischen ihrer großen Zahnlücke hindurch, »dann schwimmen irgendwann die Leichen deiner Feinde an dir vorbei.«
Ich schrieb das auf, verstand es aber nur ungefähr. Auch Hansen guckte, als sei das Chinesisch gewesen.
»Was meinst du damit, Lotte?«
»Altes Mecklenburger Sprichwort!«
Sie grinste und kratzte sich am Kopf.
»Kennst du vielleicht den… den Namen zum Kopf?«
»Nö, kenn ich nicht. Aber die Piratenbinde spricht Bände.«
»Die was?«
»Na, die olle schwatte Klüsenklappe!«
»Wieso?«, entfuhr es mir.
»Na, das ist einer von den Störtebeker Söhnen!«
»Die wer?«
Hansen wurde neugierig, er kletterte mit Lotte und mir im Schlepptau zurück auf ihren Kahn und wies mich an, alles Weitere aufs Genaueste zu protokollieren. Hätte der Chef gar nicht so betonen müssen, das war selbstredend.
Lotte Nannsen begann mit einem kleinen scharfen Messer flink und routiniert ihren Frischfisch zu schuppen und auszunehmen.
Sie hätte schon öfter und meistens weiter unten am Kai eine über die Monate wachsende Gruppe von jungen Männern beobachtet, die allein dadurch auffielen, dass sie ausstaffiert seien wie die Seeräuber.
»Ein gutes Dutzend sind das«, ergänzte sie mit dem Küchenmesser in der Luft nachzählend.
»Und das ist kein Seemannsgarn?«, fragte Hansen ungläubig.
»Wo denkst du hin, Olaf. Hab...
Erscheint lt. Verlag | 1.4.2022 |
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Verlagsort | München |
Sprache | deutsch |
Themenwelt | Literatur ► Krimi / Thriller / Horror ► Krimi / Thriller |
Schlagworte | Altenpflege • Fußball • Krimi • Lottofieber • Mecklenburg-Vorpommern • Ostsee • Piraten • Spannung • Störtebeker • Thriller • Wettbetrug |
ISBN-10 | 3-7546-4422-X / 375464422X |
ISBN-13 | 978-3-7546-4422-5 / 9783754644225 |
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