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Die Familie Selicke. Drama in drei Aufzügen (eBook)

Holz, Arno; Schlaf, Johannes - Deutsch-Lektüre, Deutsche Klassiker der Literatur - 19655
eBook Download: EPUB
2021 | 1. Auflage
116 Seiten
Reclam Verlag
978-3-15-961977-4 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Die Familie Selicke. Drama in drei Aufzügen -  Arno Holz,  Johannes Schlaf
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Mit schonungslosem Blick beschreiben Arno Holz und Johannes Schlaf in ihrem Stück die ökonomische Verelendung und Bindungslosigkeit einer Berliner Kleinbürgerfamilie. Seit seiner Uraufführung im Jahr 1890 gilt das Drama des Autorenduos als Mustertext des Naturalismus. Hier kommen Verfahrenstechniken und Schreibweisen zur Anwendung, die Theodor Fontane bewundernd als dramatisches »Neuland« bezeichnete. Die Ausgabe enthält Anmerkungen und ein neues Nachwort. E-Book mit Seitenzählung der gedruckten Ausgabe: Buch und E-Book können parallel benutzt werden.

Ingo Stöckmann ist Professor für Neuere deutsche Literaturwissenschaft an der Universität Bonn.

Ingo Stöckmann ist Professor für Neuere deutsche Literaturwissenschaft an der Universität Bonn.

Die Familie Selicke

Anhang
Zu dieser Ausgabe
Anmerkungen
Literaturhinweise
Nachwort

[7]Erster Aufzug


Das Wohnzimmer der Familie Selicke.

Es ist mäßig groß und sehr bescheiden eingerichtet. Im Vordergrunde rechts führt eine Tür in den Korridor, im Vordergrunde links eine in das Zimmer Wendts. Etwas weiter hinter dieser eine Küchentür mit Glasfenstern und Zwirngardinen. Die Rückwand nimmt ein altes, schwerfälliges, großgeblumtes Sofa ein, über welchem zwischen zwei kleinen, vergilbten Gipsstatuetten »Schiller und Goethe« der bekannte Kaulbach’sche Stahlstich »Lotte, Brot schneidend« hängt. Darunter im Halbkranze, symmetrisch angeordnet, eine Anzahl photographischer Familienporträts. Vor dem Sofa ein ovaler Tisch, auf welchem zwischen allerhand Kaffeegeschirr eine brennende weiße Glaslampe mit grünem Schirm steht. Rechts von ihm ein Fenster, links von ihm eine kleine Tapetentür, die in eine Kammer führt. Außerdem noch, zwischen den beiden Türen an der linken Seitenwand, ein Tischchen mit einem Kanarienvogel, über welchem ein Regulator tickt, und, hinten an der rechten Seitenwand, ein Bett, dessen Kopfende, dem Zuschauerraum zunächst, durch einen Wandschirm verdeckt wird. Über ihm zwei große, alte Lithographien in fingerdünnem Goldrahmen, der alte Kaiser und Bismarck. Am Fußende des Bettes, neben dem Fenster, schließlich noch ein kleines Nachttischchen mit Medizinflaschen. Zwischen Kammer- und Küchentür ein Ofen; Stühle.

 

Frau Selicke, etwas ältlich, vergrämt, sitzt vor dem Bett und strickt. Abgetragene Kleidung, lila Seelenwärmer, Hornbrille auf der Nase, ab und zu ein wenig fröstelnd. Pause.

 

[8]FRAU SELICKE (seufzend). Ach Gott ja!

WALTER (noch hinter der Szene, in der Kammer). Mamchen?!

FRAU SELICKE (hat in Gedanken ihren Strickstrumpf fallen lassen, zieht ihr Taschentuch halb aus der Tasche, bückt sich drüber und schnäuzt sich).

WALTER (steckt den Kopf durch die Kammertür. Pausbacken, Pudelmütze, rote, gestrickte Fausthandschuhe). Mamchen? Darf ich mir noch schnell ’ne Stulle schneiden?

FRAU SELICKE (ist zusammengefahren). Ach, geh, du ungezogner Junge! Erschrick einen doch nich immer so! (Ist aufgestanden und an den Tisch getreten.) Kannst du denn auch gar nich ’n bisschen Rücksicht nehmen?! Siehst du denn nich, dass das Kind krank ist?

WALTER (ist unterdessen aufs Sofa geklettert und trinkt nun nacheinander die verschiedenen Kaffeereste aus. Den Zucker holt er sich mit dem Löffel extra raus). Aber ich hab doch noch solchen Hunger, Mamchen?

ALBERT (ebenfalls noch hinter der Szene, in der Kammer, deren Tür jetzt weit aufsteht. Man sieht ihn vor einer kleinen Spiegelkommode, auf der ein Licht brennt. Knüpft sich grade seine Krawatte um. Hemdärmel). Ach was, Mutter! Jieb ihm lieber ’n Katzenkopp un denn is jut!

FRAU SELICKE (die jetzt Walter die Stulle schneidet). Na, du, Großer, sei doch man schon ganz still! Du verdienst ja noch alle Tage welche! Ich denk, ihr seid überhaupt schon lange weg?

ALBERT (ärgerlich). Ja doch! Gleich! Aber ich wer’ mir doch wohl noch erst den Rock abbürschten können?

FRAU SELICKE. Na ja, gewiss doch! Steh du man immer recht vorm Spiegel und vertrödle recht viel Zeit! Da [9]werd’t ihr ja euern lieben Vater sicher noch finden! Der wird heute grade noch auf ’m Kontor sitzen!

ALBERT. Ach Jott! Nu tu doch man nicht wieder so! Vor sechs kann er ja doch heute sowieso nich aus ’m Geschäft!

FRAU SELICKE. So! Na! Und wie spät denkste denn, dass es jetz’ is? (Hat während des Streichens der Stulle einen Augenblick innegehalten, den Schirm von der Lampe gerückt, die Brille auf die Stirn gerückt und nach dem Regulator gesehen.) Jetz’ is gleich drei Viertel!

ALBERT. Ach, Unsinn? Die jeht ja vor!

FRAU SELICKE (für sich, fast weinend). Hach nee! Ich sag schon! Sicher is er nu wieder weg, und vor morgen früh wer’n wir ’n ja dann natürlich nich wieder zu sehn kriegen! Nein, so ein Mann! So ein Mann! …

ALBERT (noch immer in der Kammer und vorm Spiegel). Hurrjott, Mutter! Räsonier doch nicht immer so! Du weißt ja noch gar nich!

FRAU SELICKE. Ach was! Lass mich zufrieden! Beruf mich nich immer! Ich weiß schon, was ich weiß! (Unwirsch zu Walter.) Da – haste! Klapp se dir zusammen und dann macht, dass ihr endlich fortkommt! Aus euch wird auch nischt!

(Es klingelt.)

(Einen Augenblick lang horchen beide. Frau Selicke ist zusammengefahren, Walter starrt, die Stulle in der Hand, mit offenem Munde über die Lampe weg nach der Tür, die ins Entree führt.)

FRAU SELICKE (endlich). Na? Machste nu auf, oder nich?

(Walter hat die Stulle liegen lassen und läuft auf die Tür zu. Er klinkt diese auf und verschwindet im Entree.)

[10]ALBERT (der eben aus der Kammer getreten ist, in der er das Licht ausgelöscht hat. Zieht sich noch gerade seinen Überzieher an. Aus der Brusttasche stecken Glacés, zwischen den Zähnen hält er eine brennende Zigarette, an einem breiten, schwarzen Bande baumelt ihm ein Kneifer herab. Modern gescheitelt. Hut und Stöckchen hat er einstweilen auf den Stuhl neben dem Sofa platziert. Zu Frau Selicke, indem er mit dem Fuße die Tür hinter sich zudrückt). Nanu? Das kann doch unmöglich schon der Vater sein?

FRAU SELICKE (die sich wieder mit dem Kaffeegeschirr zu tun macht, unruhig). Ach wo!

(Unterdessen ist draußen die Flurtür aufgegangen, und man hört die Stimme des alten Kopelke: »Brrr … is det heit ’n Schweinewetter!?« – Die Tür klappt wieder zu, und jetzt schreit Walter laut auf, ausgelassen: »Ach! Olle Kopelke! Olle Kopelke!« – »Nich doch, Kind, nich doch; du tust mir ja weh! Du drickst mir ja! Du musst doch abber ooch heern! Da – nimm mir mal lieber hier ’n bissken det Menneken ab! … Brrr … nee … äh!«)

ALBERT (zu Frau Selicke, sich die Handschuhe zuknöpfend).

Ach, der alte Quacksalber?!

FRAU SELICKE. Na, du Großmaul, wirst doch nich immer gleich das Geld geb’n für ’n Dokter!

ALBERT (aufgebracht). Ach, Blech! Nich wahr? Nu fang wieder davon an! …

WALTER (noch halb im Entree). Au, Mamchen, sieh mal! ’n Hampelmann! Mamchen, ’n Hampelmann! (Er kommt mit ihm ins Zimmer getanzt. Zum alten Kopelke zurück.) Wah? Den schenken Se mir?

KOPELKE (behutsam hinter ihm drein. Klein, kugelrund, [11]freundlich. Vollmondsgesicht, glattrasiert. Sammetjoppe, Pelzkappe, Wollschal). Sachteken! Sachteken!

ALBERT (hat sich den Stock schnell unter den Arm geklemmt und sich den Kneifer aufgesetzt, affektiert). Ah, gut’n Abend, Herr Kopelke!

KOPELKE. ’n Abend! ’n Abend, junger Herr! (Reicht Frau Selicke die Hand.) ’n Abend! (Nach dem Bett hin.) Na? Und meene kleene Patientin? Ick muss doch mal sehn kommen?

FRAU SELICKE (weinerlich). Ach Gott ja! Na, ich kann wohl schon sagen!

KOPELKE (sie beruhigend). Ach wat, wissen Se! Det … det … e …

WALTER(hat sich unterdessen mit seinem Hampelmann abgegeben, ihm die Zunge gezeigt, »Bah!« zu ihm gemacht und tänzelt nun mit ihm um den alten Kopelke rum, diesen unterbrechend). Olle Kopelke! Olle Kopelke!

KOPELKE (sanft abwehrend). Ach, nich doch, Kind! Det ’s jo unjezogen! Du musst nich immer Olle Kopelke sagen! Det jeheert sick nich!

WALTER (Rübchen schabend). Oh …! Olle Kopelke! …

ALBERT (wütend). Hörst du denn nich, du Schafskopp? Du sollst still sein!

WALTER (den Ellbogen gegen ihn vor). Nanu? Du hast mir doch jar nischt zu sagen?

ALBERT (holt mit der Hand aus).

FRAU SELICKE (mit dem Strickstrumpf, den sie unterdessen wieder aufgenommen hat, dazwischen). Nein! Nein! Nun sehn Sie doch bloß! Die reinen Banditen! Das Kind! Das Kind! Nehmt doch wenigstens auf das Kind Rücksicht!

[12]ALBERT (der sich achselzuckend wieder abgewandt hat). Natürlich! So is recht! Bestärk ihn man noch immer! Dem lässt du ja...

Erscheint lt. Verlag 11.2.2021
Reihe/Serie Reclams Universal-Bibliothek
Reclams Universal-Bibliothek
Mitarbeit Kommentare: Ingo Stöckmann
Nachwort Ingo Stöckmann
Verlagsort Ditzingen
Sprache deutsch
Themenwelt Literatur Lyrik / Dramatik Dramatik / Theater
Schlagworte Arno Holz Johannes Schlaf • Bjarne P. Holmsen • Deutsch • Deutsch-Unterricht • gelb • gelbe bücher • Klassenlektüre • Lektüre • Literatur Epoche Naturalismus • Literatur Klassiker • naturalismus literatur • Naturalistische Dichtung • Niels Thienwiebel • Phonographische Methode • Reclam Hefte • Reclams Universal Bibliothek • Schullektüre • Sekundenstil Literatur • Weltliteratur
ISBN-10 3-15-961977-X / 315961977X
ISBN-13 978-3-15-961977-4 / 9783159619774
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