Das Spiegelhaus (eBook)
416 Seiten
Eichborn AG (Verlag)
978-3-7517-2058-8 (ISBN)
Am Rand von Edinburgh steht ein imposantes Anwesen, das »Spiegelhaus«, wie es von seinen Bewohnern einst genannt wurde. Dies war das Zuhause der Zwillingsschwestern Cat und El. Hier gab es für die Mädchen einen besonderen Ort: Jede Nacht stiegen sie die steinerne Treppe hinab, öffneten die schwere Holztür und betraten einen geheimen Raum, in dem ihre Phantasie Wirklichkeit wurde.
20 Jahre später kehrt eins dieser Mädchen - Cat - in das Haus ihrer Kindheit zurück. Denn ihre Zwillingsschwester El ist verschwunden. Was Cat nicht weiß: Els Verschwinden ist kein Zufall, sondern Teil eines Plans, an dessen Ende Cat erkennen soll, was damals, vor so vielen Jahren, wirklich im Spiegelhaus geschah ...
Carole Johnstone ist eine preisgekrönte schottische Autorin von Kurzgeschichten. DAS SPIEGELHAUS ist ihr Debütroman. Sie lebt in Argyll and Bute an der Westküste Schottlands. Weitere Informationen finden Sie auf WWW.CAROLEJOHNSTONE.COM
Carole Johnstone ist eine preisgekrönte schottische Autorin von Kurzgeschichten. DAS SPIEGELHAUS ist ihr Debütroman. Sie lebt in Argyll and Bute an der Westküste Schottlands. Weitere Informationen finden Sie auf WWW.CAROLEJOHNSTONE.COM
KAPITEL 1
Ich war nicht da, als meine Schwester starb.
Ross rief mich an; er hinterließ fast ein Dutzend Nachrichten auf der Voicemail, bis ich sie endlich abhörte, eine verzweifelter als die andere. Und ich schäme mich zu sagen, dass ich vor allem auf seine Stimme hörte – vertraut und vergessen, kaum verändert – und nicht so sehr auf die Worte, die er sagte.
Ich schaue die Nachrichten im Terminal 4 des John-F.-Kennedy-Flughafens. Ich muss hier einen siebenstündigen Zwischenstopp überleben, der an meinem Verstand nagt. Dann muss ich meinen Laptop hochfahren und nachsehen. Ich sitze auf einem Hocker in einem lauten, viel zu hell erleuchteten Schnellrestaurant und rühre meinen Cheeseburger nicht an. Stattdessen scrolle ich durch den ersten der drei Berichte auf der Nachrichtenseite der BBC für Edinburgh, Fife & East. Ich sollte mich vermutlich auch dafür schämen, dass Ross wieder das Erste ist, was ich sehe. Sogar noch vor der riesigen schwarzen Schlagzeile: Große Sorgen um vermisste Frau aus Leith.
Unter dem ersten Foto steht Tag eins, 3. April, aber darauf ist es bereits dunkel. Ross geht eine niedrige Steinwand in der Nähe der Förde entlang. Die Kamera hat ihn zwischen zwei silbernen Laternenpfählen erwischt, die zwei kreisrunde Lichtpfützen werfen. Obwohl sein Gesicht abgewandt ist, kann man seine Aufregung unmissverständlich erkennen: Er hat die Schultern hochgezogen, die Hände zu Fäusten geballt. Der Fotograf hat die hellen Lichter eines zurückkehrenden blau- und orangefarbenen Rettungsbootes eingefangen, und Ross’ Gesicht ist ihm und der eingefrorenen Wucht einer Welle zugewandt, die über den Pier bricht. Kurz nachdem sie vermisst gemeldet wurde, gab es ein Unwetter, das hatte er in mehr als einer seiner Nachrichten gesagt, als hätte mich die Unkenntnis dieses besonders schrecklichen Details davon abgehalten, ihm zu antworten.
Ich brauche beinahe zwei Gläser Merlot in einer dunklen, zurückgezogenen Bar, weit außer Hörweite des Schnellrestaurants, bis ich in der Lage bin, das erste Video abzuspielen. Tag zwei, 4. April. Und selbst dann, als Els Foto auf dem Bildschirm zu sehen ist – wie sie mit zurückgeworfenem Kopf lacht, ihre, wie sie es immer nannte, »Like a fuckin Virgin«-Pose, mit durchsichtiger Seidenbluse und einem silberblonden Bob –, zucke ich zusammen, drücke auf Pause und schließe die Augen. Fahre mir verlegen durch das viel zu lange, wirre Haar. Ich trinke den Wein aus, bestelle einen dritten, und der Kellner, der ihn bringt, starrt so intensiv und lange auf meinen Bildschirm, dass ich mich schon frage, ob er einen Schlaganfall hat. Bevor ich ihn überhaupt bemerke, natürlich. Es ist erstaunlich, was man alles vergisst; Tatsachen aus dem eigenen Leben, die früher einmal so normal waren wie Atmen. Er glaubt, ich würde mir ein Bild von mir selbst ansehen. Darunter die Worte: Ist Ellice MacAuley tot oder noch am Leben?
Ich nehme die Ohrhörer aus meinen Ohren. »Meine Zwillingsschwester.«
»Tut mir leid, Ma’am«, sagt er mit einem strahlenden Lächeln und klingt dabei, als hätte ihm noch nie in seinem Leben irgendetwas leidgetan. Das ewige Lächeln und Ma’am-Getue nervt mich, und ich werde wütend. Dass dies das Einzige ist, was ich an Amerika nicht vermissen werde, ermüdet mich noch mehr, macht mich noch saurer. Ich denke an meine Eigentumswohnung an der Pacific Avenue. An das durchgeknallte Leben auf der Promenade und am Muscle Beach. Die verrückten und durchtanzten Nächte in Kellerclubs, an deren Wänden der kondensierte Schweiß herunterrinnt. An die türkisfarbene Ruhe des Meeres. Des Meeres, das ich liebe.
Ich nehme noch einen großen Schluck Wein, stecke mir die Ohrhörer wieder in die Ohren und drücke auf Play. Das Foto von El wird von dem einer Reporterin abgelöst: jung und ernsthaft, vermutlich erst in ihren Zwanzigern. Der Wind peitscht ihr das Haar wild ums Gesicht.
»Am Morgen des dritten April segelte die in Leith wohnhafte Ellice MacAuley, einunddreißig, von diesem Yachtclub in Granton Harbour in der Förde von Forth los. Seither wurde sie weder gesehen, noch hat jemand von ihr gehört.«
Ich zucke zusammen, als die Kamera vom Yachtclub weg zoomt, um die Eisenbahnlinie und die Straßenbrücken in Queensferry im Westen aufzunehmen, um dann nach Osten zu den Ausläufern von Earlsferry und North Berwick zu schwenken. Dazwischen sieht man die graue Förde und die niedrigen, sanften Hügel von Kinghorn und Burntisland am gegenüberliegenden Ufer. Dann schwenkt die Kamera zurück zum Hafen, zu seinen hüpfenden Bojen und langen Pontons und den weißen Segelbooten mit den klappernden Masten. Eine Betonrampe, die sich steil ins Wasser senkt. Ein anderer Kran. Kein Lagerhaus.
Wie konnte ich nur übersehen, dass dies derselbe Hafen ist – ein Ort, über den ich seit Jahrzehnten nicht mehr nachgedacht habe, und doch gibt es ihn noch, beinahe unverändert. Ein Schauder lässt meinen Nacken verkrampfen. Eine Furcht, die ich lieber nicht weiter analysieren will, ebenso wenig wie alles andere, was mir durch den Kopf gegangen ist, seit die Voicemail-Nachrichten in meiner Inbox gelandet sind. Ich greife wieder nach meinem Wein, erleichtert, weil auf dem Bildschirm nicht mehr der Hafen zu sehen ist, sondern Archivbilder von Rettungsbooten und Hubschraubern.
»Als Ms MacAuley nicht in den Royal Forth Yacht Club zurückkehrte, wurde Alarm geschlagen, und es wurde weiterhin festgestellt, dass sie ihren Zielort in Anstruther nicht erreicht hatte. Die Küstenwache und die Seenotrettung RNLI sind an der Suche beteiligt, aber das anhaltende schlechte Wetter hat ihre Bemühungen deutlich behindert.«
Ein Mann: mit Hängebacken, fast kahl, ernst wie die Reporterin, aber mit einem Glitzern in den Augen, als täte er nur so. Er schaut mit vor der Brust verschränkten Armen in die Kamera. Unter seinem viel zu großen Bauch steht: James Paton, Königliche Küstenwache, Koordinator für Such- und Rettungsmissionen, Aberdeen. »Wir wissen, dass Ms MacAuley eine kompetente Seglerin ist …«
Wissen wir das?, denke ich.
»… angesichts der Windstärke, die am Morgen des dritten April in der Förde herrschte, nehmen wir an, dass sie bereits für nahezu sechs Stunden verschwunden war, als sie vermisst gemeldet wurde.« Er verstummt, und obwohl er nur von der Taille aus aufwärts gefilmt wird, sehe ich, wie er sich noch etwas breitbeiniger hinstellt, wie ein Revolverheld. Er schafft es gerade so eben, nicht mit den Achseln zu zucken. »In den letzten zweiundsiebzig Stunden betrug die Temperatur in der Förde nicht mehr als sieben Grad Celsius. Unter diesen Umständen kann ein Mensch nicht länger als drei Stunden im Wasser überleben.«
Arschloch, denke ich. Mit Els Stimme.
Die Kamera schwenkt wieder zur Reporterin, die immer noch so tut, als wäre ihr die ruinierte Frisur ganz egal. »Jetzt, am Ende des zweiten Tages der Suche und unter verschlechterten Bedingungen«, sagt sie, »sinkt die Hoffnung auf eine sichere Rückkehr von Ellice MacAuley.«
Ein Bild von El und Ross irgendwo im Urlaub nimmt den gesamten Bildschirm ein. Sie sehen darauf gebräunt aus, mit weißen Zähnen; er hat den Arm um ihre Schultern gelegt, sie lehnt sich an ihn, hebt das Kinn und lacht. Ich kann mir schon vorstellen, warum die Berichterstattung so eifrig und intensiv ist. Sie sind wunderschön. Sie sehen einander an, als wären sie gleichzeitig ausgehungert und satt. Die Intimität des Bildes ist mir unangenehm; der Wein in meinem Magen fühlt sich plötzlich an wie Säure.
Ich nehme mein Handy zur Hand und öffne die Wetter-App. Ich habe Edinburgh nach Venice Beach darauf immer noch als zweiten Favoriten abgespeichert; ich hatte gar nicht darüber nachgedacht, warum. Sechs Grad Celsius und starker Regen. Ich schaue aus dem Fenster in die Dunkelheit, auf die langen Reihen der weißen Startbahn-Lichter.
Es ist noch nicht einmal sechs Uhr morgens in Großbritannien, aber schon taucht ein neues Video auf: Tag drei, 5. April. Ich sehe es mir nicht an. Ich weiß sowieso, dass sich nichts geändert hat. Ich weiß, dass sie noch nicht gefunden wurde. Ich weiß, dass sie heute noch weniger als gestern erwarten, sie zu finden. Darunter sehe ich ein weiteres Bild mit einem Link, der weniger als zwei Stunden alt ist. Arzt-Ehemann der vermissten Frau aus Leith verliert die Hoffnung. Das Bild lässt meinen Atem stocken. Es tut weh, ihn so zu sehen. Es würde jedem wehtun, ihn so zu sehen. Ross kauert neben einer niedrigen Mauer, die Knie zum Kinn gezogen, die Hände im Nacken verschränkt, und drückt die Ellenbogen eng vor sich zusammen, wie einen Schutzschild. Ein Mann in einem langen Anorak steht neben ihm, sieht auf ihn herab und sagt offenbar etwas, aber Ross achtet nicht auf ihn. Stattdessen schaut er hinaus auf die Förde, mit offenem Mund und in tiefer Verzweiflung. Ich kann seine Trauer und sein Entsetzen beinahe hören.
Ich knalle den Laptop viel zu heftig zu, trinke meinen Wein aus, während die Leute mich anstarren. Meine Hand zittert, Tränen treten mir in die Augen. Die Stunden zwischen New York und Edinburgh stehen drohend vor mir und sind gleichzeitig nicht genug Zeit. Ich will nicht zurück. Ich würde alles – absolut alles – geben, um nie, niemals wieder zurückzumüssen.
Ich stehe auf, um in die nächste Bar zu gehen; ich ertrage es nicht, noch einmal mit dem Ma’am-Kellner reden zu müssen. Ich nehme meinen Laptop und meine Tasche und werfe einen Zwanzig-Dollar-Schein auf den Tisch. Ich bin schon ziemlich...
Erscheint lt. Verlag | 25.3.2022 |
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Übersetzer | Katharina Naumann |
Sprache | deutsch |
Original-Titel | Mirrorland |
Themenwelt | Literatur ► Krimi / Thriller / Horror ► Krimi / Thriller |
Schlagworte | Geheimnis • Gothic • Phantasie • Psychologischer Spannungsroman • Thriller • Zwillinge |
ISBN-10 | 3-7517-2058-8 / 3751720588 |
ISBN-13 | 978-3-7517-2058-8 / 9783751720588 |
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