Milde Gaben (eBook)
352 Seiten
Diogenes (Verlag)
978-3-257-61272-1 (ISBN)
Donna Leon, geboren 1942 in New Jersey, arbeitete als Reiseleiterin in Rom und als Werbetexterin in London sowie als Lehrerin und Dozentin im Iran, in China und Saudi-Arabien. Die Brunetti-Romane machten sie weltberühmt. Donna Leon lebte viele Jahre in Italien und wohnt heute in der Schweiz. In Venedig ist sie nach wie vor häufig zu Gast.
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Brunetti hatte zwar den Gazzettino schon in den Papierkorb geworfen, doch das Thema des Leitartikels ließ ihn auch auf dem Heimweg von der Questura nicht los. Zu Hause auf dem Sofa versuchte er sich auf Ciceros Anklage gegen einen korrupten Beamten in den Reden gegen Verres zu konzentrieren, doch seine Gedanken kehrten immer wieder zu den Geldströmen zurück, die das Land seit dem Wüten der Pandemie geflutet hatten.
Mehr als 125000 Menschen waren schon umgekommen, und doch hatte dies der Gier kein Ende gesetzt. Wie Brunetti schon gefürchtet hatte, bediente sich das organisierte Verbrechen ungeniert aus dem praktisch unbewachten Trog. Das Geld fiel vom Himmel, ein verängstigtes Europa mästete seine Unternehmen. Die Namen der Direktoren mancher Firmen hatten ihn ebenso erschauern lassen wie die Namen mancher für die Verteilung der Mittel zuständigen Beamten. Er und seine Kollegen von der Guardia di Finanza würden noch von ihnen hören.
Kredite wurden gewährt, viele Geschäfte vor dem Untergang bewahrt, viel Gutes geschah, vielen wurde geholfen. Dennoch war Brunetti überzeugt, dass sich ein Gutteil des Geldes auf dem Weg zu seinen Empfängern in Luft auflöste und zahllose Unternehmen nur gegründet wurden, um Konkurs anzumelden und entschädigt zu werden.
Brunetti verstand von Wirtschaft nicht sehr viel, doch was das Betrügen und Stehlen anging, machte ihm niemand etwas vor: Die Verwüstungen, die das Virus in der Wirtschaft anrichtete, waren die perfekte Gelegenheit zu solchen Schurkereien. Er kannte die Tricks der Taschendiebe und Straßenräuber: Unruhe stiften, das Opfer ablenken und verunsichern, um es dann unbemerkt auszuplündern. Geschäftstüchtige Gauner hatten schnell erkannt, wie sie nun sogar ohne eigenes Zutun von der Angst und Verwirrung ihrer Opfer profitieren konnten.
Il Gazzettino berichtete von Gewerberaum, der von Hand zu Hand ging. Wo so viele Existenzen am Abgrund standen, sollte dies eigentlich ein ermutigendes Zeichen sein, Hoffnung auf eine Wiederbelebung der Stadt, würden nicht gleichzeitig die überregionalen Zeitungen berichten, dass die diversen Mafias nicht wüssten, wohin mit dem vielen so unverhofft ergatterten Geld, das gewaschen und wieder ins Banksystem eingeschleust werden musste. Bot sich da ein Geschäft in guter Lage in Venedig nicht geradezu an? Über kurz oder lang würden die Touristen zurückkommen, selbst die Kreuzfahrtschiffe würden wieder aus der Versenkung auftauchen, auch wenn Brunetti sie eher als schwimmende Särge betrachtete.
Er verscheuchte diese Gedanken. Wozu sich vorschnell düsteren Spekulationen hingeben? Vielleicht würden die Menschen ja, täglich mit der eigenen Sterblichkeit konfrontiert, doch noch zur Vernunft kommen und andere Prioritäten setzen.
Ein Geräusch im Flur riss ihn aus seinen Gedanken. Er sah gerade noch, wie Chiara in ihr Zimmer verschwand, um sich in ihrer hermetischen Welt der sozialen Medien einzuigeln. Angst und Sorge um seine Kinder befiel ihn, sogleich aber flammte auch Hoffnung auf trotz allen Schadens, den die Welt genommen hatte, in der sie ihr Leben verbringen würden.
Um seine Stimmung zu verscheuchen, machte Brunetti sich auf den Weg zu Paolas Arbeitszimmer; die Tür stand offen, und er trat ein. Sie saß, die Brille mitten auf der Nase, vor ihrem Computer. Ohne aufzublicken, sagte sie: »Gut, dass du da bist.«
»Warum?«, fragte er und gab ihr einen Kuss auf den Hinterkopf.
Sie tippte einen Satz zu Ende, nahm die Brille ab und wandte sich ihm zu. Er merkte, wie ihre Augen sich erst auf die größere Entfernung einstellen mussten.
»Weil du stark genug bist, mich festzuhalten, wenn ich von der Terrasse springen will«, sagte sie so ruhig, als würde sie einem Fremden auf der Straße den Weg erklären.
Er ließ sich aufs Sofa fallen, streifte die Schuhe ab und legte die Füße hoch. Ihr Schreibtisch war fast leer, keine Bücher oder Papiere, nur eine leere Kaffeetasse.
»Falls es um die Uni geht, kann ich meine Pistole aus dem Schlafzimmer holen.«
»Für mich?«
»Nicht doch«, sagte er. »Für den, über den du schreibst.« Bevor sie antworten konnte, deckte er auch gleich die andere Möglichkeit ab: »Oder für den, an den du schreibst.«
»Volltreffer«, sagte sie.
»Also, an wen?«
»Severin, diesen Idioten.«
Er erinnerte sich nicht gleich, wer das war, dann aber fiel ihm ein Abendessen ein, zu dem ihn Paola vor fünf Monaten mitgeschleppt hatte. Ihr Kollege von der Anglistischen Fakultät, Claudio Severin, und dessen recht sympathische Frau, an deren Namen sich Brunetti nicht mehr erinnerte, hatten mit ihnen am Tisch gesessen.
»Seine Frau ist nicht an der Uni, stimmt’s?«, fragte Brunetti. Immerhin das wusste er noch.
»Nein. Sie ist Anwältin.«
»Gut, wenn die Leute einen anständigen Job haben«, bemerkte Brunetti in der Hoffnung, Paola zum Lachen zu bringen.
Sie lächelte nicht einmal. Folglich war die Sache ernst.
Brunetti wollte schon fragen, womit Severin sie so verärgert hatte, entschied sich dann aber für die neutralere Frage: »Was schreibst du ihm?«
»Dass ich mit seiner Einschätzung einer der Doktorandinnen nicht einverstanden bin.«
»Welche denn?«
»Anna Maria Orlando. Aus Bari, glaube ich. Hübsch. Schreibt sehr gut.« Ging es hier etwa, fragte er sich, um Vorurteile gegen Frauen aus dem Süden, die es wagten, klug zu sein?
»Und?«, fragte er.
»Severin hat sich in sie verknallt. Sie hat alle seine Vorlesungen besucht und ihn gebeten, ihr Doktorvater zu sein. Und jetzt hat er mir erzählt, er werde der Universität vorschlagen, sie als Forschungsassistentin einzustellen.«
»Soll ich etwa aufspringen und die Hände überm Kopf zusammenschlagen, als hätte ich dergleichen noch nie gehört?«, fragte Brunetti. Doch beim Gedanken an all die älteren Männer, die sich mit jüngeren Frauen ihr Leben ruinieren, setzte er in ernsterem Ton hinzu: »Und deine Mail?«
»Ich schreibe ihm inoffiziell, nicht als Mitglied des Gremiums, das sich mit solchen Einstellungen befasst, und weise ihn darauf hin, dass Signorina Orlando den Anforderungen der Fakultät wohl kaum genügen dürfte.«
»Als da wären?«, fragte Brunetti, neugierig mit den Zehen wackelnd.
»Außerordentliche Leistungen in den Seminaren«, sagte Paola und hob den Daumen; dann den Zeigefinger: »Fürsprache und Zustimmung ihrer früheren Professoren.« Für die letzte Bedingung kam der Mittelfinger hinzu: »Und mindestens zwei Veröffentlichungen in angesehenen Fachzeitschriften auf dem Spezialgebiet des Kandidaten.«
»Als da wäre?«
Paola antwortete nach kurzem Zögern: »Die Silbergabelromane.«
Er vergaß seine Zehen und fragte: »Die was?«
»Die Silbergabelromane. Davon habe ich dir schon einmal erzählt.«
Brunetti sah sie verständnislos an. »Kann mich nicht erinnern.« Nach einer Pause, die Paola zu seinem Bedauern nicht füllte, fragte er: »Also, worum geht es?«
»Englische Romane im 19. Jahrhundert voller langatmiger Belehrungen, wie man sich in Gesellschaft zu benehmen oder nicht zu benehmen hat.« Da er dazu schwieg, fügte sie hinzu: »Damals sehr populär.«
»Du hast sie alle gelesen?«, fragte er, nie so ganz sicher, was sie während ihres Studiums in Oxford getrieben hatte.
»Einen.«
»Erinnerst du dich an den Titel?«, fragte er. Paola vergaß nie etwas.
Sie schloss kurz die Augen, bis ihr der Name wieder einfiel: »Contarini Fleming.«
Brunetti wartete vergebens, bevor er sie bat: »Erzähl.«
»Es ist ziemlich kompliziert«, begann sie. »Die Mutter des Helden stirbt bei seiner Geburt; er wächst in Skandinavien auf und verliebt sich in eine verheiratete Frau, die ihn zurückweist. Verzweifelt geht er nach Venedig, wo er sich in seine Cousine verliebt. Die weist ihn nicht zurück, und dann stirbt auch sie im Kindbett.« Paola verstummte, ihr Blick ging ins Leere, ein Blick, den Brunetti ihr Pokergesicht nannte, weil er dann nie wusste, was sie im Schilde führte.
Wie wenn sie mit einer rhetorischen Frage ihre Studenten zum Reden bringen wollte, meinte sie: »Ist es nicht interessant, dass Frauen in viktorianischen Romanen so oft im Kindbett oder an Tuberkulose sterben?«
Brunetti schenkte sich die Antwort. Stattdessen fragte er: »Und das Buch war ein Erfolg?«
»Ja. Sehr.«
»Und der Autor? Was ist aus ihm geworden?«, fragte Brunetti, überzeugt, dass es mit dem Mann ein böses Ende genommen haben musste, nachdem er derlei nicht nur gelesen, sondern auch noch geschrieben hatte.
»Er wurde Premierminister von England«, antwortete Paola.
Das musste Brunetti erst einmal verdauen. Schließlich sagte er: »Um auf unser ursprüngliches Thema zurückzukommen: Wie alt ist Signorina Orlando?« Severin schätzte er auf Ende fünfzig.
»Ein- oder zweiundzwanzig, würde ich sagen.«
»Oje, oje, oje. Das verheißt nichts Gutes.« Und um Paola mit einer ihrer englischen Lieblingsredewendungen eine Freude zu machen, fügte Brunetti hinzu: »Tränen vor dem Schlafengehen.«
»Ich fürchte, an Schlafengehen ist nicht mehr zu denken, mein Lieber«, sagte sie und beugte sich über den Bildschirm.
Nicht im Geringsten abgeschreckt von ihrem Sarkasmus, blieb Brunetti beim Thema: »Was schreibst du ihm?«
»Ich schicke ihm eine Kopie ihrer Zeugnisse und der Stellungnahmen ihrer früheren Professoren.«
»Ist das erlaubt?«
Sie sah verblüfft zu ihm hoch. »Selbstverständlich. Sie sind Teil der Unterlagen, die...
Erscheint lt. Verlag | 25.5.2022 |
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Reihe/Serie | Commissario Brunetti | Commissario Brunetti |
Übersetzer | Werner Schmitz |
Verlagsort | Zürich |
Sprache | deutsch |
Original-Titel | Give Unto Others |
Themenwelt | Literatur ► Krimi / Thriller / Horror ► Krimi / Thriller |
Schlagworte | Brunetti • Brunetti, Guido • Commissario • Freundschaftsdienst • Geldwäsche • Geldwäscherei • Guido • Italien • Krimi • Krimiserie • Mutter • Polizei • Steuerhinterziehung • Venedig • Wohltätigkeitsorganisation |
ISBN-10 | 3-257-61272-9 / 3257612729 |
ISBN-13 | 978-3-257-61272-1 / 9783257612721 |
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