Lord Jim (eBook)
656 Seiten
Carl Hanser Verlag GmbH & Co. KG
978-3-446-27351-1 (ISBN)
Jim zieht als Schiffsausrüster umher. Als Erster Offizier auf einem Pilgerschiff beging er einen schrecklichen Fehler, der ihn Ruf und Laufbahn kostete. Nach langen Reisen erreicht er die entlegene Insel Patusan im Indischen Ozean und erwirbt sich das Vertrauen der Einheimischen, die ihn als Friedensstifter hoch verehren. Aus Jim wird Lord Jim. Doch dann tauchen Piraten auf, und sie scheinen zu wissen, wer er wirklich ist. Joseph Conrads berühmtester Roman hat viele Facetten: eine psychologische Charakterstudie über einen, der vom Heldentum träumt und doch moralisch versagt; eine mitreißende Abenteuererzählung; und nicht zuletzt eine erschütternde Parabel auf die Zerstörungswut des Kolonialismus.
Joseph Conrad wurde 1857 als Józef Teodor Nalecz Konrad Korzeniowski in Berdytschiw, Ukraine (damals Russisches Kaiserreich), geboren und starb 1924 in Bishopsbourne, Grafschaft Kent, England. Er ist einer der größten englischen Schriftsteller des 20. Jahrhunderts. Bei Hanser erschienen die Neuübersetzungen Die Schattenlinie (Roman, 2017) und Lord Jim (Roman, 2022).
I
Er war vielleicht zwei Zoll kleiner als sechs Fuß, kräftig gebaut und hielt direkt auf einen zu, die Schultern leicht gebuckelt, den Kopf vorgestreckt, der feste Blick von unten emporstarrend wie der eines angreifenden Stiers. Seine Stimme war tief, laut, und sein ganzes Wesen offenbarte eine Art verbissener Selbstbehauptung, die nichts Aggressives hatte. Sie erschien als Notwendigkeit und richtete sich erkennbar ebenso gegen ihn selbst wie gegen jeden anderen. Er war wie aus dem Ei gepellt, in makelloses Weiß gekleidet von den Schuhen bis zur Mütze, und in den Häfen des Fernen Ostens, wo er sein Auskommen als Klarierer für Schiffsausstatter fand, war er überaus beliebt.
Ein Klarierer braucht für nichts unter der Sonne eine Prüfung abzulegen, aber er muss Geschick fürs Allgemeine besitzen und dies im Detail praktisch beweisen. Seine Arbeit besteht darin, unter Segel, Dampf oder Ruder andere Agenten auszustechen beim Wettrennen um jedes ankerbereite Schiff, dessen Kapitän fröhlich zu begrüßen, ihm eine Karte aufzudrängen — die Geschäftskarte des Schiffsausstatters — und ihn bei seinem ersten Landgang bestimmt, doch ohne viel Getue zu einem riesigen, höhlenartigen Laden zu lotsen, der voller Dinge ist, die an Bord eines Schiffes gegessen und getrunken werden, wo man alles bekommt, um das Schiff seetüchtig und schmuck zu machen, vom Satz Kettenhaken für die Ankertrosse bis zum Heftchen mit Blattgold für das Schnitzwerk am Heck, und wo der Kapitän von einem Schiffsausstatter, den er nie zuvor gesehen hat, wie ein Bruder empfangen wird. Dort gibt es einen kühlen Salon, Sessel, Flaschen, Zigarren, Schreibzeug, ein Exemplar der Hafenordnung und die Wärme eines Willkomms, die dem Herzen eines Seemanns das Salz einer dreimonatigen Überfahrt ausschmelzt. Die derart angesponnene Verbindung wird, solange das Schiff im Hafen liegt, durch die täglichen Besuche des Klarierers gepflegt. Dem Kapitän gegenüber ist er treu wie ein Freund und aufmerksam wie ein Sohn, mit der Geduld eines Hiob, der selbstlosen Hingabe einer Frau und der Lustigkeit eines Zechbruders. Später wird die Rechnung zugestellt. Es ist eine schöne und menschenfreundliche Tätigkeit. Deshalb sind gute Klarierer rar. Besitzt ein Agent neben dem Geschick fürs Allgemeine auch den Vorzug, ein ausgebildeter Seemann zu sein, ist er für seinen Dienstherrn eine Stange Geld und einige Konzessionen wert. Jim bekam immer einen guten Lohn und so viele Konzessionen, dass man damit die Treue eines Teufels hätte erkaufen können. Trotzdem gab er mit schwärzestem Undank urplötzlich seine Stellung auf und machte sich aus dem Staub. Seinen Dienstherren leuchteten die von ihm angeführten Gründe offenbar nicht ein: »Verfluchter Narr!«, knurrten sie, sobald er ihnen den Rücken kehrte. So missbilligten sie seine ungemeine Empfindlichkeit.
Für die Weißen, die ihre Geschäfte an der Küste machten, und für die Schiffskapitäne war er ganz einfach Jim — nichts weiter. Er hatte natürlich noch einen Namen, aber er hütete sich, ihn auszusprechen. Sein Inkognito, löchrig wie ein Sieb, sollte keine Person verschleiern, sondern ein Faktum. Durchbrach das Faktum das Inkognito, verließ er von heute auf morgen den Hafenort, wo er sich gerade befand, und zog in einen anderen — meist ostwärts. Er hielt sich an Hafenorte, weil er ein von der See verbannter Seemann war und ein Geschick fürs Allgemeine besaß, das für keine andere Arbeit taugt als die eines Schiffsklarierers. Er trat seinen geordneten Rückzug in Richtung der aufgehenden Sonne an, und das Faktum folgte ihm gemächlich, aber unaufhaltsam. So traf man ihn im Laufe der Jahre nacheinander in Bombay, in Kalkutta, in Rangun, in Penang, in Batavia, und an jedem dieser Rastplätze war er einfach Jim, der Klarierer. Später, als ihn die geschärfte Wahrnehmung des Unerträglichen endgültig aus den Hafenstädten und fort von den Weißen trieb, bis in den tiefen Urwald hinein, da fügten die Malaien des Dschungeldorfes, das er gewählt hatte, um seine beklagenswerte Veranlagung zu verbergen, seinem einsilbigen Inkognito ein Wort hinzu. Sie nannten ihn Tuan Jim: was so viel heißt wie — Lord Jim.
Ursprünglich kam er aus einem Pfarrhaus. Viele Kapitäne prächtiger Handelsschiffe entstammen dieser Heimstatt der Frömmigkeit und des Friedens. Jims Vater gebot über eine so gewisse Kenntnis des Unerkennbaren, wie sie der Rechtschaffenheit derer förderlich ist, die in Hütten hausen, ohne jenen die Seelenruhe zu rauben, denen eine unfehlbare Vorsehung erlaubt, Herrenhäuser zu bewohnen. Die kleine Kirche auf einem Hügel besaß die moosgraue Farbe eines Felsens, den man durch einen zerfransten Laubvorhang erspäht. Sie stand dort seit Jahrhunderten, doch die Bäume ringsum mochten sich der Grundsteinlegung wohl entsinnen. Unterhalb leuchtete inmitten von Rasenflächen, Blumenrabatten und Tannen die Fassade des Pfarrhauses in einem warmen Rotton, dahinter lag ein Obstgarten, linkerseits erstreckten sich ein gepflasterter Stallhof und die geneigten Glasdächer von Gewächshäusern, die an einer Ziegelmauer klebten. Die Pfründe befand sich seit Generationen in Familienbesitz; doch Jim war einer von fünf Söhnen, und als sich nach einer unterhaltsamen Ferienlektüre seine Berufung zur See kundgetan hatte, schickte man ihn unverzüglich auf ein »Schulschiff für Offiziere der Handelsmarine«.
Er lernte dort etwas Trigonometrie und wie man Bramrahen kreuzt. Er erfreute sich allgemeiner Beliebtheit. Er war Drittbester in Navigation und Schlagmann im ersten Kutter. Sein klarer Kopf und seine ausgezeichnete Konstitution machten ihn in der Takelage äußerst gewandt. Sein Posten war im Fockmars, und von dort blickte er, mit der Verachtung eines Mannes, dem es bestimmt war, inmitten von Fährnissen zu glänzen, oft hinunter auf die einträchtige Vielzahl der Dächer, entzweigeschnitten von der braunen Flut des Stroms, während sich verstreut an den Rändern der umliegenden Ebene die Fabrikschlote senkrecht in einen grauen Himmel reckten, jeder bleistiftdünn und rauchspeiend wie ein Vulkan. Er sah die großen Schiffe auslaufen, die breiten, immerfort betriebsamen Fähren, die tief unter ihm schwimmenden Boote und in der Ferne den dunstigen Glanz der See und die Hoffnung auf ein bewegtes Leben in der Welt des Abenteuers.
Auf dem Unterdeck im babylonischen Sprachengewirr von zweihundert Stimmen vergaß er sich und führte in seiner Phantasie im Voraus das in Unterhaltungsromanen geschilderte Leben auf See. Er sah sich Menschen von sinkenden Schiffen retten, in einem Hurrikan Masten kappen, mit einem Tau durch die Brandung schwimmen oder als einsamen Schiffbrüchigen barfuß und halbnackt trockengefallene Riffe nach Schalentieren absuchen, um dem Hungertod zu entgehen. An tropischen Küsten trotzte er Wilden, erstickte Meutereien auf hoher See und sprach den verzweifelnden Männern in einer Nussschale auf dem Ozean Mut zu — ein stetes Muster an Pflichterfüllung und unverzagt wie der Held in einem Buch.
»Da ist was los. Komm.«
Er sprang auf. Die Jungen hasteten die Leitern hoch. Oben hörte man großes Getümmel und Geschrei, und als er aus der Luke stieg, blieb er stehen — wie betäubt.
Es herrschte das Zwielicht eines Wintertags. Die steife Brise hatte seit Mittag aufgefrischt, den Verkehr auf dem Fluss lahmgelegt und toste jetzt mit der Wucht eines Hurrikans, dessen stoßweise Ausbrüche dröhnten wie übers Meer abgefeuerte Salven schwerer Geschütze. Ebbten die schräg peitschenden Regenfluten kurz ab, dann erblickte Jim flüchtig den sich bedrohlich wälzenden Strom, das vor der Küste umhergeschleuderte, durchgerüttelte kleine Schiff, die reglosen Gebäude im treibenden Nebel, die vor Anker schwerfällig stampfenden breiten Fähren, die auf und ab schwankenden, gischtbedeckten riesigen Anlegebrücken. Die nächste Bö schien alles wegzufegen. Stiebendes Wasser erfüllte die Luft. Es hauste ein grimmiger Zweck in diesem Sturm, ein wütender Ernst im Kreischen des Windes und im brutalen Tumult von Erde und Himmel, die auf ihn zu zielen schienen, sodass es ihm vor Ehrfurcht den Atem verschlug. Er blieb stehen. Er fühlte sich im Kreis herumgewirbelt.
Er wurde beiseitegerempelt. »Kutter bemannen!« Jungen drängten an ihm vorbei. Ein schutzsuchender Küstenfahrer hatte beim Einlaufen einen ankernden Schoner gerammt, und einer der Ausbilder hatte die Havarie beobachtet. Eine Horde von Jungen kletterte auf die Reling, scharte sich um die Davits. »Eine Kollision....
Erscheint lt. Verlag | 16.5.2022 |
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Nachwort | Daniel Göske |
Übersetzer | Michael Walter |
Verlagsort | München |
Sprache | deutsch |
Original-Titel | Lord Jim |
Themenwelt | Literatur ► Klassiker / Moderne Klassiker |
Literatur ► Romane / Erzählungen | |
Schlagworte | 19. Jahrhundert • 20. Jahrhundert • Abenteuer • Aufstieg • Charakterstudie • Herz der Finsternis • Klassiker • Kolonialismus • Neuübersetzung • Niedergang • Offizier • Ostindien • Pilgerschiff • Schattenlinie |
ISBN-10 | 3-446-27351-4 / 3446273514 |
ISBN-13 | 978-3-446-27351-1 / 9783446273511 |
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