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Verlassen (eBook)

Ein Spreewald-Krimi
eBook Download: EPUB
2022 | 1. Auflage
320 Seiten
Aufbau digital (Verlag)
978-3-8412-2970-0 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Verlassen - Christiane Dieckerhoff
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Tod einer Heimkehrerin 

Kommissarin Klaudia Wagner wird in ein Nobelhotel gerufen. Eine Touristin aus Dortmund wird von ihren beiden Kindern vermisst. Tage später wird die Vermisste, die offenbar aus dem Spreewald stammt, tot aufgefunden - neben einem Fahrradhelm, den Klaudia sofort erkennt. Er gehört dem Sohn ihres Kollegen Demel, doch was kann ein vierzehnjähriger Junge mit einem Mord zu tun haben? 

Packend und hintergründig - der neue Spreewald-Krimi



Christiane Dieckerhoff lebt am nördlichen Rand des Ruhrgebiets. Nach über dreißig Berufsjahren als Kinderkrankenschwester und ersten erfolgreichen Veröffentlichungen wagte sie 2016 den Sprung in die Freiberuflichkeit. Im Aufbau Taschenbuch liegen ihre Spreewald-Krimis 'Vermisst' und 'Verfehlt' vor. Mehr zur Autorin unter www.krimiane.de

1. Kapitel


Das Mädchen setzt sich im Bett auf. Der Mond scheint durchs Fenster. Es ist verwirrt, weiß nicht, was es geweckt hat. Pipi muss es nicht, und Matte schläft ganz still. Warm schmiegen sich seine Füße an seine Wade. Vielleicht hat er es getreten, das macht er manchmal im Schlaf. Das Mädchen reibt sich die Augen, sie jucken vor Müdigkeit. Schritte im Treppenhaus. Für einen Moment schlägt sein Herz schneller. Mutti kommt, denkt es. Doch dann entfernen sich die Schritte, die Haustür wird aufgezogen und schließt sich mit einem wimmernden Quietschen. Die Enttäuschung schmeckt nach Tränen. Das Mädchen legt sich wieder hin, dreht sich auf die Seite, spürt den warmen Atem des Bruders. Sein Körper riecht nach Babypuder und ein bisschen nach Pipi. Das tut er jetzt immer. Wenn doch nur Mutti hier wäre. Das Mädchen blinzelt die Tränen weg, tastet nach Teddy, schmiegt sein Gesicht an seinen Bauch und atmet seinen Duft ein. Teddy ist sein bester Freund, auch wenn er kahle Stellen im Fell hat und ihm ein Ohr fehlt. Es spielt auch eigentlich nicht mehr mit ihm, nur wenn es allein ist oder sich fürchtet. Es ist nämlich schon groß. Mutti verlässt sich auf sie. Aber manchmal ist es schwierig mit dem Großsein und dann braucht es seinen Teddy, wie Mutti ihre Pause braucht. Und bestimmt kommt sie heute zurück. Sie muss einfach, weil … Das Mädchen weiß nicht, was nach diesem »weil« kommen könnte. Es weiß nur, dass Mutti immer zurückkommt.

Vorsichtig schiebt es sich aus dem Bett. Der Linoleumboden ist kalt unter seinen Füßen. Hastig läuft es ins Bad. Hier ist es warm. Die Heizung bullert. Über dem Badewannenrand liegt die Strumpfhose ihres Bruders. Es riecht auch nach Pipi und nach Groß. Er ist noch zu klein, um zur Toilette zu gehen, und sie hat nicht aufgepasst. Also ist es passiert. Das Mädchen hat die Strumpfhose ausgewaschen, bis seine Hände ganz rot waren vom kalten Wasser, trotzdem sind noch Flecken zu sehen. Es legt die Hand auf den kratzigen Strick. Trocken ist sie auch noch nicht. Mutti wird schimpfen. Das Mädchen setzt sich auf die Toilette. Der Rand drückt kalt gegen seine Oberschenkel. Es beeilt sich, hat Angst, dass eine Ratte aus der Kanalisation hochklettert. Eine Nachbarin hat davon erzählt. Nicht dem Mädchen, sondern einer anderen Frau. Es hat es nur gehört, weil es am Fenster gestanden und auf Mutti gewartet hat. Das Mädchen hat das Fenster nicht öffnen können, es klemmt, und nur Mutti hat genug Kraft, um es aufzuziehen, aber die Scheiben sind dünn, und die Nachbarin hat laut gesprochen. Ganz aufgeregt war sie. Fröstelnd zieht das Mädchen ab. Das Wasser gurgelt in die Toilettenschüssel. Es lauscht angespannt, hat Angst, dass der Lärm seinen Bruder weckt. Er will immer nur zu Mutti und weint dann. Und dann muss es auch weinen, und das darf das Mädchen nicht, weil es doch die große Schwester ist, die auf ihn aufpassen muss. Und wenn man weint, kann man nicht gut aufpassen. Dann kommen die Schrecken aus den Ecken. Deshalb schlafen sie auch in Muttis Bett, da ist kein Platz für Ungeheuer, weil die Koffer unter dem Bett liegen. Außerdem riecht das Kissen nach ihr, wenn jetzt auch nicht mehr so doll. Der Bruder hat Pipi ins Bett gemacht.

Das Mädchen wäscht sich die Hände. Das hat es im Hort gelernt. Da achten die Erzieherinnen auf so etwas. Wegen dem Pipi wird Mutti wütend sein, das Mädchen weiß das. Es hätte besser aufpassen müssen, aber es hat geschlafen. Wenn man schläft, kann man auch nicht gut aufpassen. Das Mädchen geht in die Küche, seine nackten Füße schmatzen über das Linoleum. Es schiebt einen Stuhl ans Fenster, klettert hinauf, legt die Ellbogen auf dem Kissen ab, das auf der Fensterbank liegt, und drückt die Stirn gegen die kühle Fensterscheibe. Sein Atem malt Wolken auf das Glas. Hinter den Häusern ist der Himmel schon hell, vor den Häusern dunkel. Es regnet. Im Licht der Straßenlaterne sieht der Regen aus wie Feengarn. Glitzernde Fäden aus Wasser und Licht. Ein Windstoß wirbelt sie durcheinander. Das Mädchen kneift die Augen zusammen und wünscht sich ganz fest, dass Mutti jetzt in diesem Moment zurückkommt. Da hallen Schritte von der Straße herauf: eilig, ein bisschen ungleichmäßig.

Das Mädchen richtet sich auf. Es hat funktioniert. Sein Herz schlägt schneller. Hinter ihm knackt die Heizung, die Atemwolken nehmen ihm die Sicht. Ungeduldig wischt es sie fort. Seine Augen tränen vor Müdigkeit und auch ein bisschen, weil es Hunger hat. Selbst die Suppe aus dem Hort würde es jetzt essen, wenn es auch am liebsten Kartoffelpüree mit Ei und Kompott mag. Vielleicht kann es Kartoffeln kochen, das Mädchen weiß, dass in dem Korb unter der Spüle welche sind, aber die sind verschrumpelt und haben kleine Arme und Beine gekriegt: weiß und knubbelig wie Maden. Das Mädchen presst das Ohr gegen die Glasscheibe. Doch die Schritte entfernen sich, sind bald nicht mehr zu hören, egal, wie angestrengt es lauscht. Das Mädchen steigt vom Stuhl, läuft zur Wohnungstür, legt das Ohr ans Türblatt.

Im Treppenhaus ist es still. Das Mädchen stellt sich auf die Zehenspitzen und zieht die Klinke herunter, obwohl es weiß, dass Mutti die Tür abgeschlossen hat. Das macht sie immer, wenn sie fortgeht, damit ihnen nichts passiert.

»Männi«, jammert der Bruder. Er kann den Namen des Mädchens nicht richtig aussprechen, also sagt er ihn, so gut er eben kann. Dem Mädchen ist es egal, es hört auch auf »Balg«, »Kurze« und »Lass-mich‑in-Ruhe«.

Das Mädchen läuft ins Schlafzimmer zurück. Der Bruder soll nicht sehen, dass es auf die Mutter wartet, dann weint er nur wieder. Matte steht vor dem Bett, seine Schlafanzughose ist dunkel vor Nässe. Das Unglück muss gerade erst passiert sein. Seine Füße stehen in einer Pfütze.

Das Mädchen wäre jetzt am liebsten wieder ins Bett gegangen, hätte die Nase in Muttis Kopfkissen vergraben und die Augen fest zugekniffen. In Momenten wie diesen versteht es, dass Mutti eine Pause braucht. Ihm wird auch gerade alles zu viel. Wenn es wenigstens schaffen würde, dem Bruder die Gummihosen mit den weichen Windeltüchern anzuziehen, aber er will nicht, schreit und kreischt, wenn sie es versucht, bis die Nachbarin wieder gegen die Wand klopft. Das Mädchen geht zu dem Bruder, der zieht den Kopf zwischen die Schultern.

»Komm«, das Mädchen nimmt ihn an die Hand, führt ihn ins Bad. Dort hilft es ihm, sich die Hose von den nassen Beinen zu strampeln. Er klettert in die Wanne, landet auf dem Po, verzieht das Gesicht, als wollte er weinen, als das Mädchen das Wasser aufdreht.

»Kalt«, wimmert er.

»Geht schnell«, tröstet ihn Männi. Ein Badeofen steht neben der Wanne, aber das Mädchen weiß nicht, wie es ihn in Betrieb nimmt. Nur Mutti kann das, aber Mutti ist nicht hier.

Hastig seift es Matte ab, hilft ihm aus der Wanne. Er zittert jetzt, seine Zähne klappern und seine Lippen schimmern bläulich. Männi hüllt ihn in ein Handtuch. Das wenigstens ist warm, weil es über der Heizung gelegen hat. Wie die funktioniert, weiß Männi.

»Ich will Mutti«, jammert er.

»Mutti kommt bald«, tröstet sie Männi und schluckt dabei ihre Tränen herunter. Sie hat keine Ahnung, wie lange Mutti diesmal wegbleibt. Aber der Bruder spürt ihre Angst.

»Ich will Mutti«, wiederholt er und kreischt jetzt doch. Seine Schreie hallen von den Fliesen zurück. Männi schlägt ihm ins Gesicht, wie Mutti es macht. Der Schlag brennt in ihrer Handfläche. Den Mund zu einem erstaunten »Oh« geöffnet, starrt der Bruder sie an. Schnodder läuft ihm aus der Nase, seine Wange rötet sich. Männi sieht jeden einzelnen Finger ihrer Hand. Sie senkt den Blick, schämt sich. Der Bruder ist jetzt zwar ruhig, trotzdem fühlt sie sich nicht besser. Mit dem Handtuch wischt sie ihm den Schnodder weg.

»Tut mir leid«, murmelt sie. »Mir ist die Hand ausgerutscht.« Das sagt Mutti auch immer, und dann weint sie und schließt sich in ihrem Schlafzimmer ein. Das würde Männi jetzt auch gerne tun, aber dann würde der Bruder wieder kreischen. Also nimmt sie seine Hand und zieht ihn in das Zimmer, in dem sie schlafen, wenn Mutti nicht weg ist. Der Raum ist ein schmaler Schlauch, die Kinderbetten stehen hintereinander. Dazwischen der Schrank. Seine Türen stehen offen. Überall liegt Kleidung herum. Auch hier riecht es nach Pipi. Der Geruch kommt von der Matratze, die Männi zum Trocknen vor die Heizung geschoben hat. Es...

Erscheint lt. Verlag 11.4.2022
Reihe/Serie Ermittlungen im Spreewald
Ermittlungen im Spreewald
Sprache deutsch
Themenwelt Literatur Krimi / Thriller / Horror Krimi / Thriller
Schlagworte Christiane Dieckerhoff • Fährmann • Hauptkommissarin • Hochwald • Lübben • Lübbenau • Spreewald • verlassene Kinder • Vermisstenanzeige • Wendezeit
ISBN-10 3-8412-2970-0 / 3841229700
ISBN-13 978-3-8412-2970-0 / 9783841229700
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