Schärennacht (eBook)
496 Seiten
Goldmann Verlag
978-3-641-27450-4 (ISBN)
»Am schwedischen Krimihimmel ist ein neuer Stern aufgegangen. Lina Areklew hat mich von der ersten bis zur letzten Seite in Atem gehalten.« Lina Bengtsdotter
Sofia Hjortén ist in ihre Heimat Ulvön, eine kleine Insel im Schärengarten der Höga Kusten zurückgekehrt. Nach einem Schicksalsschlag steht ihre Karriere als Kommissarin in Stockholm still, der Polizeidienst in der malerischen Küstenregion ist unaufgeregt. Doch dann wird an Mittsommer ein Mann grausam am Bootssteg erschlagen. Die Mordermittlungen spülen für Sofia vergessene Gefühle an die Oberfläche, denn dringend tatverdächtig ist ihr ehemaliger Freund Fredrik Fröding. Sofia will Fredriks Unschuld beweisen und kommt auf die Spur erschütternder Ereignisse, die sich tief in das Leben der Inselbewohner gebrannt haben ...
Lina Areklew, geboren 1979 in Stockholm, wuchs an der schwedischen Höga Kusten auf und kennt die Küstenregion, die als Schauplatz ihrer Krimireihe um die Kommissarin Sofia Hjortén dient, wie ihre Westentasche. Sie lebt auf einem kleinen Bauernhof in Örnsköldsvik und in Stockholm.
2.
»Fredrik?«
Torsten Bredh schnippte mit den Fingern und legte den Kopf schief, um seinen Blick einzufangen.
Draußen vor dem Fenster des Psychiaters schien die Sonne, und Fredrik betrachtete die Schmutzränder auf den nicht geputzten Scheiben. Er war tief in Gedanken versunken. Hörte die Taue am Gummiboot schaben. Spürte Niklas’ kalte Hand, die krampfhaft die seine umklammerte, wenn die Wellen über sie schlugen.
Erst hatten sie gelacht. Dann vor Freude darüber geweint, wie absurd es war, dass sie beide es raus- und dann hinunter- in dasselbe Rettungsboot geschafft hatten. Doch je länger sie auf Rettung warten mussten, desto stiller waren sie geworden. Fredrik hatte getröstet, hatte versucht, seinen kleinen Bruder davon zu überzeugen, dass alles gut werden würde. Obwohl die Gedanken an die in der Fähre, im Wasser, in der Tiefe Verbliebenen ihn innerlich zerrissen. Die Gedanken an Mama und Papa. Schließlich hatten sie einander nur noch umarmt, sich am anderen festgeklammert und beruhigende Worte ohne Bedeutung geflüstert. Direkt neben ihnen waren zwei Menschen gestorben, doch keiner der anderen im Boot hatte das kommentiert. Sie hatten einfach nur wie versteinert dagesessen. Bis diese letzte Welle kam …
Fredrik hob den Blick und ließ ihn über Torstens im Hippie-Stil eingerichtete Praxis wandern. Sein zweites Zuhause im dritten Stock eines Hauses am Sveavägen. Die gesetzliche Krankenversicherung hatte ihn schon lange aufgegeben, da war die private psychiatrische Praxis das Einzige, was noch blieb. Als Fredriks Arzt nur resigniert mit den Schultern gezuckt und angefangen hatte, über Frührente zu reden, da hatte Torsten seine Praxis mit der Ausrichtung auf Trauerarbeit und Posttraumatisches Stresssyndrom gerade neu eröffnet. Fredriks Krankenakte war an Torsten übermittelt worden, und seither kam er hierher.
Die meisten von Torstens anderen Patienten waren inzwischen schon weitergezogen. Hatten sich ein neues Leben gesucht, die Wunden heilen lassen. Er nicht.
»Fredrik?«
»Ja?« Er blickte auf die grünkarierte Hemdtasche des Psychiaters.
»Ich habe gefragt, woran Sie denken.«
»Niklas.«
Torsten gab sich große Mühe, seine Enttäuschung zu verbergen, doch seine hochgezogene Augenbraue verriet, dass dies nicht die Antwort war, die er hatte hören wollen.
»Gestern habe ich ihn wiedergesehen.«
Torsten senkte den Blick und ließ die Luft langsam durch die Nasenlöcher entweichen.
»Aha. Wo ist er denn diesmal aufgetaucht?«
Fredrik war durchaus bewusst, dass Torstens Frage nicht aus einem ehrlichen Interesse herrührte, deshalb zuckte er nur mit den Schultern.
»Spielt das noch eine Rolle?«
Torsten antwortete seinerseits mit einem Achselzucken. Dies war ein gut eingeübter Tanz zwischen ihnen beiden.
»Fünfundzwanzig Jahre ist das jetzt her, nicht wahr?«
Eine rhetorische Frage, aber Fredrik nickte dennoch.
»Haben die Medien Kontakt zu Ihnen aufgenommen?«
Noch ein Nicken.
Torsten lehnte sich auf seinem Stuhl zurück.
»Erzählen Sie, wo haben Sie ihn gesehen?«
Das hier war das Finale des Tanzes. Es entsprach kaum einem der zahlreichen Behandlungsprogramme oder einer der Methoden, die Torsten in der Hoffnung, dass Fredrik sich weiterentwickeln würde, mit ihm zusammen ausprobiert hatte. Stattdessen ließ er ihn inzwischen wieder und wieder von der Trauer, der Angst und dem quälenden schlechten Gewissen reden, mit dem er lebte. Die Schuld, die er darüber empfand, in jener Nacht die Hand seines Bruders losgelassen zu haben. Dass er ihn nur wenige Momente, ehe der Rettungskreuzer sie erreichte, hinaus ins schwarze Wasser hatte gleiten lassen.
»Wo haben Sie ihn gesehen?«, wiederholte Torsten.
Fredrik schloss die Augen und legte den Kopf in die Hände.
Er war guter Dinge gewesen und den Karlavägen entlanggegangen. Zwei Kollegen von der Pass-Stelle in Sollentuna hatten ihn gefragt, ob er nach der Arbeit auf ein Bier mitkommen würde. Um auf den bevorstehenden Urlaub anzustoßen. Sie waren in einem Gartenlokal in der Nähe des Stureplan gelandet, und aus einem Bier waren mehrere geworden. Eine schlechte Kombination zusammen mit den vier Tabletten, die er am Nachmittag genommen hatte. Sie hatten über die Arbeit geredet und darüber, welche Pläne alle für den Sommer hatten. Fredrik hatte gelogen und gesagt, er würde mit ein paar Freunden segeln gehen. Das hatte sich gut angefühlt. Fast wie ein richtiges Leben. Auf dem Nachhauseweg hatte er am Kiosk Halt gemacht, um ein Wasser zu kaufen. Als er die Geheimzahl der Kreditkarte eingeben musste, war es ihm schwergefallen, den Blick zu fokussieren, und als er sich an der Schlange vorbei zum Ausgang quetschte, torkelte er.
Und da war es passiert.
Vor dem Laden kam ein Mann mit schwarzer Schirmmütze und hellem Kapuzenpullover in raschem Tempo so dicht an ihm vorbei, dass Fredrik abbremsen musste, um nicht in ihn hineinzulaufen. Er sah dem Mann nach, der mit gesenktem Kopf, als würde er seine Schuhe betrachten oder sein Gesicht verbergen wollen, zum Fußgängerüberweg ging. Fredrik hatte schon ein kurzer Blick auf das Profil des anderen genügt.
Es war Niklas. Er wusste es.
Noch ehe er reagieren konnte, war die Ampel auf Rot gesprungen, und auf der vierspurigen Straße fuhren die Autos. Er hatte gerufen. Wieder und wieder hatte er Niklas gerufen, doch der Mann hatte nicht reagiert. Ohne nachzudenken, hatte sich Fredrik auf die Straße zwischen den Autos gestürzt und war gerannt, bis ihm das Herz in der Brust zu explodieren drohte. Er war zwischen den Abendspaziergängern hindurchgekreuzt und hatte die ganze Zeit versucht, die schwarze Kappe nicht aus den Augen zu verlieren, die sich schnell durch die Menschenmenge bewegte. Das Letzte, was er von Niklas sah, war, wie er an der Ecke vom Humlegården auf den Eingang des Hotel Ceder City East zusteuerte und einem rothaarigen Mann, der draußen stand, die Hand gab, um dann im Hotel zu verschwinden. Fredrik war wie gelähmt stehen geblieben, plötzlich unsicher, ob er sich nicht doch getäuscht hatte.
»Fredrik.«
Er öffnete die Augen und sah zu Torsten, der sich nach dem Laptop streckte, der ein Stück rechts von ihm auf dem Schreibtisch stand. Ein sicheres Anzeichen, dass ein neues Rezept ausgestellt werden würde. Torsten achtete immer darauf, seinen Bürostuhl so zu verschieben, dass der Schreibtisch nicht zwischen ihnen stand. Als ob der Psychiater gezwungen wäre, dicht bei ihm zu sitzen, um das innere Chaos zu verstehen, das in ihm und all den anderen armen Teufeln herrschte, die in dieser Praxis landeten.
Du wirst es nie verstehen. Ganz gleich, wie viel du deinen Bürostuhl auch herumschiebst.
»Fredrik, wenn Sie wieder Halluzinationen haben, bin ich verpflichtet, mit Ihnen über die Einweisung in eine psychiatrische Klinik zu sprechen. Ich möchte Ihnen ungern weitere Tabletten verschreiben, ohne dass wir einen Plan für die Zukunft haben.«
Fredrik nickte und holte Luft. Für gewöhnlich war Torsten nicht knickerig mit den Medikamenten. Er empfing ihn zu jeder Tageszeit, hörte ihm zu und verschrieb ihm dann Tabletten, doch es kam vor, dass er eine Gegenleistung verlangte. So hatte er Fredrik schon mehr als einmal in Spezialkliniken und zu experimentellen Behandlungen geschickt. Manchmal half das für eine Weile, manchmal nicht. Jedenfalls kehrte die Angst immer wieder zurück, und dann brauchte er seine Tabletten.
Torsten fixierte seinen Blick.
»Fredrik. Sie wissen, dass Ihr kleiner Bruder tot ist, nicht wahr?«
Fredrik schaute wieder aus dem Fenster. Schreckte zusammen, als er hörte, wie draußen etwas mit einem Kreischen auf den Asphalt schlug. An die Geräusche erinnerte er sich am besten. Wie das Wasser um ihn herum zu kochen schien. Die Fenster der Kajüten, die vom Druck explodierten. Eines nach dem anderen, wie Silvesterknaller.
Was Torsten sagte, spielte keine Rolle. Nichts, was irgendjemand sagte. Niklas musste in ein anderes Rettungsboot geklettert sein. Es waren mehrere in der Nähe gewesen. Und Helikopter auch. Er trug eine Schwimmweste. Vielleicht hatte er zu sehr unter Schock gestanden, um zu sagen, wer er war, oder er war mit jemandem verwechselt worden. Oder aber, er war … Nein, Niklas musste überlebt haben.
Als Fredrik aus Torstens Praxis kam, brannten seine Handrücken vom Kratzen. Mit schnellen Schritten ging er den Sveavägen hinauf und in die erstbeste Apotheke. Kaum wieder auf der Straße, riss er schon die Verpackung auf, nahm zwei Tabletten und lief dann zum Hotel. Aus Angst, dass er sich wieder getäuscht haben könnte, hatte er gestern nicht gewagt, das Gebäude zu betreten. Aber jetzt war er entschlossen. Er würde hineingehen.
Fredrik blieb auf der anderen Straßenseite stehen und betrachtete die Menschen, die durch die breiten Glastüren kamen und gingen. Er strich sich mit beiden Händen das etwas zu lange dunkle Haar aus der Stirn, zögerte einen Moment, steuerte dann aber mit entschiedenen Schritten auf den Eingang zu.
Der Portier in blauem Jackett hielt ihm höflich die Tür auf. Er ließ ein älteres Paar vorbei, das, jeder mit einem Kabinenkoffer ausgestattet, auf dem Weg hinaus war, und stand dann mitten in der in Gold gehaltenen Lobby. An der Decke hing ein riesiger Kristalllüster, und entlang der einen Wand verlief ein langer Rezeptionstresen aus Chrom. Dahinter standen junge Frauen und Männer, die ebensolche blauen Jacketts trugen wie der Portier. Fredriks Sichtfeld verschwamm an den Rändern, und er musste seinen ganzen Körper drehen, um den...
Erscheint lt. Verlag | 1.4.2022 |
---|---|
Reihe/Serie | Ein Fall für Sofia Hjortén |
Ein Fall für Sofia Hjortén | Sofia Hjortén |
Übersetzer | Susanne Dahmann |
Sprache | deutsch |
Original-Titel | Ur Askan |
Themenwelt | Literatur ► Krimi / Thriller / Horror ► Krimi / Thriller |
Schlagworte | 2022 • eBooks • Krimi • Kriminalromane • Krimis • Krimi Skandinavien • krimi und thriller • Neuerscheinung • Neuerscheinungen 2022 • Nordische Krimis • Schweden • Sommer |
ISBN-10 | 3-641-27450-8 / 3641274508 |
ISBN-13 | 978-3-641-27450-4 / 9783641274504 |
Haben Sie eine Frage zum Produkt? |
Größe: 5,6 MB
DRM: Digitales Wasserzeichen
Dieses eBook enthält ein digitales Wasserzeichen und ist damit für Sie personalisiert. Bei einer missbräuchlichen Weitergabe des eBooks an Dritte ist eine Rückverfolgung an die Quelle möglich.
Dateiformat: EPUB (Electronic Publication)
EPUB ist ein offener Standard für eBooks und eignet sich besonders zur Darstellung von Belletristik und Sachbüchern. Der Fließtext wird dynamisch an die Display- und Schriftgröße angepasst. Auch für mobile Lesegeräte ist EPUB daher gut geeignet.
Systemvoraussetzungen:
PC/Mac: Mit einem PC oder Mac können Sie dieses eBook lesen. Sie benötigen dafür die kostenlose Software Adobe Digital Editions.
eReader: Dieses eBook kann mit (fast) allen eBook-Readern gelesen werden. Mit dem amazon-Kindle ist es aber nicht kompatibel.
Smartphone/Tablet: Egal ob Apple oder Android, dieses eBook können Sie lesen. Sie benötigen dafür eine kostenlose App.
Geräteliste und zusätzliche Hinweise
Buying eBooks from abroad
For tax law reasons we can sell eBooks just within Germany and Switzerland. Regrettably we cannot fulfill eBook-orders from other countries.
aus dem Bereich