Zu Prozessbeginn wird der Psychologe Dr. Philip Taiwo vom Vater eines der Opfer damit beauftragt, Licht in das Dunkel der schrecklichen Ereignisse zu bringen, die zum Tod seines Sohnes geführt haben. Taiwo, Spezialist für Massenpsychologie und Gewalt, hat lange im Ausland gelebt. In der abgelegenen Provinzstadt angekommen, muss er feststellen, dass ihm vieles fremd geworden ist in seiner Heimat, noch dazu weit weg von der Hauptstadt Lagos. Die Bewohner begegnen ihm mit Misstrauen. Und schnell wird Taiwo klar: Er ist nicht willkommen - und jemand setzt alles daran zu verhindern, dass er die Wahrheit aufdeckt.
Femi Kayode wuchs in Nigeria auf. Nach dem Studium der Klinischen Psychologie an der University of Ibadan in Lagos arbeitete er viele Jahre in der Werbebranche. Er war Stipendiat an der University of Southern California und der University of Washington, Seattle. Seine Arbeiten fürs Fernsehen wurden mehrfach mit Preisen ausgezeichnet. 2017 schloss er das renommierte Creative Writing Programm der University of East Anglia mit Auszeichnung ab. Kayode lebt mit seiner Frau und seinen beiden Söhnen in Windhoek, Namibia.
DIE SÜNDEN DER VÄTER
In den Tagen nach dieser ersten Begegnung fragte Abubakar immer wieder bei mir nach und versuchte mich dazu zu überreden, den Auftrag anzunehmen. Ich konnte ihm schlecht sagen, dass die Okriki Three im Moment das Letzte waren, was mich interessierte. Ich ignorierte Emeka Nwamadis Textnachrichten und nahm auch seine Anrufe nicht an. Es war nicht etwa so, als ob ich mich querstellte – ich war einfach nicht in der Verfassung, irgendeine Verpflichtung einzugehen.
Bis zu dem Tag, als mein Vater mich zu sich bestellte.
Im Taiwo-Clan kann man den Ernst einer Situation an der Tageszeit erkennen, die meine Eltern für deren Besprechung ansetzen. Für das ganze Spektrum von einer Gardinenpredigt wegen unterdurchschnittlicher schulischer Leistungen bis hin zu schwerwiegenden Verletzungen der Familienehre fanden die Familienkonferenzen immer am späten Abend statt, da zu dieser Zeit keine Störung durch Besucher zu befürchten war. Für ernste Gespräche, die mein Vater »Strategiebesprechungen« nennt, sind hingegen heutzutage die frühen Morgenstunden reserviert. Dann wird über Karriereplanung diskutiert, es geht um das Verhalten des einen oder anderen meiner drei Geschwister oder um die Höhe unseres finanziellen Beitrags zu diversen Familienprojekten, zu denen mein Vater seine Kinder verpflichtet, gewöhnlich ohne unsere Zustimmung.
Als ich die Textnachricht erhielt, in der ich aufgefordert wurde, mich in aller Frühe in unserem Einfamilienhaus auf Lagos Island einzufinden, fragte ich mich, ob Folake ihm ihren Fehltritt gebeichtet und ihn als Vermittler eingespannt hatte, um meine Vergebung zu erbitten. Aber ich verwarf den Gedanken rasch wieder. Mein Vater ist Folakes Taufpate, und sie haben seit ihrer Kindheit ein sehr enges Verhältnis. Ich habe in meinem Leben nicht viel getan, was meinen Vater beeindruckt hat, aber seine Patentochter zu heiraten kann man wohl mit den Worten meines Zwillingsbruders als das »Schachmatt der Geschwisterrivalität« bezeichnen. Folake würde nicht riskieren, das Bild, das er von ihr hat, zu trüben, und wenn, dann nur als allerletzten Ausweg.
Dad wartete auf mich, als ich eintraf. Mom lag noch im Bett. Seit sie nicht mehr als Oberschwester in der Praxis meines Vaters arbeitet, besteht sie darauf auszuschlafen – sie habe schließlich dringend Erholung nötig, erklärte sie, nachdem sie zwei Zwillingspaare aufgezogen habe und zudem mit einem Workaholic als Ehemann fertigwerden musste. Auf die Frage, warum meine Eltern nicht mehr Kinder hätten, antwortete mein Dad stets scherzhaft, er habe befürchtet, dass sie als Nächstes Sechslinge bekommen würden. Er ist jetzt Ende siebzig und arbeitet immer noch in seiner Praxis unweit unseres Hauses, und es war klar, dass er sich gleich nach unserer Besprechung dorthin begeben würde.
»Kehinde!«, rief er, schloss mich in die Arme und führte mich dann durch das große Wohnzimmer in sein Arbeitszimmer.
Mein Vater nennt mich nie »Philip«. Er besteht darauf, dass »Kehinde« der Name ist, mit dem ich geboren wurde, und dass »Philip« die Idee meiner Mom bei der Taufe war. Es stimmte mich bedenklich, dass er mich nicht mit dem Spitznamen »Kenny Boy« ansprach, den er sich für mich ausgedacht hat, um mich von einer der jüngeren Zwillinge zu unterscheiden, die ebenfalls eine Kehinde ist. Sie heißt »Kenny Girl«. Während ich kein Problem damit habe, von dem alten Herrn so tituliert zu werden, ist meine Schwester alles andere als glücklich darüber, mit vierundvierzig noch »Mädchen« genannt zu werden.
»Ich habe letzte Woche mit den Jungs gesprochen«, sagte mein Vater, als ich auf dem abgenutzten Ledersofa Platz nahm, gegenüber dem Regal mit seiner eindrucksvollen Büchersammlung.
Ich atmete durch und wappnete mich mit Geduld, als der alte Herr mit seinem Lieblingsthema loslegte: die schulischen Leistungen seiner Enkelkinder oder vielmehr ihre Leistungsschwäche. Er klagte über ihre Handschrift, die er »krakelig« nannte – eine Kritik, die aus dem Mund eines Arztes irgendwie ironisch klang. Er ließ mich wissen, dass er gerade die Lektüre des Harry-Potter-Romans beendet hatte, den meine Tochter ihm geschenkt hatte. – »Hexen und Zauberer! Ist es das, was diese Kinder heutzutage lernen?« Er sprach über meine Mutter, die es sich in den Kopf gesetzt hatte, Gluten aus ihrem Speiseplan zu verbannen. »Ich bin achtundsiebzig! Was denkt sie sich dabei?«
Als er endlich eine Atempause einlegte, stand ich auf und ging zur Espressomaschine in der Ecke des Zimmers, ehe ich zu fragen wagte, warum er mich herbestellt habe.
»Setz dich!«, forderte Dad mich auf.
Ich gehorchte und verzichtete auf den Kaffee, immer noch nervös, weil ich keine Ahnung hatte, was er von mir wollte. Er setzte sich ebenfalls, und seine Miene wurde ernst, was meine Unruhe noch verstärkte.
»Ein guter Freund von mir sagt, dass du ihm aus dem Weg gehst«, begann er schließlich.
»Wie bitte?«
»Ich rede von Emeka Nwamadi.«
»Du kennst ihn?« Es hätte mich nicht überraschen sollen. Das Netzwerk der Freunde und Patienten meines Vaters liest sich wie ein Who’s Who der oberen Zehntausend von Lagos.
»Ja. Wir spielen zusammen Golf im Country Club.«
»Das hat er bei unserem Treffen nicht erwähnt. Er wurde mir vom Kommandanten der Polizeiakademie vorgestellt.«
»Ich weiß. Ich vermute, er wollte dich nicht ungebührlich beeinflussen.«
»Hmm, ich frage mich, was sich seither geändert hat«, bemerkte ich trocken und lehnte mich auf dem Sofa zurück, ein wenig entspannter, nachdem ich eine Vorstellung davon hatte, worum es hier ging.
»Es ist wirklich traurig, was mit seinem Sohn und diesen anderen Jungen passiert ist, findest du nicht?«
»Furchtbar«, entgegnete ich zögernd, während ich noch rätselte, worauf er genau hinauswollte.
»Ich finde, du solltest ernsthaft erwägen, den Fall zu übernehmen.« Er sah mir dabei unverwandt in die Augen, und sein Ton war eisern.
»Aber Dad, ich wüsste nicht, wie ich da helfen kann. Die ganzen Berichte …«
»… sind nichts als Spekulationen, Gerüchte und Mutmaßungen. Wir müssen die Wahrheit ans Licht bringen.«
»Wir?«
Mein Vater seufzte tief, stand auf und schleppte sich zu seinem Bücherregal, aus dem er eine zerfledderte braune Aktenmappe zog. Er nahm ein altes Foto heraus und reichte es mir.
Ich erkannte eine jüngere Version meines Vaters – meine Zwillingssöhne sehen ihm verblüffend ähnlich, und es war, als ob ich einen von ihnen auf dem Foto erblickte. Er war umringt von fünf anderen jungen Männern, alle ungefähr in seinem Alter.
»Aus deiner Studentenzeit, hm?« Ich glaubte, mindestens zwei der jungen Männer auf dem Foto zu erkennen. Ihre Gesichter waren mir von den Ehemaligentreffen vertraut, zu denen mein Vater schon des Öfteren in unser Haus eingeladen hatte.
»Meine Bruderschaft an der Universität von Ibadan.« Die Nostalgie milderte den Ton seiner Stimme. »Wir waren unzertrennlich. Als Brüder zusammenstehen oder als Narren untergehen, das war unser Motto.«
Mein Blick erfasste die roten Halstücher, die alle jungen Männer auf dem Foto trugen, und da wurde es mir plötzlich klar: »Dad, warst du in einem Kult?«
»Sag das nicht«, entgegnete er scharf. »Nenn uns nie wieder …«
»Bruderschaft, Kult – wo ist da der Unterschied?«
Er fuhr auf. »Wir waren Ehrenmänner.« Seine Stimme war herrisch und duldete keinen Widerspruch. »Wir hatten nichts gemein mit diesen Jungen von heute. Wir waren Brüder – politisch bewusst, hervorragende Akademiker und vor allem Gentlemen.«
Ich sah das Foto an, und meine Hand zitterte leicht, als mir klar wurde, dass ich das Bild, das ich von meinem Vater hatte, würde revidieren müssen, ganz gleich, was er sagte.
»Ich bin immer noch dieselbe Person«, sagte er, als hätte er meine Gedanken gelesen. Er setzte sich neben mich, nahm mir das Foto aus der Hand, und seine Stimme wurde sanfter, als er es betrachtete. »Genau wie all die anderen auf dieser Aufnahme. Das da«, er zeigte auf einen der jungen Männer, »ist Dr. Chukwuji Nwamadi. Er war einer der ersten Dozenten an der University of Nigeria in Nsukka, und wir verloren ihn, als der Campus während des Krieges bombardiert wurde. Wir Übrigen haben dann zusammengelegt und unterstützen seither seine Familie. Seine Frau, seine Kinder …« Er sah mich eindringlich an. »Und vor allem seinen ältesten Sohn Emeka.«
»Und deswegen willst du, dass ich den Fall übernehme? Weil du Emekas Vater gekannt hast?«
»Ich fühle mich für ihn verantwortlich. Alle anderen auf diesem Foto empfinden das genauso. Sein Vater war unser Bruder. Aber das hier geht darüber hinaus. Diese jungen Leute von heute, die mit Waffen herumlaufen und sich gegenseitig umbringen, die haben unser Vermächtnis in den Dreck gezogen. Die Gesetze, die wir durchgesetzt haben, das Bewusstsein für Ungerechtigkeiten, das wir geweckt haben, unser Protest gegen den Bürgerkrieg – all das ist vergessen, denn wenn die Menschen heute an Studentenverbindungen denken, sehen sie nichts als Chaos und Gewalt.« Er schauderte und schüttelte betrübt den Kopf. »Und wenn es zu einer so furchtbaren Gewalttat kommt wie im Fall dieser drei Jungen, muss man sich einfach fragen, welche Rolle wir bei dem Ganzen gespielt haben, ob all das Blutvergießen vermeidbar gewesen wäre. Das war nicht das, was wir damals wollten. Unsere Vision war ursprünglich eine heroische.« Er seufzte ernüchtert auf.
»Weiß Emeka das von dir? Ich meine, das mit...
Erscheint lt. Verlag | 11.7.2022 |
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Reihe/Serie | Psychologe Dr. Philip Taiwo ermittelt |
Übersetzer | Andreas Jäger |
Sprache | deutsch |
Original-Titel | Lightseekers |
Themenwelt | Literatur ► Krimi / Thriller / Horror ► Krimi / Thriller |
Schlagworte | 2022 • Afrika • eBooks • Krimi • Kriminalromane • Krimis • Lagos • Neuerscheinung • Nigeria • UEA Crime Writing Prize |
ISBN-10 | 3-641-25600-3 / 3641256003 |
ISBN-13 | 978-3-641-25600-5 / 9783641256005 |
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