Ärztin einer neuen Ära (eBook)
400 Seiten
Piper Verlag
978-3-492-60111-5 (ISBN)
Yvonne Winkler wurde 1967 geboren. Im Gegensatz zu Hermine Heusler-Edenhuizen musste sie nicht darum kämpfen, Medizin zu studieren und in der Radiologie zu arbeiten. Stattdessen musste sie viele Widerstände überwinden, um den weißen Kittel an den Nagel hängen zu können, ihrer inneren Stimme zu folgen und das Schreiben zum Beruf zu machen. Seit 1998 arbeitet sie als freie Autorin unter verschiedenen Pseudonymen und lebt mit ihrem Mann und ihren beiden Kindern in Hamburg.
Yvonne Winkler wurde 1967 geboren. Im Gegensatz zu Hermine Heusler-Edenhuizen musste sie nicht darum kämpfen, Medizin zu studieren und in der Radiologie zu arbeiten. Stattdessen musste sie viele Widerstände überwinden, um den weißen Kittel an den Nagel hängen zu können, ihrer inneren Stimme zu folgen und das Schreiben zum Beruf zu machen. Seit 1998 arbeitet sie als freie Autorin unter verschiedenen Pseudonymen und lebt mit ihrem Mann und ihren beiden Kindern in Hamburg.
Kapitel 3
Das Erste, was Hermine registrierte, als der Wagen Pewsum erreichte, war die alte Manningaburg. Es war keine romantische Burg mit Erkern und Türmen, wie man sie von Bildern vom Rhein oder von der Saale kannte, sondern eine friesische Wasserburg – niedrig, mit dicken, lehmverputzten Mauern und kleinen Fensterluken. Vor vierzig oder fünfzig Jahren hatte der Großvater ihrer Mutter die Burg erworben. In der Familie Dieken hieß es, dass er ursprünglich darin wohnen wollte. Doch das alte Gemäuer war zu dunkel, zu kalt, zu zugig, und so hatte er die Neue Burg errichten lassen, ein großzügiges Gutshaus, nur einen Steinwurf von der alten Burg entfernt. Hermines Mutter Aafke war eine geborene Dieken gewesen. Dass sie ausgerechnet den armen, aber strebsamen jungen Arzt Martin Edenhuizen geheiratet hatte, war erstaunlicherweise auf Wohlwollen gestoßen in der alten friesischen Familie, deren Stammbaum bis in die Zeit der Manninga zurückreichte. Und so durfte das junge Paar die Neue Burg beziehen, die ausreichend Raum für die sieben Kinder und die Arztpraxis bot.
Der Kutscher lenkte die Droschke durch das Tor. Die Sonne stand schon tief, nicht mehr lange, dann würde es dunkel werden. Auf den Rasenflächen im großzügigen Garten bildeten Krokusse, Schneeglöckchen, Winterlinge und Märzenbecher einen zarten Teppich aus Lila, Gelb und Weiß. Ein Anblick, über den Hermine sich dieses Mal nicht freuen konnte. Sie wollte jetzt nicht hier sein. Jedenfalls nicht, um am Sterbebett ihres Vaters zu sitzen.
Das Geräusch der Pferdehufe und das Knirschen der Räder auf dem Kies mussten bis ins Haus zu hören gewesen sein. Denn kaum hatte der Kutscher das Pferd auf dem Vorplatz der Neuen Burg zum Stehen gebracht, öffnete sich auch schon die breite Eingangstür. Cornelia, Hermines ein Jahr jüngere Schwester, blieb kurz auf der Schwelle stehen, als müsste sie sich erst klar darüber werden, wer von den Leuten, auf die sie wartete, in dem Wagen saß. Dann raffte sie ihren Rock und lief die Stufen hinunter.
»Hermine!«
In diesem einen Wort schwang alles mit: Erleichterung, Hoffnung, Freude, Angst, Trauer, Einsamkeit.
Hermine drückte dem Kutscher rasch seine Münzen in die Hand. Es waren wohl ein paar mehr, als ihm eigentlich zustanden, aber sie gab ihm mit einem Nicken zu verstehen, dass es in Ordnung sei. Die Zeit war ihr zu kostbar, um auf das Wechselgeld zu warten. Er beschwerte sich nicht.
»Hermine! Wir hätten dich doch vom Bahnhof abgeholt. Aber wir wussten gar nicht, wann du kommst.«
»Weil ich vor Aufregung und Angst vergessen habe, euch zu telegrafieren.« Sie umarmte ihre Schwester, hinter ihr rollte die Droschke auf knirschendem Kies davon. »Wie geht es Vater?«
»Es ist gut, dass du jetzt da bist. Das wird es ihm leichter machen.«
Erst jetzt fielen Hermine die bleichen Wangen und dunklen Augenränder im Gesicht der Schwester auf. Für einen erschreckenden Moment dachte sie an eine tödliche Seuche, von der die Familie Edenhuizen heimgesucht wurde und an der nun auch ihre Schwester litt. Ubbo fiel ihr ein, ihr älterer Bruder. Er war an Kehlkopftuberkulose gestorben, als sie sechzehn gewesen war. Dass Tuberkulose in manchen Familien schrecklich wütete, war allgemein bekannt. Hatte diese tödliche Krankheit all die Jahre nur geschlummert?
»Es geht mit ihm zu Ende, Hermine. Der Arzt sagte gestern, es wäre ein Wunder, wenn Vater diese Woche überlebt. Deshalb hat Jacob dir auch gleich telegrafiert.« Cornelia lehnte ihren Kopf kurz an Hermines Schulter, so wie sie es früher getan hatte, wenn sie ihr Herz bei ihr ausgeschüttet und ihren Trost und Zuspruch gebraucht hatte. »Ich bin so froh, dich zu sehen!«
»Ja. Ich bin jetzt hier.« Hermine gab ihrer Schwester einen Kuss auf die Stirn. »Lass uns hineingehen. Ich lege nur ab und wasche mir rasch die Hände, dann gehe ich zu Vater.«
Cornelia nickte und wischte sich die Augen mit ihrem Schürzenzipfel trocken.
»Er liegt oben in seinem Zimmer. Es ist immer einer von uns an seinem Bett. Jetzt ist Jacob gerade bei ihm.«
Die zehn Stufen, die zum Hauseingang führten, waren Hermine noch nie so steil vorgekommen, und ihre Reisetasche schien mit jeder Treppenstufe mehr zu wiegen.
In der geräumigen Eingangshalle umgab sie Stille. Nur die Standuhr in der Halle tickte gleichmäßig. Das schwere Pendel schwang hin und her, hin und her. Doch das vertraute Geräusch spendete keinen Trost. Im Gegenteil. Es war die Drohung, dass mit jedem Schlag, mit jedem Ausholen des Pendels, oben in seinem Schlafzimmer die Lebenszeit ihres Vaters verrann. Unausweichlich.
»Geh zu ihm. Ich bin in der Küche und mache uns etwas zu essen.«
Hermine schüttelte den Kopf.
»Ich habe keinen Hunger, Cornelia.«
»Ich weiß. Wir essen alle kaum etwas in diesen Tagen. Doch mir hilft die Arbeit. Kartoffeln schälen und Zwiebeln schneiden wird Vater nicht mehr retten können. Mich lenkt es ab. Wenigstens ein bisschen.«
Cornelia verschwand in der Küche. Hermine stieg die Treppe in den ersten Stock hinauf und ging den Flur entlang zu ihrem Zimmer. An den Wänden hingen die altbekannten Bilder – das Aquarell einer Warft, die Karte der Krummhörn, ein Ölbild der sturmgepeitschten Nordsee. Sie hingen an denselben Nägeln, an denen sie immer gehangen hatten. Hermine konnte sich nicht einmal daran erinnern, dass sie sie jemals eingehend betrachtet hatte. Warum fielen sie ihr dann jetzt auf? Sie schloss die Tür hinter sich und lehnte sich kurz gegen das schwere Eichenholz. In ihrem Zimmer erkannte sie die Handschrift ihrer ältesten Schwester Gesine: Alles sah genauso aus, als wäre sie nicht einen Tag fort gewesen – das Bett war frisch bezogen, kein Stäubchen lag auf der polierten Truhe und den gedrechselten Knäufen des Bettes. Alles war für sie vorbereitet, so als hätte Gesine genau gewusst, dass sie heute nach Hause kommen würde.
Hermine stellte ihre Reisetasche auf den Tisch, der ihr als Schreibtisch diente. Auspacken würde sie später, zur Nacht oder sogar erst morgen. Das war nicht wichtig. Nicht in diesem Moment. Jetzt musste sie zu ihrem Vater. Solange es ihr noch möglich war, zu ihm zu gehen.
Auf der Kommode standen die Waschschüssel und ein Krug mit frischem Wasser bereit. Es war dieselbe Waschschüssel, die schon immer in ihrem Zimmer gestanden hatte. Das zunehmend blasser werdende Blumenmuster, rosa Rosen und Vergissmeinnicht, der feine Riss, der sich auf dem Boden der Schüssel durch die Glasur zog, die abgeschlagenen Stellen am Rand. Sie waren alte Bekannte, so wie das Haus und der Garten, die Bilder im Flur und der Ausblick auf die Manningaburg. Hermine wusch sich Gesicht und Hände mit dem klaren, kalten Wasser, sorgfältig trocknete sie sich ab. Das Leinen des Handtuchs war rau und duftete nach Seifenflocken, Salzwiesen und frischer Seeluft. Friesisch, und vertraut wie die Waschschüssel. Oder die Stimme ihres Vaters, die ihr einschärfte, ein Krankenzimmer nur mit sauberen, frisch gewaschenen Händen zu betreten.
Bloß der Gedanke, dass es das Krankenzimmer ihres Vaters war, das sie aufsuchen wollte, war alles andere als vertraut. Dieser Gedanke war fremd, ungewollt und unwirklich. Wie konnte ihr Vater, der schon immer da gewesen war, der sich nach dem frühen Tod der Mutter um sie alle gekümmert hatte, an jedem einzelnen Tag, wie konnte er jetzt im Sterben liegen? Ihr Herz begann zu rasen, und ihr wurde übel. Der Wunsch, einfach wie früher nach draußen in den Garten zu laufen und sich in der Krone des Apfelbaums an der Hecke zu verstecken, bis das Übel wieder abgezogen war, wurde stark. Doch sie war kein Kind mehr, schon lange nicht mehr. Mit beinahe vierundzwanzig konnte man nicht einfach davonlaufen und sich verstecken. Sie musste sich dem Unvermeidlichen stellen. Ihr Vater brauchte sie, ihre Anwesenheit, ihren Trost – und ihre Geschwister ebenso. Jetzt war nicht die Zeit, an sich selbst zu denken und zu trauern. Die würde noch kommen. Vielleicht sogar viel schneller, als sie fürchtete.
Die Tür am anderen Ende des Flurs quietschte leise in den Angeln, als Hermine sie öffnete. Die sauber gescheuerten Dielen auf der Schwelle knarrten. So, wie sie es immer taten, wenn sie zu ihrem Vater wollte – um ihm etwas zu erzählen, eine Frage zu stellen oder ihn um etwas zu bitten. Dunkel konnte sie sich an die Zeit...
Erscheint lt. Verlag | 24.2.2022 |
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Reihe/Serie | Bedeutende Frauen, die die Welt verändern |
Bedeutende Frauen, die die Welt verändern | Bedeutende Frauen, die die Welt verändern |
Verlagsort | München |
Sprache | deutsch |
Themenwelt | Literatur ► Historische Romane |
Schlagworte | Abtreibung • Bedeutende Frauen • bücher für frauen • Bund der Ärztinnen • Emanzipation • Frauenärztin • Frauengesundheit • Frauenschicksal • Große Gefühle • Historischer Roman • Kindbettfieber • Liebe • Medizinerin • mutige Frauen • Pionierin • Romanbiografie • Starke Frauen |
ISBN-10 | 3-492-60111-1 / 3492601111 |
ISBN-13 | 978-3-492-60111-5 / 9783492601115 |
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