Frodo war's nicht (eBook)
320 Seiten
Piper Verlag
978-3-492-60104-7 (ISBN)
Jürgen Seibold, geboren 1960 in Stuttgart, arbeitete als Redakteur und freier Journalist. 1989 veröffentlichte der SPIEGEL-Bestsellerautor seine erste Musikerbiografie. Es folgten weitere Sachbücher, Theaterstücke, Thriller, Komödien und Kriminalromane. Mit seiner Familie lebt Jürgen Seibold im Rems-Murr-Kreis.
Jürgen Seibold, geboren 1960 in Stuttgart, arbeitete als Redakteur und freier Journalist. 1989 veröffentlichte der SPIEGEL-Bestsellerautor seine erste Musikerbiografie. Es folgten weitere Sachbücher, Theaterstücke, Thriller, Komödien und Kriminalromane. Mit seiner Familie lebt Jürgen Seibold im Rems-Murr-Kreis.
Kapitel 1
In den Straßen der Remslinger Altstadt drängten sich an diesem Freitag schon seit dem frühen Nachmittag Orks und Elben, Zwerge schwangen ihre Äxte, Zauberer mit künstlichen Bärten und in wallenden Kutten schritten würdevoll über das Kopfsteinpflaster der Fußgängerzone, und vor dem Alten Rathaus reckten mehrere Männer in Aragorn-Kostümen ihre Plastikschwerter in den Frühsommerhimmel. Drei Ringgeister stellten sich vor der Metzgerei Schwarzfuß an, wo es zu Leberkäs- und Schnitzelbrötchen bunte Servietten mit Tolkien-Motiven gab, und vor dem Schaufenster von Gustaf Kruses Puppentheater bestaunten Kinder in Fantasiekostümen die kunstvoll gearbeiteten Puppen, die Kruse eigens für die Tolkien-Tage in Remslingen geschnitzt und mit farbenprächtigen Kleidern ausstaffiert hatte.
Auch auf den Wiesen am Remsufer herrschte ausgelassene Stimmung. Einige Lagerfeuer loderten, und groß gewachsene Hobbits und klein geratene Trolle hatten sich im Kreis um die züngelnden Flammen versammelt. Eine junge Frau im eng anliegenden Schuppenkostüm hatte sich zu ihnen gesellt, ihren Drachenkopf abgenommen und neben sich ins Gras gelegt. Etwas weiter entfernt und somit geschützt vor Funkenflug standen mehrere Baumattrappen aus Pappmaschee, die wohl Ents darstellen sollten, die knorrigen Baumhirten, und eine Horde von Eltern in farbenfrohen Kostümen bejubelte das Sackhüpfen ihrer Kinder.
Dorothee von Meier tauchte mal in diese, mal in jene Gruppe ein, und sie wechselte so beseelt von einem Schauplatz zum anderen, als würde sie schweben vor Glück. Und es war ja auch beeindruckend, was aus ihrer ursprünglichen Idee geworden war. Zum einhundertdreißigsten Geburtstag von John Ronald Reuel Tolkien hatte sie die anderen Mitglieder ihres Vereins Remslinger Kulturlese e. V. für eine Veranstaltung zum Thema Der Herr der Ringe begeistert. Auch im Rathaus hatte sie offene Türen eingerannt: Der neue, junge Oberbürgermeister hatte sich als Tolkien-Fan entpuppt, und sein ebenfalls neuer und noch jüngerer Marketingbeauftragter war in seiner Euphorie bald nicht mehr zu stoppen. Aus der geplanten kleinen Lesung, finanziert von der Stadt, wurde schließlich ein ganzes Tolkien-Wochenende. Und während Dorothee von Meier in der Stadtbücherei eine kleine Lesereihe aus den Werken des britischen Schriftstellers organisierte, zettelte die Stadt selbst ein wahres Festival rund um die Figuren und Geschichten aus Mittelerde an. Der Marketingbeauftragte erklärte den staunenden Stadträten, wie groß und weltumspannend die sogenannte Cosplay-Community inzwischen war und welchen Aufwand die Fans betrieben, um sich – kostümiert wie Comic- oder Fantasyfiguren – auf Messen oder sonstigen Veranstaltungen zu treffen. Er ließ seine Kontakte in die Cosplay-Szene spielen, konnte auch einige Schausteller und Gaukler gewinnen, die sonst auf historischen Märkten aktiv waren, und nun war ganz Remslingen eine wilde Mischung aus Mittelerde und Mittelalter.
Sonja Fischer hatte ihre Vitaminoase zwar für die Dauer der Tolkien-Tage geschlossen – sie hatte Robert erzählt, dass sie dem Auflauf der Cosplayer entgehen und die Gelegenheit nutzen wolle, alte Freunde zu besuchen –, aber wenigstens hatte sie ihr Schaufenster mit großformatigen Szenenfotos aus Peter Jacksons Herr-der-Ringe-Filmen verhängt.
Die meisten anderen örtlichen Händler machten den Spaß mit. Juwelier Gollmann hatte sein Schaufenster mit einer überlebensgroßen Gollum-Figur dekoriert und Sprechblasen aus Karton gebastelt und aufgehängt, auf denen »Mein Schatz!« stand. In der Bäckerei am Marktplatz gab es Moria-Kringel und Bruchtal-Brezeln, und das Café Journal hatte ein sehr opulentes Auenland-Frühstück auf die Karte gesetzt.
Lino Fontana, der Wirt des Ristorante Fontana am Marktplatz, hatte seine Speisekarte angepasst und einige seiner Spezialitäten umbenannt – nun bot er Spaghetti al Smaug an, und die Pizza Frodo verkaufte er auch stückweise auf die Hand. Sein Vater Pasquale Fontana fand das zwar albern, aber seit er seinem Sohn das Ristorante übergeben hatte, hielt sich der einstige padrone zur allgemeinen Überraschung tatsächlich vollständig mit Kommentaren zu den Geschäftsideen und Entscheidungen seines Sohnes zurück. Nur an einem hielt er eisern fest: Wann immer er Lust dazu hatte, saß er auf einem Stuhl am Rand des Außenbereichs, schmauchte sein Pfeifchen und süffelte dazu Rotwein aus seiner alten Heimat Apulien. Allerdings blieb der Stuhl verwaist, seit die Remslinger Innenstadt mit Besuchern geradezu geflutet worden und nirgendwo mehr ein ruhiges Eckchen zu finden war.
Selbst Robert Mondrian beteiligte sich an dem Festival, und Selina Brand hätte ihn gern unterstützt, aber sie hatte von Donnerstag bis Samstag Termine in ganz Deutschland, die sie nicht verschieben konnte. Eine Hilfe war sie ihm trotzdem gewesen: Einer der Kleinverlage, für die sie den Außendienst besorgte, hatte mehrere Schmuckausgaben von Tolkiens Werken im Programm, die Robert ins Angebot genommen hatte. Er hatte seinem Mitarbeiter Alfons sogar gestattet, einige Plastikfiguren im Buchladen aufzustellen, die er sich von einem befreundeten Sammler ausgeliehen hatte. Nur ein Räuchermännchen, das einen zwanzig Zentimeter hohen Drachen darstellte, musste wieder aus dem Regal genommen werden, weil der Gestank der Räucherkerze zu penetrant war. Alfons’ Freundin Marie, die an der Uni Stuttgart an ihrem Bachelor in Germanistik arbeitete und im Anschluss einen Master in Sprachtheorie und Sprachvergleich machen wollte, brachte Robert mit einem ihrer Professoren zusammen, der von den Sprachen, die Tolkien für seine Mittelerde-Welt erfunden hatte, ebenso fasziniert war wie Mondrian. Und so erläuterte der Professor mehrmals am Tag für eine halbe Stunde einem kleinen, aufmerksamen Publikum in der Leseecke der Buchhandlung, dass sich Tolkiens Elben in Sprachen unterhielten, die der Schriftsteller aus Walisisch und Finnisch entwickelt hatte.
Doch während es in Roberts Laden eher ruhig zuging und sogar die Kunden nur gedämpft mit ihm oder seinem Mitarbeiter sprachen, um den Vortrag nicht zu stören, herrschte draußen ein unbeschreiblicher Trubel. Der Betreiber eines historischen Karussells hatte sich die Mühe gemacht, seine Holzpferde mit selbst gebastelten Masken und Kostümen als Trolle und Elben zu inszenieren. Der Aufwand hatte sich gelohnt: Kein Sitzplatz blieb ungenutzt, und die verzückten Eltern beugten sich hin und her, um ihre Kleinen zusammen mit möglichst vielen der kostümierten Pferde aufs Handyfoto zu bekommen. Die Kinder jauchzten, die Erwachsenen lachten, und überall standen Cosplayer einzeln oder in Gruppen herum und deklamierten Zitate aus Tolkiens Fantasysaga. Einige rannten auch kreuz und quer über den Marktplatz, verfolgten sich durch die Gassen oder stellten sich vor dem Beinsteiner Tor zur Schlacht – in der Hoffnung, ihre theatralischen Posen würden vor der imposanten Kulisse weniger albern wirken. An manchen Ecken verstand man sein eigenes Wort nicht mehr, und überall waren Lärm und Bewegung.
Deshalb wunderte sich auch niemand, dass plötzlich eine Gruppe kostümierter Gestalten aus Gollmanns Juweliergeschäft rannte und zwischen den Feiernden hindurch in Richtung Kurze Gasse drängte. Und kaum jemand bemerkte zunächst, dass Juwelier Gollmann unmittelbar danach ins Freie trat, kreidebleich und mit wackligen Knien. Er schaute nach links und nach rechts, als suchte er jemanden, dann begann er um Hilfe zu rufen.
Robert trat vor die Tür seiner Buchhandlung, die im Moment durchgehend offen stand, und ließ den Blick über das Getümmel auf dem Marktplatz schweifen. Juwelier Gollmann bemerkte er zunächst nur aus den Augenwinkeln, aber als er den Mann wanken und an der Hausmauer nach Halt tasten sah, wandte er seinen Kopf zu ihm hin und versuchte, aus dem schlau zu werden, was er über die Köpfe der Menge hinweg erkennen konnte. Gollmann war blass, er schien zu zittern, und sein Nachbar Lino eilte herbei, stützte seinen Arm und sah ihn besorgt an. Nun war zu hören, wie eine Passantin nach einem Blick durch die offene Tür des Schmuckladens einen hysterischen Schrei ausstieß, und mehrere Umstehende näherten sich Gollmann. Einige von ihnen holten ihre Handys hervor – einer schien Hilfe herbeizurufen, die anderen machten Fotos vom Juwelier und seinem Ladengeschäft. Als ein besonders dreister Schaulustiger Anstalten machte, für weitere Aufnahmen durch die Eingangstür nach drinnen zu gehen, fuhr der Nachbar wütend dazwischen ...
Erscheint lt. Verlag | 26.5.2022 |
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Reihe/Serie | Lesen auf eigene Gefahr | Lesen auf eigene Gefahr |
Verlagsort | München |
Sprache | deutsch |
Themenwelt | Literatur ► Krimi / Thriller / Horror ► Krimi / Thriller |
Schlagworte | Bestseller • Buchhändler • Buchhandlung • Cosy Crime • Das Revier der schrägen Vögel • Dora Heldt • Ermittlung • Frodo • Gandalf • Geburtstag • Gisa Pauly • Herr der Ringe • Humor • humorvoller Krimi • J. R. R. Tolkien • Jubiläum • Jürgen Seibold • Kakadu • Kommando Abstellgleis • Kriminalroman • Lachen • Mord • Mord nach Strich und Faden • Raubmord • Ringe • schräg • Sophie Hénaff • Stuttgart • Tolkien • witzig |
ISBN-10 | 3-492-60104-9 / 3492601049 |
ISBN-13 | 978-3-492-60104-7 / 9783492601047 |
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