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Nicht ohne meinen Föhn -  Andrea Schilling

Nicht ohne meinen Föhn (eBook)

Pilgern ist der bessere Weg
eBook Download: EPUB
2021 | 1. Auflage
272 Seiten
Books on Demand (Verlag)
978-3-7543-6933-3 (ISBN)
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Ich gehe die Via Regia jedes Jahr. Das sind 470 km zu Fuß von Görlitz nach Vacha. Dabei führt mich der Pilgerweg meist durch wunderschöne Landschaften - manchmal aber auch direkt hinein ins Fettnäpfchen. Jedoch stolpere ich nicht nur in Erlebnisse, die letztendlich meine Lachmuskeln - und hoffentlich auch die des Lesers - aktivieren. Der Weg nimmt mich jedes Mal mit auf eine abenteuerliche Berg- und Talfahrt der Gefühle. So lerne ich unter anderem die beiden Pilgerinnen Karin und Betty samt ihrer bewegenden Geschichte kennen, deren langjährige Freundschaft auf eine harte Probe gestellt wird. Oder den wunderlichen Udo, auf dessen merkwürdiges Verhalten ich mir lange keinen Reim machen kann. Und Xavier, den kleinen Franzosen mit dem großen Rucksack, der nicht nur im Herzen ein leidvolles Geheimnis mit sich herumträgt. So hat jeder, der den Weg geht, sein ganz persönliches Päckchen zu tragen. Dennoch haben wir alle etwas gemeinsam. Wir laufen Tag für Tag und finden Trost und neuen Lebensmut in den Gesprächen mit anderen Pilgern. Schließlich wissen wir alle: Pilgern ist der bessere Weg.

Andrea Schilling ist 1963 geboren und arbeitet als MTRA in einem Krankenhaus. Sie hat zwei erwachsene Kinder, vier Stiefkinder, drei Enkelkinder und lebt mit ihrem Mann in der Nähe von Heidelberg. In der Freizeit beschäftigt sie sich mit Pilgern, Singen und am liebsten mit Oma-Sein.

1. Tag, Görlitz – Weißenberg, 31 km


Heute Morgen werde ich von der Sonne geweckt, die mir mitten ins Gesicht scheint. Na, wenn das kein perfekter Start ist. Gut gelaunt begebe ich mich in den Frühstücksraum, wo Frau März schon für die wenigen Gäste, die heute hier genächtigt haben, sehr üppig eingedeckt hat. Ich liebe Frühstück!

Mit mir zusammen am Tisch sitzt eine junge Frau, die extra für ein Vorstellungsgespräch von Köln nach Görlitz gereist ist, und die vor Nervosität kaum einen Bissen herunterbekommt. Dafür schmeckt es mir umso besser. Ich verdrücke zwei Brötchen, ein weichgekochtes Ei, eine Schale Cornflakes mit Obst und einen Sahnejoghurt. Die nervöse Dame kann kaum glauben, wie ein Mensch so viel essen kann. Ich erzähle ihr von meiner Pilgerwanderung und dass ich das bei einem durchschnittlichen Tagespensum von knapp dreißig Kilometern locker wieder ablaufen würde.

»Dreißig Kilometer? Zu Fuß? Jeden Tag?«, sagt sie bestürzt und zieht ihre dicke Strickjacke noch ein wenig enger um sich. Mit beiden Händen umfasst sie ihre Teetasse und hat fröstelnd die Schultern hochgezogen. Da wird mir erst bewusst, dass ich in kurzen Hosen und T-Shirt dasitze.

»Klar«, antworte ich kauend, »okay, an manchen Tagen sind es auch weniger, manchmal aber auch mehr.«

»Dann machen Sie wahrscheinlich ganz viel Sport?«

Äh, was ...? Sport? »Ja, ich singe«, antworte ich bitterernst. Ist ja auch so eine Art Sport. Zumindest fürs Zwerchfell.

Sie selbst frühstücke eigentlich nie. Außerdem sei sie Veganerin, da das die gesündeste Art sei, sich zu ernähren. Nun denn, deshalb friert sie auch bei fünfundzwanzig Grad Celsius und wirft einen Schatten wie eine Drachenschnur. Jedem das Seine.

Sie schenkt mir zum Abschied noch ihre nicht veganen Brötchen inklusive Wurst und Käse, worüber ich mich natürlich sehr freue. Ich wünsche ihr noch viel Glück für ihr Bewerbungsgespräch, dann flattert sie auch schon davon.

Eigentlich wollte ich ja früher losgehen. Immer das Gleiche mit mir. Meistens sitze ich zu lange beim Frühstück, erst recht, wenn ich Unterhaltung habe. Dann verzettele ich mich beim Rucksack-Packen, da ich am Schluss immer noch etwas finde, was eigentlich ganz nach unten gehört hätte. Also packe ich alles wieder aus und fange von vorne an.

So ist es bereits kurz vor neun, als ich meinen Rucksack aufsetze und über die Heilige-Grab-Straße stadtauswärts marschiere. Es ist immer wieder unglaublich, wie in kürzester Zeit jeglicher gedankliche Stress von mir abfällt, kaum dass ich die Stadtgrenze von Görlitz hinter mir gelassen habe. Fröhlich pfeifend gehe ich vor mich hin und muss immer wieder stehen bleiben, um die wunderschöne Landschaft zu genießen. Die Rapsfelder blühen in sattem Gelb, soweit das Auge reicht, und am Horizont heben sich die Königshainer Berge mit ihren dichten grünen Wäldern von einem strahlend blauen Himmel ab.

Nach knapp zwei Stunden habe ich den vierhundert Meter hohen Hochstein »erklommen«, wo es ganz oben auf einer Plattform einen Aussichtsturm gibt, von dem man einen atemberaubenden Blick über die Lausitz haben soll. Das weiß ich allerdings nur vom Hörensagen, da ich es aufgrund meiner extremen Höhenangst nie weiter als bis zum ersten Plateau geschafft habe. Heute versuche ich es gar nicht erst. Wozu auch? Ich muss weder mir noch sonst jemandem etwas beweisen. Außer mir ist heute sowieso keiner hier oben. Die Gastwirtschaft hat Ruhetag, und andere Pilger sind mir bis jetzt noch nicht begegnet.

So lege ich nur ein kurzes Verschnaufpäuschen nach dem anstrengenden Anstieg ein, esse ein nicht veganes, wahrscheinlich völlig ungesundes Weißmehlbrötchen mit Wurst und Käse – mmmh, lecker – und ziehe dann auch schon weiter Richtung Arnsdorf.

Der Abstieg ist recht beschwerlich, da der »Weg« kaum diese Bezeichnung verdient. Es handelt sich eher um einen unebenen Trampelpfad, der sehr steil und mit tückischen Wurzeln durchzogen ist, die einem ständig ein Bein stellen wollen. In meinem ersten Jahr dachte ich, ich bin ganz schlau und suchte mir im Wald zwei Stöcke, auf denen ich mich beim Bergabgehen abstützen konnte. Soll ja auch schonender für die Kniegelenke sein. Nur hatte ich nicht einkalkuliert, dass ich aufgrund des Rucksacks mindestens zehn Kilo mehr wog als sonst. Leider hielten die Stöcke meinem Gewicht nicht stand, so dass ich nach drei Schritten in einer eleganten Rolle vorwärts im Matsch landete. Es hatte die Tage davor nämlich geregnet. Ich sah aus wie ein Erdferkel.

In Arnsdorf fülle ich auf dem Friedhof meine leeren Wasserflaschen auf. Andere Pilger sind immer ganz entsetzt, wenn ich ihnen das erzähle. »Aufm Friedhof? Das ist doch kein Trinkwasser!« Ja, was denn sonst? Ich mache das seit Jahren so und lebe immer noch. Wenn ich verdurstet wäre, wäre dem nicht mehr so.

Ich laufe wie ein Uhrwerk, mein Kopf ist völlig frei, und ich merke kaum, wie ich die Kilometer hinter mir lasse. Manchmal kommt mir das vor wie eine Art Meditation. Obwohl ich ja eigentlich gar nicht esoterisch veranlagt bin und mit Yogakursen, in denen sie die Sonne grüßen und ihre Mitte suchen, absolut nichts anfangen kann. Ich erinnere mich noch gut an die Schwangerschaftsgymnastik vor vielen Jahren. Die Kursleiterin flanierte langsam zwischen den Matten umher, auf denen wir werdenden Mütter uns mit unseren mehr oder weniger großen Kugelbäuchen in Rückenlage entspannen sollten, und laberte mit monotoner Stimme auf uns ein: »Wir atmen ein … wir atmen aaaaaus … die Wehe kommt … die Wehe wird stärker ... und noch stärker ... pffffff ... aaaaausatmen … – So wie Sie atmen, werden Sie Ihr Baby sicherlich nie zur Welt bringen.« Ich brauchte einen Moment, bis ich begriff, dass der letzte Satz speziell an mich gerichtet war.

»Okay, dann bleibt es eben drin.« Ich stand auf, rollte meine Isomatte zusammen und verließ auf alle Zeiten diesen dämlichen Schwangerschaftskurs. Blöde Kuh.

Mein Weg führt mich durch das kleine Örtchen Melaune, wo ich auf meiner allerersten Tour in der Jugendscheune übernachtet habe. Als ich diese passiere, werden Erinnerungen wach. Außer mir waren damals noch drei andere Pilger da. Ein Ehepaar aus dem Frankfurter Raum und Robert, ein sehr weiser Mann um die siebzig. Wir verbrachten zusammen einen unterhaltsamen Abend im Garten unter der alten Linde sitzend. Ich weiß noch, dass mich mein Heuschnupfen ganz fürchterlich plagte. (Dieses Jahr bin ich glücklicherweise bisher davon verschont geblieben.) Jedoch erinnere ich mich auch an sehr tiefgründige Gespräche, vor allem mit Robert, der mir damals prophezeite, dass man auf dem Pilgerweg immer an die Menschen gerät, die einem im Leben weiterhelfen können. Besser als Therapeuten oder gute Freunde.

»Wir sind noch nicht fertig miteinander«, hatte er am nächsten Morgen beim Verabschieden geheimnisvoll zu mir gesagt. Ja, ja, laber, Rhabarber, dachte ich damals noch, den seh' ich eh nie wieder. Doch er sollte recht behalten. Mehr dazu später ...

Gegen Nachmittag macht sich die erste Blase an meinem Fußballen bemerkbar, sodass ich schon in Erwägung ziehe, nicht bis Weißenberg zu gehen, sondern drei Kilometer vorher in der Herberge in Buchholz unterzukommen. Andererseits machen die drei Kilometer den Kohl ja nun auch nicht mehr fett. Außerdem freue ich mich schon so darauf, Lohmanns wiederzusehen. Also steuere ich die nächste Bank an, ziehe Schuh und Socken aus und steche mir mit einer Sicherheitsnadel, die ich zum Sterilisieren kurz in die Flamme meines Feuerzeugs halte, die bereits recht große Blase auf. Kurz trocknen lassen, dann geht’s weiter. Na bitte, geht doch.

An der Durchgangsstraße von Weißenberg gibt es einen Supermarkt, wo ich noch ein paar Blümchen kaufe, dann biege ich auch schon in die Straße ein, in der Herr und Frau Lohmann in einem schnuckeligen Einfamilienhaus mit Katerchen (er heißt tatsächlich Katerchen) wohnen. Ihre Kinder sind längst aus dem Haus, weshalb sie jetzt eines der ehemaligen Kinderzimmer zum Gästezimmer umfunktioniert haben und Pilger aufnehmen.

Frau Lohmann begrüßt mich sehr herzlich und freut sich über mein kleines Sträußchen, obwohl sie selbst den Garten voller Blumen hat. Ich bin immer wieder beeindruckt, dass es Menschen gibt, die wildfremde Leute bei sich aufnehmen. Okay, wildfremd bin ich jetzt nicht mehr, da ich schon mehrfach ihre Gastfreundschaft in Anspruch genommen habe. Die Pilger dürfen das private Badezimmer mit allen sich darin befindlichen Utensilien nebst Handtüchern benutzen. Auch ist es für sie selbstverständlich, dass wir Pilger den Abendessens- und Frühstückstisch mit ihnen teilen.

Nach einem deftigen Mahl mit frischem Bauernbrot, Hausmacher Wurst und verschiedenen Käsesorten sitzen wir fröhlich plaudernd noch ein bisschen zusammen. Dann verabschieden sich Herr und Frau Lohmann, da sie heute Abend ein Treffen mit dem...

Erscheint lt. Verlag 13.9.2021
Sprache deutsch
Themenwelt Literatur Comic / Humor / Manga
ISBN-10 3-7543-6933-4 / 3754369334
ISBN-13 978-3-7543-6933-3 / 9783754369333
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