Memoiren eines Irren (eBook)
240 Seiten
Carl Hanser Verlag GmbH & Co. KG
978-3-446-27302-3 (ISBN)
Ein junger Bursche beobachtet unter den Sommergästen in Trouville eine Frau, die ihn fasziniert. Als er ihren Bademantel vor der Flut rettet und zurückbringt, verliebt er sich auf der Stelle. Maria jedoch ist zehn Jahre älter als er, hat einen Mann und eine kleine Tochter. Mit ungeheurer Leidenschaft erzählt der junge Flaubert in seinem ersten Roman die eigene Geschichte, die ihn für ein Leben geprägt hat. In der Neuübersetzung von Elisabeth Edl, mit Jugendbriefen und einem Kommentar, der den biografischen Hintergrund farbig sichtbar macht, sind die 'Memoiren eines Irren' das Selbstporträt eines Künstlers als junger Mann, der zu seinem 200. Geburtstag als einer der Größten gefeiert wird.
Gustave Flaubert wurde am 12. Dezember 1821 in Rouen (Normandie) geboren und starb 1880 im Alter von 59 Jahren in Croisset. Schon seit seiner Jugend schrieb er Erzählungen und Romane. Aufgrund seiner hohen Ansprüche an sich selbst veröffentlichte er jedoch keines seiner Manuskripte. Sein erstes publiziertes Werk wurde der Roman Madame Bovary, der 1856 im Feuilleton der Revue de Paris erschien und der ihm einen Prozess wegen Verstoßes gegen die Sitten eintrug. Sein schönstes Buch ist für viele seiner Verehrer Drei Geschichten, zugleich sein letztes vollendetes Werk. Zunächst unverstanden, aber noch einflussreicher auf die Entwicklung der europäischen Literatur war der große Roman 'L'Éducation sentimentale. Histoire d'un jeune homme' (1869), der als Lehrjahre der Männlichkeit (Geschichte einer Jugend. Roman, 2020) in der Neuübersetzung von Elisabeth Edl erschien. Gustave Flaubert ist einer der besten Stilisten der französischen Literatur und ein Klassiker des Romans; zusammen mit Stendhal und Balzac bildet er das Dreigestirn der großen Erzähler Frankreichs. Bei Hanser erschien zuletzt die Neuübersetzung Memoiren eines Irren (Roman, 2021).
"Die Romanminiatur ... gibt in hohem, lyrischem Ton Einblick in das Seelenleben eines Jünglings." Thomas Leitner, Falter, 22.10.21
I.
Warum diese Seiten schreiben? – Wozu sind sie gut? – Was weiß ich selbst davon? Meines Erachtens ist es ziemlich dumm, die Menschen nach dem Beweggrund für ihr Handeln und ihr Schreiben zu fragen. – Wissen Sie’s denn selbst, warum haben Sie diese lumpigen Blätter aufgeschlagen, die eines Irren Hand füllen wird?
Ein Irrer. Das macht schaudern. Wer sind Sie, Sie, Leser? in welche Kategorie gehörst du, in die der Dummköpfe oder die der Irren? Wenn du die Wahl hättest, deine Eitelkeit entschiede sich doch für letzteren Zustand. Ja, noch einmal, wozu ist es gut, das frage ich wahrhaftig, ein Buch, das weder lehrreich ist noch amüsant, noch chemisch, noch philosophisch, noch agrikulturell, noch elegisch, ein Buch, das kein Mittel enthält, weder gegen Pickel noch gegen Flöhe, das weder von der Eisenbahn erzählt noch von der Börse, noch von den verborgensten Winkeln des menschlichen Herzens, noch von den Kleidern des Mittelalters, noch von Gott oder Teufel, sondern von einem Irren, das heißt von der Welt, diesem großen Einfaltspinsel, der sich seit so vielen Jahrhunderten dreht im Weltraum, ohne einen Schritt vorwärtszukommen, und der kreischt und der sabbert und der sich selbst zerfleischt.
Ich weiß nicht besser als Sie, was Sie lesen werden. Denn das hier ist weder ein Roman noch ein Drama mit festem Plan, oder einer einzigen wohlüberlegten Idee, mit Richtpunkten, damit das Denken sich auf schnurgeraden Wegen dahinschlängelt.
Aber ich will alles auf Papier bringen, was mir durch den Kopf geht, meine Ideen und meine Erinnerungen, meine Eindrücke meine Träume meine Launen, alles, was im Denken oder in der Seele auftaucht – Lachen und Weinen, Weiß und Schwarz, Schluchzer, zunächst dem Herzen entsprungen, dann ausgerollt wie Teig in klangvolle Perioden; – und Tränen, aufgelöst in romantischen Metaphern. Es bedrückt mich jedoch, wenn ich daran denke, ich werde einem Packen Federn die Spitze zerquetschen, ich werde ein Fläschchen Tinte verbrauchen, ich werde den Leser langweilen, und langweilen werde ich mich selbst. Ich habe mich so sehr ans Lachen gewöhnt und an die Skepsis, dass man von Anfang bis Ende beständig Spott finden wird; und fröhliche Leute, die gern lachen, können zu guter Letzt über den Autor lachen und über sich selbst.
Man wird hier sehen, wie an den Plan des Universums zu glauben ist, an die moralischen Pflichten des Menschen, an die Tugend und an die Philanthropie, ein Wort, das ich gern auf meine Stiefel schreiben lassen würde, wenn ich einmal welche habe, dann können es alle Leute lesen und auswendig lernen, selbst die kurzsichtigsten Augen, die kleinsten Leiber, die kriecherischsten, ganz nah an der Gosse.
Es wäre ein Fehler, in all dem hier etwas anderes zu sehen als die Nörgeleien eines armen Irren. Ein Irrer!
Und Sie, Leser – Sie haben vielleicht vor kurzem geheiratet oder Ihre Schulden bezahlt?
II.
Ich will also die Geschichte meines Lebens schreiben – was für ein Leben! Aber habe ich gelebt? ich bin jung, mein Gesicht hat keine einzige Falte – und mein Herz keine Leidenschaft. – Oh! wie ruhig war es, wie angenehm und glücklich scheint es, still und rein! Oh! ja, friedlich und verschwiegen wie ein Grab, dessen Seele der Leichnam wäre.
Kaum dass ich gelebt habe: ich habe die Welt noch gar nicht kennengelernt – das heißt, ich habe keine Geliebte, keine Schmeichler, keine Dienstboten, keine Equipagen – ich bin nicht (wie man so schön sagt) in die Gesellschaft eingetreten, denn sie dünkte mich immer falsch und laut und mit Flitter bedeckt, langweilig und aufgeblasen.
Nun, mein Leben, das sind nicht die Ereignisse. Mein Leben, das ist mein Denken.
Und wie sieht es aus, dieses Denken, das mich jetzt dazu bringt, in dem Alter, wo alle lächeln, sich glücklich fühlen, wo man heiratet, wo man liebt, in dem Alter, wo so viele andere sich berauschen an allen möglichen Liebschaften und allem möglichen Ruhm, während so viele Lichter glänzen und die Gläser angefüllt sind zum Fest, mich jetzt dazu bringt, dass ich allein bin und nackt, kalt gegenüber jeder Inspiration, jeder Poesie, mich sterben fühle und grausam lache über meine langsame Agonie, wie jener Epikureer, der sich die Adern öffnen ließ, sich in ein duftendes Bad legte und lachend starb wie ein Mann, der betrunken eine Orgie verlässt, die ihn erschöpft hat.
Oh! wie lang hat es gedauert, dieses Denken! Wie eine Hydra verschlang es mich mit jedem einzelnen Haupt.
Denken voll Trauer und voll Bitterkeit, Denken eines Narren, der weint, Denken eines Philosophen, der meditiert …
Oh! ja, wie viele Stunden sind verstrichen in meinem Leben, lang und eintönig, mit Denken, mit Zweifeln! Wie viele Wintertage, mit gesenktem Kopf vor meinen im fahlen Glanz der untergehenden Sonne weiß gewordenen Holzscheiten, wie viele Sommerabende auf den dämmrigen Feldern in Betrachtung der Wolken, die dahinflogen und sich entfalteten, der Ähren, die sich beugten unterm Wind, im Horchen auf die säuselnden Wälder und im Lauschen auf die Natur, die seufzt in den Nächten.
Oh! wie verträumt war meine Kindheit, was war ich für ein armer Irrer, ohne feste Ideen, ohne fassbare Anschauungen! Ich betrachtete das Wasser, wie es dahinfließt zwischen Baumgruppen, die ihr Blätterhaar neigen und Blüten herabfallen lassen, ich beobachtete aus meiner Wiege heraus den Mond vor seinem azurnen Hintergrund, der in mein Zimmer schien und wunderliche Formen an die Wände zeichnete, ich geriet in Verzückung vor einer schönen Sonne oder einem Frühlingsmorgen mit seinem weißen Nebel, seinen in Blüte stehenden Bäumen, seinen blühenden Margeriten.
Gern betrachtete ich auch, und das ist eine meiner süßesten und köstlichsten Erinnerungen, das Meer, die Wellen, wenn sie übereinanderschäumten, die Woge, wenn sie heranbrandete als Gischt, über den Strand lief und kreischte bei ihrem Rückzug über Kieselsteine und Muscheln.
Ich rannte über die Felsen, ich nahm den Sand des Ozeans und ließ ihn verrinnen im Wind zwischen meinen Fingern, ich warf Seetang ins Wasser, ich atmete in vollen Zügen diese salzige und frische Luft des Ozeans, der in deine Seele dringt mit so viel Energie, Poetik und weiten Gedanken.
Ich betrachtete die Unermesslichkeit, den Raum, das Unendliche, und meine Seele versank im Angesicht dieses grenzenlosen Horizonts.
Oh! aber das ist er nicht, der grenzenlose Horizont! Der unermessliche Schlund. Oh! nein, ein breiterer und tieferer Abgrund tat sich vor mir auf. Dieser Schlund kennt keinen Sturm: Gäbe es einen Sturm, dann wäre er voll – und er ist leer!
Ich war fröhlich und heiter, liebte das Leben und meine Mutter, arme Mutter!
Ich erinnere mich noch an meine kleinen Freuden, wenn ich die Pferde auf der Straße dahinlaufen sah, wenn ich den Dampf ihres Atems sah und den Schweiß über ihr Geschirr tropfen, ich liebte den gleichförmigen und rhythmischen Trab, der die Hängeriemen schwingen lässt; und dann, wenn wir anhielten – alles war still auf den Feldern. Man sah den Dampf aus ihren Nüstern strömen, der durchgerüttelte Wagen kam auf seiner Federung wieder zur Ruhe, der Wind pfiff gegen die Scheiben, und das war alles …
Oh! wie weit habe ich die Augen aufgerissen angesichts der Menge in Festkleidern, fröhlich, lärmend mit ihrem Geschrei, stürmisches Menschenmeer, wütender noch als das Unwetter und dümmer als sein Toben.
Ich liebte die Karren die Pferde die Armeen die Kriegsgewänder den Trommelwirbel, den Lärm das Pulver und die Kanonen, die über das Pflaster der Städte ratterten.
Als Kind liebte ich, was man sieht, als Heranwachsender, was man spürt, als Mann liebe ich gar nichts mehr. Und dennoch, wie viele Dinge habe ich in der Seele, wie viele innere Kräfte und wie viele Ozeane der Wut und der Liebe prallen aufeinander, branden gegeneinander in diesem Herzen, das so schwach ist, so lahm so tief gestürzt so überdrüssig so erschöpft!
Man sagt mir, ich solle mich wieder dem Leben zuwenden, mich unter die Menge mischen! … doch wie kann der abgebrochene Ast Früchte tragen, das von den Winden losgerissene und durch den Staub getriebene Blatt erneut grünen? und warum, so jung, so viel Bitterkeit? Was weiß ich? Es war vielleicht in meinem Schicksal bestimmt, so zu leben, überdrüssig, bevor ich die Last trug, außer Atem, bevor ich gerannt war. ...........
Ich habe gelesen, ich habe gelernt in der Hitze der Begeisterung … ich habe geschrieben … Oh! wie glücklich war ich damals, wie hoch hinaus entschwebte in seinem Wahn mein Denken in jene den Menschen unbekannten Gefilde, wo es weder Welt gibt noch Planeten, noch Sonnen! Ich hatte eine unermesslichere Unendlichkeit, wenn das möglich ist, als die Unendlichkeit Gottes, wo die Poesie sich wiegte und ihre Flügel ausspannte in einer Atmosphäre der Liebe und der Verzückung, und dann musste ich aus diesen erhabnen Gefilden wieder herabsteigen zu den Wörtern, und wie soll man durch Sprache diese Harmonie wiedergeben, die aufsteigt im Herzen des Dichters, und die Gedanken eines Riesen, die alle Sätze verbiegen, so, wie eine starke und kraftstrotzende Hand den Handschuh sprengt, der sie umschließt?
Auch hier wieder Enttäuschung, denn wir berühren die Erde, jene Erde aus Eis, wo jedes Feuer stirbt, wo jede Energie erschlafft. Über welche Sprossen hinabsteigen aus dem Unendlichen ins Tatsächliche? Über welche Stufen gleitet das Denken herab, ohne dass es zerbricht? Wie macht man diesen Riesen klein, der die Unendlichkeit überschaut?
Da hatte ich Augenblicke der Traurigkeit und der Verzweiflung, ich spürte meine Kraft, die mich zerbrach,...
Erscheint lt. Verlag | 25.10.2021 |
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Nachwort | Wolfgang Matz |
Übersetzer | Elisabeth Edl |
Verlagsort | München |
Sprache | deutsch |
Original-Titel | Memoires d'un fou |
Themenwelt | Literatur ► Klassiker / Moderne Klassiker |
Literatur ► Romane / Erzählungen | |
Schlagworte | Frauen • Jugendliebe • Künstlerroman • Liebe • #ohnefolie • ohnefolie • Schriftsteller |
ISBN-10 | 3-446-27302-6 / 3446273026 |
ISBN-13 | 978-3-446-27302-3 / 9783446273023 |
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