Der vermisste Weihnachtsgast (eBook)
576 Seiten
Kampa Verlag
978-3-311-70263-4 (ISBN)
Louise Penny, 1958 in Toronto geboren, arbeitete nach ihrem Studium der Angewandten Kunst achtzehn Jahre lang als Rundfunkjournalistin und Moderatorin in ganz Kanada. Mit dem Schreiben begann sie erst spät. Ihr erster Roman Das Dorf in den roten Wäldern wurde 2005 weltweit als Entdeckung des Jahres gefeiert, und auch die folgenden Gamache-Krimis wurden vielfach ausgezeichnet und eroberten die Bestsellerlisten in zahlreichen Ländern. Louise Penny lebt in Sutton bei Que?bec, einem kleinen Städtchen, das Three Pines zum Verwechseln ähnelt.
Louise Penny, 1958 in Toronto geboren, arbeitete nach ihrem Studium der Angewandten Kunst achtzehn Jahre lang als Rundfunkjournalistin und Moderatorin in ganz Kanada. Mit dem Schreiben begann sie erst spät. Ihr erster Roman Das Dorf in den roten Wäldern wurde 2005 weltweit als Entdeckung des Jahres gefeiert, und auch die folgenden Gamache-Krimis wurden vielfach ausgezeichnet und eroberten die Bestsellerlisten in zahlreichen Ländern. Louise Penny lebt in Sutton bei Québec, einem kleinen Städtchen, das Three Pines zum Verwechseln ähnelt.
2
»Legen Sie sich doch selbst eine Ente zu«, sagte Ruth und drückte Rosa etwas fester an sich. Ein lebendes Daunenkissen.
Constance Pineault lächelte und blickte vor sich hin. Noch vor vier Tagen wäre es ihr nicht in den Sinn gekommen, eine Ente haben zu wollen, aber jetzt beneidete sie Ruth tatsächlich um Rosa. Und nicht nur wegen der Wärme, die die Ente an diesem bitterkalten Dezembertag spendete.
Noch vor vier Tagen wäre es ihr nicht in den Sinn gekommen, ihren gemütlichen Sessel im Bistro zu verlassen, um auf einer eiskalten Bank neben einer Frau zu sitzen, die entweder betrunken oder dement war. Aber hier saß sie.
Noch vor vier Tagen hatte Constance Pineault nicht gewusst, dass Wärme viele Formen haben konnte. So wie gesunder Menschenverstand. Aber jetzt wusste sie es.
»Aab-weeeehr«, rief Ruth den jungen Eishockeyspielern auf dem zugefrorenen Teich zu. »Verflixt noch mal, Aimée Patterson, das könnte Rosa ja besser.«
Aimée glitt an ihnen vorbei, und Constance hörte sie etwas murmeln, das »Scheibe« hätte heißen können. Oder …
»Sie vergöttern mich«, sagte Ruth zu Constance. Oder zu Rosa. Oder ins Nichts.
»Sie haben Angst vor Ihnen«, sagte Constance.
Ruth bedachte sie mit einem scharfen Blick. »Sind Sie immer noch da? Ich dachte, Sie wären gestorben.«
Constance lachte, und ihr Lachen schwebte wie ein heiteres Wölkchen über den Dorfanger und vermischte sich mit dem Rauch aus den Schornsteinen.
Vier Tage zuvor hatte sie gedacht, sie würde nie wieder lachen können. Aber während sie bis zu den Knöcheln im Schnee neben Ruth saß und sich den Hintern abfror, hatte sie etwas entdeckt. Versteckt. Hier in Three Pines. Das Lachen.
Schweigend sahen die beiden Frauen dem Treiben auf dem Dorfanger zu, nur von einem gelegentlichen Quaken unterbrochen, von dem Constance hoffte, dass es von der Ente kam.
Obwohl im gleichen Alter, waren die beiden Frauen so verschieden wie Tag und Nacht. Constance war weich, Ruth war hart. Constances lange und seidige Haare waren zu einem ordentlichen Knoten geschlungen, die von Ruth waren strohig und raspelkurz. Constance hatte Rundungen, Ruth hatte Kanten. Schroffe, harte Kanten.
Rosa regte sich und schlug mit den Flügeln. Dann glitt sie von Ruth’ Schoß auf die schneebedeckte Bank und watschelte die paar Schritte zu Constance. Kletterte auf Constances Schoß und machte es sich dort gemütlich.
Ruth kniff die Augen zusammen. Das war ihre einzige Regung.
Seit Constances Ankunft in Three Pines hatte es Tag und Nacht geschneit. Sie hatte ihr gesamtes Erwachsenenleben in Montréal verbracht und völlig vergessen, dass Schnee so schön sein konnte. Ihrer Erfahrung nach war Schnee etwas, das beseitigt werden musste. Eine Last, die vom Himmel fiel.
Doch das hier war der Schnee ihrer Kindheit. Fröhlich, heiter, weiß und sauber. Je mehr, desto besser. Etwas zum Spielen.
Er bedeckte die Häuser aus Natursteinen, Schindeln und Ziegeln, die den Dorfanger säumten. Er bedeckte das Bistro und den Buchladen, die Bäckerei und den Gemischtwarenladen. Constance kam es so vor, als wäre ein Alchemist am Werk gewesen und Three Pines das Ergebnis. Aus dem Nichts herbeigezaubert und in diesem Tal abgesetzt. Vielleicht war das winzige Dorf aber auch wie der Schnee vom Himmel gefallen, um diejenigen, die ebenfalls gefallen waren, weich aufzufangen.
Bei ihrer Ankunft hatte Constance vor Myrnas Buchladen geparkt und war besorgt gewesen, als sich das Schneetreiben im Laufe des Abends zu einem Schneesturm auswuchs.
»Soll ich mein Auto lieber woanders hinstellen?«, hatte sie Myrna gefragt, bevor sie zum Schlafen nach oben gegangen waren. Myrna war ans Fenster ihres Ladens für neue und gebrauchte Bücher getreten und hatte überlegt.
»Ich denke, es ist gut aufgehoben, da, wo es ist.«
Es ist gut aufgehoben, da, wo es ist.
Und sie behielt recht. Constance hatte eine unruhige Nacht lang auf die Sirenen der Schneepflüge gelauscht. Auf die Aufforderung, ihr Auto auszugraben und wegzufahren. Die Fenster hatten in ihren Rahmen gewackelt, als der Wind Schnee dagegenpeitschte. Sie hörte den Sturm zwischen den Bäumen und um die trutzigen Häuser heulen. Wie etwas Lebendiges, das auf der Jagd war. Schließlich war Constance unter ihrer warmen Daunendecke weggedämmert. Als sie aufwachte, war der Sturm weitergezogen. Constance trat ans Fenster und rechnete damit, ihr Auto unter dem Schnee begraben zu sehen, nur mehr eine weiße Erhebung unter einem halben Meter Neuschnee. Stattdessen war die Straße geräumt, und alle Autos waren ausgegraben.
Es ist gut aufgehoben, da, wo es ist.
Und endlich galt das auch für sie.
Vier Tage und vier Nächte hatte es ununterbrochen geschneit, bevor Billy Williams mit seinem Schneepflug zurückgekommen war. Bis dahin war Three Pines eingeschneit gewesen, abgeschnitten von der Welt. Aber das spielte keine Rolle, weil sie hier alles hatten, was sie brauchten.
Allmählich wurde der siebenundsiebzigjährigen Constance Pineault klar, dass es ihr nicht deshalb gut ging, weil sie in ein Bistro gehen konnte, sondern weil sie in das Bistro von Olivier und Gabri gehen konnte. Es gab nicht einfach nur einen Buchladen, es gab Myrnas Buchladen, Sarahs Bäckerei und Monsieur Béliveaus Gemischtwarenladen.
Als autonome Städterin war sie gekommen, und jetzt saß sie eingeschneit neben einer Verrückten auf einer Bank und hatte eine Ente auf dem Schoß.
Wer war hier gaga?
Aber Constance Pineault wusste, dass sie kein bisschen verrückt, sondern endlich zur Vernunft gekommen war.
»Ich wollte Sie fragen, ob Sie Lust auf einen Drink haben«, sagte Constance.
»Herrgott noch mal, Sie alte Schachtel, warum haben Sie das nicht gleich gesagt?« Ruth stand auf und wischte den Schnee von ihrem Wollmantel.
Constance erhob sich ebenfalls und gab Rosa mit den Worten »Lieber ein Schrecken mit Ente« an Ruth zurück.
Ruth akzeptierte die Ente und den Kommentar mit einem Schnauben.
Auf der Straße trafen sie auf Olivier und Gabri, die aus dem Bistro kamen.
»Ein Schwulengestöber«, sagte Ruth.
»Früher war ich so unschuldig wie Schneewittchen«, vertraute Gabri Constance an. »Dann geriet ich unter die sieben Zwerge.«
Olivier und Constance lachten.
»Du hörst dich an wie Mae West«, sagte Ruth. »Die hatte aber eindeutig mehr Oberweite.«
»Das wird schon noch«, erwiderte Olivier und musterte seinen wohlbeleibten Lebensgefährten.
Constance hatte bisher nicht viel mit Homosexuellen zu tun gehabt, jedenfalls nicht wissentlich. Alles, was sie über sie wusste, war, dass sie »anders« waren. Und »anders« war gleichbedeutend mit unnatürlich. Wenn sie milde gestimmt war, hatte sie Homosexuelle als gestört betrachtet. Als krank.
Aber im Grunde dachte sie nur mit Missbilligung an sie. Sogar mit Abscheu.
Bis vor vier Tagen. Bis der Schnee zu fallen begann und das kleine Dorf im Tal von der Welt abgeschnitten wurde. Bis sie herausgefunden hatte, dass Olivier, der Mann, dem sie so kühl begegnet war, ihr Auto freigeschaufelt hatte. Unaufgefordert. Ohne ein Wort darüber zu verlieren.
Bis sie vom Fenster ihres Schlafzimmers in Myrnas Loft über dem Buchladen gesehen hatte, wie Gabri sich mit gesenktem Kopf gegen das Schneetreiben stemmte und den Dorfbewohnern, die es nicht zum Frühstück ins Bistro schafften, Kaffee und warme Croissants brachte.
Sie sah zu, wie er anschließend gleich noch Veranden und Eingangsstufen und Wege freischaufelte.
Und wieder ging. Zum nächsten Haus.
Constance spürte an ihrem Arm Oliviers kräftige Hand, die sie stützte. Was würde ein Fremder denken, der in diesem Augenblick ins Dorf käme? Dass Gabri und Olivier ihre Söhne waren?
Sie hoffte es.
Constance trat durch die Tür, und ihr stieg der inzwischen vertraute Geruch des Bistros in die Nase. Die dunklen Holzbalken und die breiten Kieferndielen waren durchdrungen von mehr als hundert Jahren Kaminrauch und Kaffeearoma.
»Hier drüben.«
Constance folgte der Stimme. Obwohl die Sprossenfenster so viel Tageslicht wie möglich hereinließen, war es dämmerig. Ihr Blick wanderte zu den beiden großen Kaminen, in denen ein munteres Feuer prasselte und vor denen bequeme Sofas und Sessel standen. In der Mitte des Raums, zwischen den Kaminen mit den Sitzgruppen, waren alte Tische aus Kiefernholz mit Silberbesteck und zusammengewürfeltem Porzellangeschirr gedeckt. In einer Ecke stand ein großer dichter Weihnachtsbaum mit roten, grünen und blauen Lichtern und einem Sammelsurium an Kugeln, Perlenschnüren und Eiszapfen, die von den Ästen baumelten.
In den Sesseln hatten es sich einige Gäste bequem gemacht, tranken Café au Lait oder heiße Schokolade und lasen mehrere Tage alte französisch- und englischsprachige Zeitungen.
Die Stimme war vom anderen Ende des Raums gekommen, und auch wenn Constance die Frau noch nicht richtig sehen konnte, wusste sie doch, wer gerufen hatte.
»Ich habe Tee für euch bestellt.« Myrna stand neben dem Kamin und wartete auf sie.
»Du redest mit der da, oder?«, erwiderte Ruth, ließ sich auf den besten Sessel am Feuer plumpsen und legte die Füße auf den Hocker.
Constance umarmte Myrna und spürte ihren weichen Körper unter dem dicken Pullover. Myrna war groß, schwarz und zwanzig Jahre jünger als sie, dennoch fühlte sie sich an und roch, als wäre sie Constances Mutter. Anfangs hatte es Constance aus dem Gleichgewicht gebracht, so als hätte sie einen Stoß erhalten. Aber dann begann sie sich auf diese Umarmungen zu freuen.
Constance trank ihren Tee, sah in das flackernde Kaminfeuer und hörte mit halbem...
Erscheint lt. Verlag | 23.9.2021 |
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Reihe/Serie | Ein Fall für Gamache | Ein Fall für Gamache |
Übersetzer | Andrea Stumpf, Gabriele Werbeck |
Verlagsort | Zürich |
Sprache | deutsch |
Themenwelt | Literatur ► Krimi / Thriller / Horror ► Krimi / Thriller |
Schlagworte | Gamache • Three Pines • Weihnachten |
ISBN-10 | 3-311-70263-8 / 3311702638 |
ISBN-13 | 978-3-311-70263-4 / 9783311702634 |
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