Das Nest (eBook)
416 Seiten
Diogenes (Verlag)
978-3-257-61194-6 (ISBN)
Katrine Engberg, geboren 1975 in Kopenhagen, arbeitete für Fernsehen und Theater und war als Tänzerin, Choreografin und Regisseurin landesweit bekannt, bevor sie in der Welt des skandinavischen Thrillers debütierte - mit großem Erfolg, auch international. ?Wintersonne? ist der fünfte Fall für Kørner und Werner. Katrine Engberg lebt mit ihrer Familie in Kopenhagen.
Zwei Tage zuvor
Das Meer schloss sich über seinem Kopf, er sank dem Grund entgegen, fort vom Licht der Oberfläche. Ein Streifen Tang strich über seine Arme und lud ihn ein, sich tiefer sinken zu lassen. Es war verlockend, sich dem Rausch der Tiefe hinzugeben, wie Jacques Mayol im gleichnamigen Film. Ein letztes Mal ausatmen und sinken, den Körper zu Partikeln werden lassen, die in den senkrechten Sonnenstrahlen des Meeres tanzen.
Aber der Hafen von Snekkersten war vom bodenlosen Blau des Mittelmeers weit entfernt. Er stieß sich vom Grund ab und streckte die Arme in Richtung Licht. Eine Sekunde später durchbrach er die Wasseroberfläche und holte Luft.
»Ich hab schon gedacht, du kommst nie wieder hoch.«
Jeppe Kørner schüttelte sich das Wasser aus den Ohren und kniff die Augen zusammen, um die Gestalt auf dem Badesteg zu erkennen. Über der Wasseroberfläche war die Welt warm und hell. Er schwamm zur Leiter und suchte mit den Füßen die unterste glitschige Stufe. Schaute ein letztes Mal nach unten. Die kühle Tiefe des Meeres weckte immer eine seltsame Sehnsucht in ihm.
»Ich begreife nicht, wie du es so lange aushältst. Ich friere schon nach zehn Sekunden.« Johannes Ledmark schauderte in seinem Bademantel und reichte Jeppe ein Handtuch. »Gehen wir in die Sauna, uns aufwärmen, bevor die Rentner kommen. Ich ertrage den Anblick der ganzen Krampfadern nicht.«
Er zwinkerte, um seinem boshaften Spruch die Spitze zu nehmen, und ging in Richtung Sauna. Jeppe trocknete sich ab und steckte die Füße in die etwas zu kleinen Badelatschen, die Johannes ihm geliehen hatte.
Seit letztem Sommer wohnte Johannes im Erdgeschoss eines alten Backsteinhauses am Snekkersten Strandvejen. Sein Versuch, die zwölfjährige Beziehung zu seinem Ehemann zu retten, war endgültig fehlgeschlagen, ihre gemeinsame Wohnung in Vesterbro stand zum Verkauf. Der Schauspieler Johannes Ledmark versteckte sich vor den neugierigen Blicken der Öffentlichkeit in dem alten Fischerdorf nördlich von Kopenhagen und leckte dort seine Wunden. Das Haus war undicht und heruntergekommen, das Grundstück zugewuchert, aber Johannes schien sich in diesem mittelfristigen Chaos mit Aussicht über den Øresund wohl zu fühlen. Er hatte sich mit Heckenschere und Astschneider sogar um den Garten gekümmert und behauptete hartnäckig, Rasenmähen und auf der Terrasse Unkrautjäten hätten etwas Meditatives.
»Ich glaube, wir haben Glück, die Sauna ist leer.«
Johannes hielt Jeppe die Tür des kleinen schwarzgestrichenen Häuschens auf, sie setzten sich auf die Holzbänke der Sauna. Die trockene Hitze des Ofens stieg durch das Holz und erweckte ihre ausgekühlten Körper wieder zum Leben. Es war ein ungewöhnlich sonnenreiches Frühjahr, doch die Luft hatte durchaus noch Biss, und die Wassertemperaturen waren bisher nicht über acht Grad gestiegen.
»Jetzt sieh uns nur an«, lachte Johannes. »Winterbaden mit Sauna. Jetzt fehlt nur noch ein Stück Smørrebrød und ein Ausflug ins Louisiana-Museum hier an der Küste, und wir wären wie unsere Eltern.«
»Ich mag Smørrebrød!« Jeppe schüttelte das Meerwasser aus seinen kurzen Haaren, damit es ihm nicht länger kalt auf den Rücken tropfte. »Außerdem sind wir doch längst wie unsere Eltern. Du hast es bloß noch nicht bemerkt, weil die Kerle, mit denen du schläfst, nur halb so alt sind wie du.«
»Nicht frech werden!« Johannes schlug mit seinem zusammengerollten Handtuch auf Jeppes Arm, der die Attacke mit seinem Handtuch erwiderte und Johannes’ Schulter erwischte. Sie lachten.
»Außerdem halten meine jungen Liebhaber mir das Alter vom Leib. Sieh mal, ich war nie hübscher als jetzt!« Johannes lächelte ironisch. »Jugendlich und nur einsam an Sonntagen. Was ist mit dir, du hast doch jetzt beinahe so etwas wie Frau und Kinder, oder? Wie ist das?«
Jeppe blickte auf seine Füße, an denen Meerwasser und Schweiß perlten. Sara war tatsächlich nicht nur seine Freundin, sie war auch die Mutter zweier Töchter. Und inzwischen balancierte er oft auf Messers Schneide zwischen Liebe und Gereiztheit.
»Noch wohnen wir nicht zusammen. Es ist gar nicht so einfach, wenn Kinder im Spiel sind.«
Johannes legte den Kopf schief und trocknete seine Ohren mit dem Handtuch. »Andererseits kann man so auch zu Kindern kommen. Das wolltest du doch schon immer gern.«
Jeppe zuckte die Achseln. Mit seiner Exfrau hatte er drei fehlgeschlagene Fertilitätsbehandlungen hinter sich gebracht, bevor sie sich scheiden ließen und sie mit einem anderen Mann ein Kind bekam. Seit damals hatte er mehr oder weniger den Gedanken aufgegeben, Vater zu werden.
»Wenn man selbst keine Kinder hat, kann das durchaus ein bisschen viel werden.«
Johannes sah ihn skeptisch an. »Mal ehrlich, kann man überhaupt lernen, Kinder anderer Leute zu lieben?«
Jeppe sah die elfjährige Amina vor sich, die gestern Morgen erst den Haushalt – und den größten Teil der Nachbarschaft – mit Korea-Pop in Festivallautstärke geweckt hatte und dann einen hysterischen Anfall bekam, als die Musik leiser gestellt wurde.
»Es sind zwei nette Mädchen.«
»Das werte ich als ein Nein«, grinste Johannes. »Ich hab’s geahnt! Aber ich verstehe dich, die meisten Kinder sind ebenso unerträglich wie ihre Eltern.«
»He«, protestierte Jeppe, »das habe ich nicht gesagt! Ich mag Saras Kinder sehr, aber wir müssen uns erst noch kennenlernen. Sie brauchen Zeit, um sich an den neuen Freund ihrer Mutter zu gewöhnen –« Er hielt inne. Spürte, wie die Hitze ihm über den Rücken lief und in die Wangen stieg, bis sie rot glühten. »Sag mal, wollen wir nicht stattdessen über deine Scheidung reden? Wie läuft es mit der Aufteilung eurer Sachen? Redet ihr über eure Anwälte miteinander?«
Johannes hob die Hände wie eine weiße Flagge. »Okay, du hast gewonnen. Gehen wir frühstücken. Ich habe Brötchen gekauft.«
Jeppe stand auf, ein Schweißtropfen fiel von seinem Kinn auf den Boden. »Erst müssen wir noch einmal ins Wasser. Kurz untertauchen.«
»Nein! Ich sterbe, wenn ich noch einmal in dieses eiskalte Meer muss.«
»Ein wenig Sterben bringt dich nicht um. Komm schon, alter Freund!« Jeppe zog Johannes aus der Sauna und schob ihn zur Mole und dem Badesteg. Er sehnte sich bereits nach der Kälte und Dunkelheit unter der Wasseroberfläche. Jeppe legte seinen Bademantel über den Zaun und war schon beinahe am Steg, als er sein Telefon in der Bademanteltasche klingeln hörte. Er ging zurück und blickte aufs Display. Die Polizeikommissarin. Der Wind verursachte Gänsehaut auf seinen nackten Armen.
Der weiche Sand gab unter den Füßen nach, so dass sich jeder Kontakt zwischen den Gummisohlen und dem Strand von Greve in einer Linie von Fußabdrücken verewigte. Anette Werner ließ ihre Hunde vorauslaufen und genoss das Gefühl ihres arbeitenden Körpers und der pumpenden Lunge. Das Meer lag wie ein blaugrauer Gürtel da, der Geruch nach Tang kam mit der Brandung und vermischte sich mit dem scharfen Duft des Strandginsters. Die Morgensonne stand bereits hoch über dem Horizont. Anette rang nach Atem und wunderte sich, warum etwas, das uns zu einem Glücksgefühl verhilft, in der Regel auch mit Schmerz verbunden ist. Wie zum Beispiel Mutter zu werden. Die Geburt Gudruns vor einem Jahr und neun Monaten war zweifellos das Härteste, was sie je erlebt hatte. Und doch liebte sie ihre Tochter grenzenlos und vermisste sie bereits, wenn sie ihr morgens in der Krabbelstube zum Abschied winkte.
Die Hunde bellten. Anette sprintete die hundert Meter bis zu den drei aufgeregten Border Collies. Als sie die Hunde erreichte, hatte sie einen ganz trockenen Mund. Die Hunde schubsten sich knurrend, sprangen hin und her und legten sich flach in den Sand. Anette trennte sie resolut und beugte sich über ihren Fund.
Im Sand lag ein toter Vogel. Ein Eiderentenerpel. Sie erkannte ihn an der scharfen Schwarzweißzeichnung, dem grünen Nacken und der leicht orangefarbenen Brust. Wie ein Säugling lag er auf dem Rücken, den Kopf zur Seite gedreht. Die Federpracht war mehr oder weniger unversehrt, es sah beinahe so aus, als würde er schlafen. Aber zwischen den gelben Beinen, wo sein Bauch sein sollte, klaffte nur ein blutiges Loch. Der Vogel war tot. Vielleicht war er auf dem Flug von Saltholm nach Süden gestorben, zurückgelassen von seinem Schwarm.
Die Sonne blitzte in dem glänzenden Gefieder, und Anette widerstand dem Impuls, das hübsche Tier zu streicheln. Es war schließlich nur ein toter Vogel, nicht viel anders als das Hähnchen, das Svend gestern zum Abendessen zubereitet hatte.
Sie rief den Hunden einen Befehl zu, so dass sie ihr gehorsam zurück zum Auto folgten – aufgeregt, weil sie den Vogel zurücklassen mussten, aber zu gut erzogen, um sich zu widersetzen. Auf dem Parkplatz wurden ihnen die Pfoten abgewischt, dann sprangen sie wie immer auf den Rücksitz und schienen ihren Fund vollkommen vergessen zu haben. Doch als Anette den Motor anließ, begannen sie zu fiepen und zu winseln, als hätten sie etwas von sich selbst am Strand zurückgelassen.
Vor dem Reihenhaus Holmeås Nummer 14 stand Svend und empfing sie mit Gudrun auf dem Arm. Anette sah ihre Tochter strampeln, sie wollte heruntergelassen werden, um die Welt zu erforschen. Immer ungeduldig, nur...
Erscheint lt. Verlag | 28.7.2021 |
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Reihe/Serie | Kørner & Werner | Kørner & Werner |
Übersetzer | Ulrich Sonnenberg |
Verlagsort | Zürich |
Sprache | deutsch |
Original-Titel | Vadeskud |
Themenwelt | Literatur ► Krimi / Thriller / Horror ► Krimi / Thriller |
Schlagworte | Anette Werner • Auktionshaus • Dänemark • Dänische Literatur • Entführung • Familie • Fotografie • Galerist • Jeppe Kørner • Jugendlicher • Kidnapper • Klimajugend • Klimaschutz • Kopenhagen • Krimi • Kriminalroman • Kunst • Künstler • Meer • Oscar Wilde • Umweltschutz |
ISBN-10 | 3-257-61194-3 / 3257611943 |
ISBN-13 | 978-3-257-61194-6 / 9783257611946 |
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