Tiefer Fjord (eBook)
400 Seiten
Ullstein (Verlag)
978-3-8437-2564-4 (ISBN)
Ruth Lillegraven wurde 1978 in Hardanger geboren und lebt heute in Bærum. 2005 debütierte sie mit einer Gedichtsammlung. Seitdem veröffentlichte sie Lyrik, Kinderbücher, ein Theaterstück und Romane. Ihre Bücher wurden mit zahlreichen Preisen ausgezeichnet, unter anderem erhielt sie den Brage-Preis und den Nynorsk Literaturpreis.
Ruth Lillegraven wurde 1978 in Hardanger geboren und lebt heute in Bærum. 2005 debütierte sie mit einer Gedichtsammlung. Seitdem veröffentlichte sie Lyrik, Kinderbücher, ein Theaterstück und einen Roman. Deep Fjord ist ihr erster Psychothriller. Ihre Bücher wurden mit zahlreichen Preisen ausgezeichnet, unter anderem erhielt sie den Brage-Preis und den Nynorsk Literaturpreis.
2 – Clara
Wer ein richtiger Minister sein will, greift kaum jemals selbst zum Telefon. Für gewöhnlich ruft die Sekretärin von Justizminister Anton Munch an und fragt, ob ich rüberkommen kann.
Im Ton höflich, aber die Frage ist rein rhetorisch.
Her mit dir. Pronto.
»Ich komme.« Ich stehe auf, streiche mein Kostüm glatt, speichere das Dokument, an dem ich arbeite. Mein drittes Kind. Ein Vorschlag zur Gesetzesänderung. Prop. 220 L. 78 Seiten. 11. Kapitel. Vorbemerkung, Zielsetzung. Geltendes Recht, Erwägungen und Vorschläge. Anmerkungen. Dann der neue Gesetzestext.
Und ganz am Schluss wie immer die absurde Formel Wir, Harald, König von Norwegen.
Der Gesetzesvorschlag soll dafür sorgen, dass alle Instanzen, ob Krankenhaus oder Jugendamt, Kindergarten oder Gesundheitswesen, stärker verpflichtet sind, jeden Verdacht von Gewalt gegen Kinder oder Missbrauch weiterzuge-
ben.
Diese Meldepflicht ist im geltenden Recht bislang zu unverbindlich formuliert, überall steht die Schweigepflicht im Vordergrund.
Das soll anders werden.
Der Vorschlag ist so gut wie fertig. Jetzt arbeite ich noch am Text, straffe ihn und feile und poliere an ihm herum wie an einer Skulptur, damit er rundherum glänzt.
Und ich setze meine Ehre daran, den aufgeblasenen, unverständlichen Stil zu vermeiden, den wir Juristen gewöhnlich produzieren, lauter verschachtelte Nebensätze und Einschübe, bis es eine unlesbare Soße wird, wegen der die PR-Leute sich die Haare raufen, wenn sie Presseerklärungen zustande bringen müssen. Jedes Jahr neu werden etliche externe Berater engagiert, die uns beibringen sollen, uns verständlich auszudrücken. Klartext sozusagen.
Klartext können sie haben.
Ich klackere auf meinen Stilettos durch die Gänge zur politischen Abteilung. Absätze auf braunem Schiffsboden. In den Verwaltungsetagen haben wir nur Linoleum, hier im Allerheiligsten ist Teakholz verlegt, mit schwarzen Streifen zwischen den Deckplanken.
Der Erste, dem ich bei den Politikern begegne, ist dieser idiotische, auf den Hinterbeinen stehende ausgestopfte Eisbär. Wahrscheinlich auf Spitzbergen geschossen, auf der Treppe vor der Kirche. Gereckter Rücken, starrer Blick. Ich reiche ihm gerade mal bis zum Ellbogen. Er hört auf den Namen »Oddbjørn«.
Seit einiger Zeit arbeite ich direkt Minister Munch zu, abseits vom Dienstweg. In den letzten Monaten bin ich ihm und damit meinem Ziel immer näher gekommen.
Sämtliche Einwände und Fragen der verschiedenen Vorgesetzten habe ich in diesen Tagen gelöst. Der Vorschlag muss zwar noch eine Anhörung überstehen, bevor er dem Parlament vorgelegt werden kann, aber wenn der Minister sein Okay gibt, ist schon viel gewonnen.
Ein Ministerium spürt schnell, ob es an seiner Spitze eine Führungspersönlichkeit hat oder nicht. Munch ist jetzt seit einem Jahr im Amt, inzwischen merkt man, dass er viel heiße Luft produziert, aber ich sehe ihn weniger kritisch als andere, eben wegen meines Projekts.
Der Höhepunkt war vor einer Woche. Wir saßen in seinem Büro, er lehnte sich im Schreibtischstuhl zurück, faltete die Hände hinter dem Kopf und sagte:
»Okay, Clara. Wir machen das.«
Auch jetzt sitzt er wieder hinter seinem großen braunen Schreibtisch, dahinter passende Bücherschränke.
Am Tag nach der Schlüsselübergabe hat er die Gemälde, die in seinem Büro hingen, rausgeworfen und durch einen riesigen Flachbildschirm-Fernseher ersetzt. Außerdem hat er das Büro mit Hunderten Miniaturhelikoptern und Militärfahrzeugen geschmückt, was die Journalisten nur zu gerne in ihren Artikeln erwähnen.
Der aufgeräumte Teakholzschreibtisch, das Obst, die weißen Kaffeetassen, der Fernseher, die Schnellhefter, die ironischen Kaktustrophäen der Boulevardzeitschrift Se og Hør, nichts scheint besonders, aber der Mann hinter dem Schreibtisch sitzt auf einem der mächtigsten Posten des Landes.
»Komm rein«, sagt er jetzt, ohne von seinem Telefon aufzublicken.
»Hei Clara«, sagt eine Stimme. Erst jetzt bemerke ich Ernst Woll hinter dem Besprechungstisch in der Ecke.
Das gesamte politische Führungspersonal besteht aus Männern. Woll ist der tougheste und der einzige Jurist. Sein Büro ist das größte, sein Einfluss der größte.
Früher gab es immer nur einen Minister und einen Staatssekretär, jetzt ein ganzes Rudel Staatssekretäre, dazu noch politische Referenten. Alle kämpfen sie um die Gunst des Justizministers, wetteifern darum, wer am fleißigsten ist und am meisten zustande bringt.
Alle, die ein politisches Amt innehaben, müssen unablässig beweisen, dass sie es auch ausfüllen, und dafür müssen sie sich in alles Mögliche einmischen. Darum verzögern die Staatssekretäre ständig die Arbeit und stehlen den Mitarbeitern ihre Zeit, die Besseres zu tun hätten.
Der Minister ist mit seiner Funktion als Galionsfigur beschäftigt und damit, seine Sache in den Medien und auf Facebook gut zu machen, die Staatssekretäre sitzen in den Besprechungen, sind den Fachreferenten auf den Fersen und treffen die meisten politischen Entscheidungen.
Trotzdem habe ich Munch dazu bringen können, sich für meinen Gesetzesvorschlag zu engagieren. Und es ist mir gelungen, Woll zu umgehen. Bis jetzt.
»Wir werden dich nicht lange aufhalten«, sagt Woll.
»Kein Problem«, sage ich.
»Ja, Clara.« Munch blickt endlich von seinem Telefon auf. »Unser Vorschlag ist im Kabinett diskutiert worden …«
Stille.
»Ja?« Mir dämmert, dass diese Besprechung in eine andere Richtung laufen könnte als gedacht. Die beiden schauen einander kurz an. Munch wirkt widerwillig. Woll zuckt mit den Schultern, scheint bereit, es hinter sich zu bringen.
»Und, ja … Wir müssen ihn auf Eis legen«, sagt Munch endlich.
Die Härchen an meinen Armen stellen sich unter der weißen Seidenbluse auf.
»Wie meinst du das?«, frage ich mit belegter Stimme. »Die Minister haben doch meine Vermerke gelesen?«
»Du weißt doch, so was passiert ständig. Kontroverser Vorschlag. Koalitionsregierung. Die anderen halten ihn für zu radikal. Und ich habe gerade andere Sachen auf der Platte, die ich unbedingt durchbringen muss.«
»Aber das wäre das Wichtigste, was du in deiner Amts-zeit tust«, sage ich. »Wissen deine Kollegen nicht, was das für die Schwächsten in unserer Gesellschaft bedeuten würde?«
Hinter meinem Rücken lacht Woll ein kurzes, trockenes Lachen und unterbricht mich:
»You win some, you lose some. Die Sache ist gelaufen.« In seiner Stimmung knistert eine Spur Schadenfreude.
So sind sie. Es geht ausschließlich um Macht.
Alles kann Verhandlungssache sein. Alles kann gekippt werden.
»Du hast den Minister gehört. Danke, dass du gekommen bist«, fügt Woll noch hinzu und steht auf. Ein ministerieller Rauswurf.
Munch sieht wieder auf sein Mobiltelefon, mich schaut er nicht mehr an.
Ich drehe mich um, fast überrascht, dass mein Körper gehorcht, gehe aus der Tür, am Schreibtisch von Munchs Sekretärin vorbei, an dem gigantischen Obstkorb, der hier doppelt so groß ist wie in den Fachabteilungen.
Vorbei am Eisbären, der in seiner täppischen Freundlichkeit plötzlich erschreckend wirkt.
Vorbei an den Teilen der Helikopter- und Militärfahrzeugsammlung, die bis ins Vorzimmer gedrungen sind, aus der Abteilung hinaus, durch die Flure.
Irgendwann bin ich endlich zurück in meinem Büro, ziehe die Tür hinter mir zu, rutsche an der Innenseite zu Boden und bleibe dort mit angezogenen Knien sitzen.
Haavard nennt mich immer die Eiskönigin. Er selbst kann bei jeder sich bietenden Gelegenheit weinen.
Ich glaube, ich habe seit dem Tag vor dreißig Jahren nicht mehr geweint, und ich habe auch nicht vor, damit anzufangen. Aber jetzt lege ich die Hände vors Gesicht, die Fingerspitzen auf den Augen. Ich versuche, ruhig zu atmen. Es gelingt mir nicht.
Als ich dreizehn war, im Jahr nach dem Unfall, übernachtete ich manchmal allein auf der Sommeralm. Drei, vier Nächte nacheinander. Ich kochte mir selbst, heizte ein, las, wanderte.
Einmal kam ich auf die Idee, einen Berg in der Umgebung zu besteigen, den Trollskavlen. Eine lange, anstrengende Wanderung, aber mein Vater hatte mir erklärt, welchen Weg er als Jugendlicher gegangen war, ich hatte ihn auf der Karte verfolgt und wusste, dass ich es schaffen konnte. Und ich hätte es auch geschafft, wenn der Sonnenschein, bei dem ich aufgebrochen war, nicht plötzlich von dichten Wolken verdeckt gewesen wäre.
Wenige hundert Meter vor dem Gipfel zog dichter Nebel auf.
Erst verschwand der Gipfel. Dann sah ich überhaupt nichts mehr.
Alles war weiß.
Ich nahm Karte und Kompass hervor und bewegte mich voran, meinte, es sei die richtige Richtung. Irgendwann kam ich zu einem Steilhang, den ich wohl vorher erstiegen hatte. Ich drehte mich um, Angst im Bauch, und kletterte runter, bis ich auf einmal mitten im Hang stecken blieb, angespannt wie Spiderman, und weder vor noch zurück konnte.
Ich...
Erscheint lt. Verlag | 28.6.2021 |
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Übersetzer | Hinrich Schmidt-Henkel |
Verlagsort | Berlin |
Sprache | deutsch |
Themenwelt | Literatur ► Krimi / Thriller / Horror ► Krimi / Thriller |
Schlagworte | Bestseller Norwegen • Camilla Läckberg • Missbrauch • Psychothriller • Rache • Ragnar Jónasson • Selbstjustiz • Skandinavienkrimi • starke Heldin • Trauma |
ISBN-10 | 3-8437-2564-0 / 3843725640 |
ISBN-13 | 978-3-8437-2564-4 / 9783843725644 |
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