Tinker Tailor Soldier Spy (eBook)
448 Seiten
Ullstein (Verlag)
978-3-8437-2616-0 (ISBN)
John le Carré wurde 1931 in Poole, Dorset geboren. Nach einer kurzen Zeit als Lehrkraft in Eton schloss er sich dem britischen Geheimdienst an. 1963 veröffentlichte er Der Spion, der aus der Kälte kam. Der Roman wurde ein Welterfolg und legte den Grundstein für sein Leben als Schriftsteller. Die Veröffentlichung von Tinker, Tailor, Soldier, Spy markiert den nächsten Höhepunkt seiner Karriere. Seine Figur des Gentleman-Spions George Smiley ist legendär. Nach Ende des Kalten Krieges schrieb John le Carré über große internationale Themen wie Waffenhandel, die Machenschaften der Pharmaindustrie und den Kampf gegen den Terror. Der in Deutschland hochgeschätzte Autor wurde mit der Goethe-Medaille ausgezeichnet. John le Carré verstarb am 12. Dezember 2020. johnlecarre.com
John le Carré, 1931 geboren, schrieb über sechs Jahrzehnte lang Romane, die unsere Epoche ausloten. Als Sohn eines Hochstaplers verbrachte er seine Kindheit zwischen Internat und Londoner Unterwelt. Mit sechzehn ging er an die Universität Bern (Schweiz), später dann nach Oxford. Nach einer kurzen Zeit als Lehrkraft in Eton schloss er sich dem britischen Geheimdienst an. Während seiner Dienstzeit veröffentlichte er 1961 seinen Erstlingsroman Schatten von Gestern. Der Spion, der aus der Kälte kam, sein dritter Roman, brachte ihm weltweite Anerkennung ein, die sich durch den Erfolg seiner Trilogie Dame, König, As, Spion, Eine Art Held und Agent in eigener Sache festigte. Nach dem Ende des Kalten Krieges weitete le Carré sein Themenspektrum auf eine internationale Landschaft aus, die den Waffenhandel ebenso umfasste wie den Kampf gegen den Terrorismus. Seine Autobiografie Der Taubentunnel erschien 2016, Das Vermächtnis der Spione, der abschließende Roman um George Smiley, 2017. John le Carré verstarb am 12. Dezember 2020.
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Ehrlich gesagt, wäre der alte Major Dover nicht auf der Pferderennbahn Taunton tot umgefallen, dann hätte Jim wohl niemals in Thursgoods Schule angefangen. Er tauchte ohne irgendein Vorstellungsgespräch mitten im Schuljahr auf, Ende Mai, obwohl man das am Wetter nicht hätte erkennen können; vermittelt worden war er von einer recht zwielichtigen Agentur, die sich auf Aushilfslehrer für Privatschulen spezialisiert hatte, um den Unterricht des alten Dover zu übernehmen, bis man einen passenden Ersatz gefunden hatte. »Ein Sprachwissenschaftler«, verkündete Thursgood im Lehrerzimmer, »eine vorübergehende Maßnahme«, und wischte sich hoch motiviert eine Strähne aus der Stirn. »Priddo.« Er buchstabierte den Namen: »P-R-I–D« – Französisch war nicht Thursgoods Fach, also warf er einen Blick auf das Stück Papier – »E-A-U-X, James mit Vornamen. Ich schätze, wir haben mit ihm eine gute Zwischenlösung gefunden.« Der Lehrerschaft bereitete es keinerlei Schwierigkeiten, die Zeichen richtig zu deuten. Jim Prideaux musste zu den unterprivilegierten Weißen des Kollegiums zählen. Er war Teil jenes traurigen Haufens, zu dem auch Mrs Loveday zu rechnen war, die Aushilfslehrerin für Religion, die früher mal im Besitz eines Persermantels gewesen war, bis ihre Schecks geplatzt waren, oder Mr Maltby, der Musiklehrer, den man aus den Chorproben geholt hatte, damit er der Polizei bei ihren Ermittlungen zur Seite stehen konnte, was er, soweit man wusste, bis zum heutigen Tage tat, denn Maltbys Koffer lag noch immer für die nächsten Schritte im Keller bereit. Mehrere Lehrer, allen voran Marjoribanks, waren dafür, den Koffer zu öffnen. Darin würden sich aller Voraussicht nach allseits bekannte vermisste Schätze wiederfinden lassen: das Foto von Aprahamians libanesischer Mutter im silbernen Bilderrahmen zum Beispiel, Best-Ingrams Schweizer Messer oder die Uhr der Hausmutter. Doch Thursgood beantwortete die Bitten des Kollegiums nur mit einem strengen Blick aus seinem faltenlosen Gesicht. Seit er die Internatsschule von seinem Vater übernommen hatte, waren erst fünf Jahre vergangen, doch diese Jahre hatten ihn gelehrt, dass manche Dinge am besten unter Verschluss zu bleiben hatten.
Jim Prideaux traf an einem Freitag während eines Unwetters ein. Der Regen zog wie Geschützqualm die Bergkessel der Quantock Hills hinunter, fegte über die leeren Kricketfelder und klatschte gegen den Sandstein der bröckelnden Fassaden. Prideaux kam kurz nach dem Lunch in einem alten roten Alvis, der einen gebraucht gekauften, ehemals blauen Wohnwagen zog. Der frühe Nachmittag in Thursgoods Internat diente der Ruhe, ein kurzer Waffenstillstand im fortlaufenden Kampf eines jeden Schultags. Die Jungen werden in ihre Schlafsäle geschickt, die Lehrer versammeln sich beim Kaffee im Lehrerzimmer zum Zeitunglesen oder Korrigieren der Schulaufgaben. Thursgood liest seiner Mutter einen Roman vor. Von den gesamten Internatsbewohnern beobachtete einzig der kleine Bill Roach Jims Ankunft, sah den Dampf, der aus der Motorhaube des Alvis aufstieg, als der Wagen keuchend die zerfurchte Zufahrt entlangzuckelte; die Scheibenwischer arbeiteten auf Hochtouren, der Wohnwagen rumpelte schwankend durch die Pfützen hinterher.
Roach war ein neuer Schüler und galt als ziemlich begriffsstutzig, wenn nicht gar beschränkt. Thursgood war schon seine zweite Privatschule in zwei Schuljahren. Er war ein dickes, rundliches Kind mit Asthma, und er verbrachte den Großteil der Ruhezeit damit, am Bettende zu hocken und aus dem Fenster zu glotzen. Seine Mutter führte in Bath ein ausschweifendes Leben; sein Vater, darin waren sich alle einig, war der reichste der Schulväter, ein Ruf, für den sein Sohn teuer bezahlen musste. Als Scheidungskind war Roach zudem der geborene Beobachter. Und wie Roach beobachten konnte, hielt Jim nicht vor dem Schulgebäude, sondern fuhr weiter in Richtung der Ställe. Offenbar kannte er das Gelände. Später entschied Roach, dass Jim wohl alles ausgekundschaftet oder einen Lageplan studiert haben musste. Als Jim die Ställe erreicht hatte, hielt er nicht an, sondern fuhr direkt weiter zum nassen Gras und drückte aufs Gas, um den Schwung nicht zu verlieren. Dann fuhr er über den kleinen Hügel und steuerte in die Senke hinein, sodass er außer Sicht geriet. Jim nahm die Höhe derart entschieden, dass Roach schon halb damit rechnete, dass der Wohnwagen aufsetzen würde, doch es hob sich nur das Hinterteil, und der Wagen verschwand wie ein riesiges Kaninchen in seinem Bau.
Die Senke war Teil des kulturellen Erbes von Thursgood. Sie liegt auf einem Stück Ödland zwischen Obstgarten, Gewächshaus und den Stallungen. Bei genauerem Hinsehen handelt es sich um kaum mehr als eine grasbedeckte Mulde mit kindshohen Erdwällen an der Nordseite, die von dichtem, im Sommer leicht durchdringbarem Gestrüpp bewachsen sind. Diese Wälle verleihen der Senke ihren besonderen Reiz als Spielort und prägen zugleich die Legende darum, die je nach Fantasie einer neuen Schülergeneration variiert. Überreste einer Silbermine im Tagebau, heißt es beim einen Jahrgang, und es wird begeistert nach Schätzen gebuddelt. Eine römisch-britische Befestigungsanlage, vermutet die nächste Schülergeneration, und es werden Schlachten mit Stöcken und Lehmgeschossen veranstaltet. Wieder ein anderer Jahrgang meint in der Senke einen Bombenkrater aus Kriegszeiten zu erkennen und sieht die Wälle als kauernde Leichen, die eine Explosion in den Tod gerissen hat. Die Wahrheit sieht erheblich unspektakulärer aus. Sechs Jahre zuvor, kurz bevor Thursgoods Vater kurzerhand mit einer Empfangsdame aus dem Castle Hotel durchbrannte, hatte dieser einen Spendenaufruf gestartet, um den Bau eines Swimmingpools zu finanzieren, und die Schüler dazu gebracht, ein großes Loch mit einem tiefen und einem flachen Ende auszuheben. Die Gelder, die eingegangen waren, fielen allerdings zu mickrig aus, um das Projekt fertigzustellen, und wurden zweckentfremdet, für Dinge wie einen Projektor für die Kunstklasse und den Plan, im Keller des Internats Pilze zu züchten. Und wohl auch, so behaupteten böse Zungen nach der Flucht des Pärchens in die deutsche Heimat der Dame, als Startkapital für deren Liebesnest.
Jim wusste nichts von all diesen Geschichten. Doch Tatsache bleibt, dass er durch reinen Zufall genau jenen Bereich von Thursgoods Internat ausgewählt hatte, der, so sah es Roach, über übernatürliche Eigenschaften verfügte.
Roach wartete am Fenster, konnte aber nichts weiter sehen. Der Alvis und der Wohnwagen waren verschwunden, und wenn da nicht die nassen roten Spuren im Gras gewesen wären, dann hätte er sich wohl gefragt, ob er sich das alles nicht nur eingebildet hatte. Aber die Spuren waren wirklich da, und als der Gong zum Ende der Ruhezeit ertönte, zog er seine Gummistiefel an, stapfte durch den Regen zur obersten Kante der Senke, schaute hinein und entdeckte Jim in einem Armeeregenmantel und mit einer wirklich bemerkenswerten Kopfbedeckung, breitkrempig wie ein Safarihut, aber aus Filz; zudem war die Krempe an einer Seite verwegen piratenmäßig hochgeschlagen, und dort plätscherte das Wasser heraus wie bei einer Regenrinne.
Der Alvis parkte auf dem Hof vor den Stallungen. Roach bekam nie heraus, wie Jim ihn aus der Senke befördert hatte, aber der Wohnwagen befand sich jetzt ohne das Auto unten am tiefen Ende und war auf verwitterten Ziegelsteinen aufgebockt. Jim saß auf der Stufe vor der Wohnwagentür, trank aus einem grünen Plastikbecher und rieb sich die rechte Schulter, so als wäre er irgendwo angestoßen, und der Regen floss ihm weiter vom Kopf. Dann hob sich der Hut, und Roach starrte in ein wutrotes Gesicht, das durch den Schatten, den die Krempe warf, und den braunen Schnurrbart, den der Regen zu Fangzähnen geformt hatte, noch wütender wirkte. Das restliche Gesicht war über und über von wilden Furchen durchzogen, die so schief und krumm waren, dass Roach in einem weiteren Aufblitzen seiner prächtigen Fantasie mutmaßte, Jim musste mal an einem tropischen Ort sehr gehungert und sich danach wieder berappelt haben. Seinen linken Arm hielt er weiterhin quer über der Brust, und die rechte Schulter hatte er noch immer an den Hals hochgezogen. Seine ganze schiefe Gestalt hatte sich versteift, und er wirkte wie ein mit dem Hintergrund verschmolzenes, erstarrtes Tier: Ein Hirsch, dachte Roach hoffnungsvoll, etwas ganz Besonderes.
»Wer zum Henker bist du?«, fragte eine sehr militärisch klingende Stimme.
»Roach, Sir. Ich bin neu im Internat.«
Einen Augenblick lang musterte das ziegelsteinrote Gesicht Roach aus dem Schatten des Huts. Dann entspannten sich die Gesichtszüge zur großen Erleichterung des Jungen und gingen in ein draufgängerisches Grinsen über, die linke Hand, die noch immer die rechte Schulter hielt, setzte mit der langsamen Massage fort, und der Mann nahm einen großen Schluck aus dem Becher.
»Neu hier, hm?«, sagte Jim grinsend in den Becher hinein. »Na, diesen Tag werde ich mir rot im Kalender anstreichen.«
Jim erhob sich, wendete Roach den Rücken zu und machte sich daran, die vier Stützen des Wohnwagens einer eingehenden Begutachtung zu unterziehen, einer sehr peniblen Begutachtung, zu der das kräftige Rütteln an der Aufhängung, das Schräghalten des so auffällig bedeckten...
Erscheint lt. Verlag | 28.11.2024 |
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Reihe/Serie | Ein George-Smiley-Roman | Ein Smiley-Roman |
Übersetzer | Peter Torberg |
Verlagsort | Berlin |
Sprache | deutsch |
Themenwelt | Literatur ► Krimi / Thriller / Horror ► Krimi / Thriller |
Literatur ► Romane / Erzählungen | |
Schlagworte | 1. Todestag • 90. Geburtstag • Agent • Antiheld • Britisch • Doppelagent • Doppelspion • England • Gefangenenaustausch • Geheimagent • Geheimdienst • Großbritannien • Kalter Krieg • KGB • Krimi • MI6 • Putin • Smiley • spannend • Spionage • Spionageroman • Spionagethriller • Taubentunnel • Thriller • Tiergartenmörder • Überläufer • UK • Verrat |
ISBN-10 | 3-8437-2616-7 / 3843726167 |
ISBN-13 | 978-3-8437-2616-0 / 9783843726160 |
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