Weekend auf Juist (eBook)
412 Seiten
Books on Demand (Verlag)
978-3-7534-1092-0 (ISBN)
Über den Autor Volker-Andreas Thieme, Jahrgang 1943, studierte nach dem Wehrdienst Romanistik, Geschichte, Philosophie und Rechtswissenschaften an den Universitäten von Münster, Nancy und Köln. Universitätslektor und Lehrassistent in Frankreich, Übersetzer bei der Deutschen Welle, Sprecher/ Moderator für öffentlich-rechtliche und private Rundfunk- und Fernsehsender in Deutschland. Film- und TV-Synchronisationen. Vertonung und Produktion von Filmen für Industrie und Wirtschaft. Bis zu seiner Pensionierung festangestellter Sprecher und Leiter vom Dienst beim Deutschlandfunk. Seitdem freiberuflicher Ghostwriter, Autor und Sprecher in Köln. 'Weekend auf Juist' ist sein erstes zur Veröffentlichung vorgesehenes Buch.
KAPITEL 1
BRUXELLES REQUIEM 1
Vergesst Brüssel
„Nein!
Hört auf!
Nein, schreit mich nicht an! Lasst das!“
Francoise Lagardière2 humpelt
zum Straßenfenster ihrer Altbauwohnung
in der Petite rue des Bouchers.
„Hört endlich auf! Lasst mich in Ruhe!“
Die alte Frau rafft mit zitternden Fingern
die Wolkenstores beiseite,
um einen Blick in die abendliche
Fußgängerzone zu erhaschen.
Eine laute Stimme durchdringt die Fensterscheiben.
„Ich hab´s nicht so gewollt!
Ich kann doch nichts dafür, verdammt nochmal!“
„Des Allemands“, murmelt die Frau tonlos,
„Deutsche.
Ce sont des cris allemands,
je les connais.
Ich kenne diese Schreie,
deutsche Schreie.“
Madame Lagardière hat viel erlebt
in den letzten Monaten.
Gewalt und tödliche Anschläge
in Brüssel allerorten.
Nun auch hier?
Im Zentrum und Fixpunkt
der Fresslust und Gaumenfreude
von Europas Verwaltungshauptstadt?
Die meisten Passanten des
Touristenstroms,
der sich durch die Altstadtgasse
wälzt,
schrecken zusammen.
Die Blicke der hungrigen und durstigen
Flaneure fallen
auf eine kleine Menschengruppe
in der Mitte der Petite rue des Bouchers,
der „Kleinen Metzgerstraße“. 3
Männer und Frauen im mittleren Alter,
freizeitgemäß und bürgerlich gekleidet,
die meisten Jeans-behost und Anorak-gerüstet,
alle wild durcheinander gestikulierend,
aufeinander einredend,
umringen einen Mann.
Jürgen Remmler.
Dr. Jürgen-Rudolf Remmler
aus Köln.
Mit den Händen
in die aufziehende Nacht fuchtelnd,
brüllt er stoßweise und erregt in die Runde.
„Hört mal zu, Leute!
Dass hier
ohne Reservierung nichts läuft,
hab ich doch nicht gewusst!
Und dass hier
Tausende
an die Tröge wollen,
konnte ich auch nicht ahnen!
Dass auch die teuersten Lokale
rammelvoll sind
mit diesen Spesenrittern der EU,
diesen Empfängern ungeheurer,
unbegrenzter, fantastisch hoher Euro-Gehälter,
wusste ich nicht!
Hier in Brüssel geht eben
der kleine EU- Beamte
und natürlich sein noch fetter besoldeter
vorgesetzter Beamte
einfach jeden Tag auf Jagd
nach einem noch ausgefalleneren,
noch teureren
Spitzen-Edel-Michelin-besternten,
Gault-Millau-bemützten
Gourmet-Gourmand-Tempel!
Ist doch klar bei der vielen Knete!“
Madame Lagardière,
am Fenster ihrer Wohnung
durch den Spalt der Gardine spähend,
schüttelt den Kopf.
„Immer diese Deutschen!
Machen selber den größten Mist
in der EU
und beschweren sich über solche
Kinkerlitzchen.
Was will er denn,
der schreiende Mann da unten?
Volle Restaurants?
Et alors, c´est quoi?, na und?
Dann bleibt ihr eben draußen
und kriegt nicht das,
was Ihr verwöhnten Mäuler möchtet!
Alors, les boches4,
affamez-vous!
Dann hungert mal schön!“
Die Alte zieht mit einem Ruck
die Gardine wieder zu.
Der Mann inmitten seiner Gefolgschaft
kommt auf Touren.
„Diese EU-Bonzenclique
besetzt einfach alle freien Plätze,
verleibt sich die Etablissements
fresstechnisch ein,
um ihre vom europäischen Steuerzahler
abgepressten Euronen
locker und standesgemäß
über die im Brüsseler Altstadtgewirr
auf zahlungskräftige Kundschaft lauernden
und des Geldsegens harrenden
Spitzen-Lokale auszuschütten
und unter den Köchen zu verteilen.
Nach dem Gießkannenprinzip!
Und das natürlich regelmäßig
und rechtzeitig
vor Eintreffen
der nächsten Monats-Apanage!
Und uns armen deutschen Steuerzahlern
und Wochenend-Touristen,
die wir nur an einem einzigen Abend
an diesen kulinarischen Köstlichkeiten
für die gebenedeite
Brüsseler Bürokraten-Haute-Volée 5
schnuppern,
ein einziges Mal nur an Stern- und
Kochmützen-Tafeln
knabbern möchten:
uns wird selbst das verwehrt!
Und zwar ganz einfach:
Durch schiere Überfüllung der Lokalitäten,
durch schnöde Abweisung schon am Entrée.
Das, meine Freunde,
das ist gesetzeswidrige Diskriminierung
gastronomischer Minderheiten
durch die Fress-Bataillone der EU!
Politisch völlig inkorrekt!
Nicht PC, nicht OK!
Und dass der Marokkaner, bei dem wir
schließlich gelandet sind,
qualitativ unterirdisch war,
liegt ja erkennbar nicht an mir.
Sondern am Marokkaner!
Kann ich auch nichts dafür!“
Jürgen-Rudolf Remmler
lamentiert mit rudernden Armen,
zuckenden Schultern
und vor Empörung rotgeäderten Wangen
noch eine ganze Weile weiter,
an diesem unseligen Abend
dieses penibel geplanten Wochenendes
im September 2015,
an dem er
mit seinen alten Kegel-Freunden
aus uralten Studentenzeiten
in der Altstadt von Brüssel umherirrte
und ihnen etwas ganz Besonderes bieten,
mit ihnen gourmetmäßig edel
essen gehen wollte.
Verdammtes Brüssel!
Alles fing damit an.
Mit diesem einen Abend,
an dem
alles vorher Gewesene,
von Remmler Unternommene,
auf sich Genommene
und selbst das speisenmäßig
zu sich Genommene
zu Makulatur wurde.
Vergebens die Anstrengungen
im Vorfeld dieses missglückten Abends:
Immer wieder neue Lokalitäten aufgespürt,
Speisekarte rauf-, Speisekarte runtergegessen,
abgehakt, verworfen, geprüft, verglichen,
geschmeckt, gewertet
und dann das.
Diese nationale Unart,
dieser Hang des Belgiers
zum Nichtgebrauch der deutschen Sprache.
Diese verfluchten Speisekarten
auf Französisch, „Merde alors!“ 6
Nichts schmeckt, wie es klingt,
für Deutsche ganz schwierig.
Und dann diese verdammten Edellokale
in Brüssels verfressenster Ecke.
´Le Marmiton´ : gerammelt voll
der Schuppen,
alle Plätze vergeben.
´Brasserie Schuddeveld ´: hundert Hungrige
vor der Tür,
drinnen die Abgefütterten,
wartend aufs Dessert,
nicht bereit, den Platz zu räumen.
´Belga Queen´, der gepriesene
Banker-Tempel:
plein á craquer, knallvoll.
Zu guter Letzt diese Landung
mit den Freunden
beim Marokkaner, auch das noch.
Statt High-Class nur Brei-Fraß.
Couscous als Frust-Fress-Schluss.
Optimal gewollt, suboptimal gelaufen.
In den tiefen Windungen
von Gehirn und Vorstellungswelt
des Jürgen R. jedenfalls
blieb dieser Abend
als mittleres Desaster
wahnhaft eingebrannt.
Unverheilte Wunden
im Persönlichkeitsprofil des Jürgen R.
nach Rückkehr in den deutschen Alltag.
Versagensängste, Ess-Störungen,
Endzeitgedanken
die schreckliche Folge bei Remmler.
Und natürlich unendliche
innere Schuldvorwürfe
und nagende Unzufriedenheit des Mannes.
Berichte sprechen
von ernsthaftem Zerwürfnis
mit seiner Partnerin Beate „Ati“ Behrendiek.
Eine starke Frau, diese Behrendiek.
Trotzt mit erhobenem Haupt
allen Selbstzweifeln und Selbstkasteiungen
ihres Geliebten.
Richtet den Geschundenen immer wieder auf.
Dennoch: Fixe Idee7 bei Remmler
entwickelt sich,
nimmt überhand,
ergreift Besitz von Denken und Trachten
und verändert schließlich
die kleinsten Dinge des Alltags
im Tagesablauf des Bedauernswerten.
Zwangshandlungen schleichen sich ein,
ähnlich wie Dyskinesien8,
motorische Störungen.
Frühmorgens schon
gemurmelte Menüfolgen
aller bekannten Luxusrestaurants
in Deutschland,
z.B. Tantris München, Tim Mälzer Hamburg,
Zum Schiffchen Kaiserswerth,
Eddie´s Grillstube Köln-Rodenkirchen.
Mittags Wälzen von Katalogen
der teuersten Urlaubsresorts im In- und Ausland.9
Abends Barbesuche in Müritz und Marbella,
nachts verbilligte Solo-Testflüge
zu Destinationen in ganz Europa.
Ryanair, Germanwings, Air Berlin und EasyJet
küren Remmler
zum Vielflieger des Jahres.
Alles Denken, alles...
Erscheint lt. Verlag | 24.3.2021 |
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Sprache | deutsch |
Themenwelt | Literatur ► Comic / Humor / Manga |
ISBN-10 | 3-7534-1092-6 / 3753410926 |
ISBN-13 | 978-3-7534-1092-0 / 9783753410920 |
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