Am Ende des Zorns (eBook)
400 Seiten
Piper Verlag
978-3-492-60008-8 (ISBN)
Wolfgang Burger, geboren 1952 im Südschwarzwald, ist promovierter Ingenieur und hat viele Jahre in leitenden Positionen am Karlsruher Institut für Technologie KIT gearbeitet. Seit 1995 ist er schriftstellerisch tätig und lebt heute in Karlsruhe und Regensburg. Seine Gerlach-Krimis wurden bereits zweimal für den Friedrich-Glauser-Preis nominiert und stehen regelmäßig auf der SPIEGEL-Bestsellerliste.
Wolfgang Burger, geboren 1952 im Südschwarzwald, ist promovierter Ingenieur und hat viele Jahre in leitenden Positionen am Karlsruher Institut für Technologie KIT gearbeitet. Seit 1995 ist er schriftstellerisch tätig und lebt heute in Karlsruhe und Regensburg. Seine Gerlach-Krimis wurden bereits zweimal für den Friedrich-Glauser-Preis nominiert und stehen regelmäßig auf der SPIEGEL-Bestsellerliste.
2
»Alter circa dreißig bis fünfunddreißig«, berichtete mir Sven Balke am Donnerstagmorgen. Er hatte einen mehrseitigen Computerausdruck vor sich liegen – den Obduktionsbericht des Rechtsmedizinischen Instituts. »Größe eins neunundsiebzig, aber nur fünfundsechzig Kilo, ein ziemliches Fliegengewicht also. Von der Konstitution her war er wohl kein großer Sportler. Todesursache ist zweifelsfrei die Kugel, die er sich in den Kopf gejagt hat. Anschließend hat er drei bis vier Tage im Wasser gelegen. Hinweise auf seine Identität haben wir bisher keine.«
Spaziergänger hatten die männliche Leiche am Tag zuvor im Badesee nördlich von Heddesheim entdeckt, vielleicht fünfzehn Kilometer nordwestlich von Heidelberg.
»Steht denn fest, dass er sich selbst erschossen hat?«
»Aus meiner Sicht ja. Aufgesetzter Schuss in die linke Schläfe, an der linken Hand sind Schmauchspuren. Die waren sogar nach drei Tagen im Wasser noch nachweisbar.« Balke demonstrierte mit dem Zeigefinger, wo der Tote die Waffe angesetzt hatte. »Wird Linkshänder gewesen sein, nehme ich an.«
Was die Anzahl der infrage kommenden Menschen schon einmal beträchtlich reduzierte. Von den gut vierzig Millionen deutschen Männern mochte jeder Zwanzigste im passenden Alter sein. Und ungefähr zehn bis fünfzehn Prozent davon bevorzugten die linke Hand …
Im Vorzimmer hörte ich Sönnchen telefonieren. Vor den Fenstern schrie eine Krähe, als wollte sie gegen irgendetwas Beschwerde einlegen. Mein Blick ruhte kurz auf dem Tannenzweig, den mir meine Töchter zur Zierde meines kargen Beamtenbüros geschenkt hatten. Er war mit einigen winzig kleinen goldenen Kugeln geschmückt, in der Mitte steckte eine rote Kerze, und manchmal bildete ich mir sogar ein, Harzduft zu riechen.
»Und wo ist die Waffe?«, fragte ich.
Die lag irgendwo im Wasser, vermutete mein engagierter Mitarbeiter.
»Der ganze See ist rundrum eingezäunt. Am südlichen Ende liegt das Strandbad. Mit großem Parkplatz, Umkleidekabinen, Liegewiesen, Spielplatz, Kiosk und so weiter. Bin selbst schon ein paarmal da gewesen. Ist echt nett da. Aber auch da kommt man um diese Jahreszeit nicht ans Wasser ran, weil alles verriegelt und verrammelt ist. Die einzige Stelle, wo man überhaupt eine Chance hat, ins Wasser zu fallen, ist am östlichen Ufer. Dort fehlen etwa fünf Meter Zaun, weil im Herbst ein Baum umgestürzt ist.«
Balke hatte bereits Taucher angefordert, die im Wasser nach der Tatwaffe und Dingen suchen sollten, die uns vielleicht die Identifizierung des Toten ermöglichten.
»Die Jungs haben aber erst noch einen Auftrag im Mannheimer Rheinhafen zu erledigen. Voraussichtlich rücken sie morgen Vormittag am Badesee an.«
Ich lehnte mich zurück und runzelte die Stirn.
»Sie glauben also, er hat sich erst erschossen, dann die Waffe ins Wasser geworfen und sich anschließend auch noch ertränkt?«
»Ertränkt natürlich nicht. Er hatte kein Wasser in der Lunge.«
Der Tote hatte also schon nicht mehr geatmet, als er ins eiskalte Wasser fiel.
»Das Ufer ist da sehr steil, und das Wasser wird schnell tief«, fuhr Balke fort. »Wenn er an der Kante gestanden hat, dann könnte er mitsamt der Waffe ins Wasser geplumpst sein.«
Balke schien sich seiner Sache plötzlich nicht mehr ganz sicher zu sein, wollte aber noch nicht aufgeben. Aus nachvollziehbaren Gründen hielt er an der Selbstmordhypothese fest. Weihnachten stand vor der Tür, und wir alle freuten uns auf ein paar ruhige Tage. Da kam ein Mordfall ungelegen. »Auch wenn er nicht direkt am Ufer gestanden haben sollte, könnte ihm der Rückstoß die Pistole aus der Hand gerissen haben. Dann ist sie vielleicht zwei, drei Meter weit geflogen, und platsch, liegt sie im See. Er selbst hat noch ein paar Schritte gemacht, bevor er zusammengebrochen ist … Klingt doch plausibel, finden Sie nicht?«
Ich war immer noch nicht überzeugt, aber nun gut.
»Und er hat nichts bei sich gehabt, was einen Hinweis auf seine Identität geben könnte?«
Seufzend schüttelte Balke den Kopf mit dem raspelkurz geschnittenen Blondhaar. »Papiere Fehlanzeige. In der Hosentasche hatte er knapp zwanzig Euro, einen Schlüsselring mit sage und schreibe einem einzigen Schlüssel dran und ein älteres Huawei-Smartphone.«
Dem der Aufenthalt im Wasser allerdings nicht gut bekommen war.
»Die KTU versucht gerade, es wieder zum Leben zu erwecken, macht mir aber wenig Hoffnung, dass da noch viel zu retten ist.«
»Was ist mit diesem Schlüssel?«
»Ist für ein Abus-Sicherheitsschloss, das seit einem Vierteljahrhundert nicht mehr hergestellt wird. Seine Kleidung gibt auch nichts her, alles Kaufhausware. Nur bei der Jacke hat er sich in Unkosten gestürzt. Sie ist von Fjällräven.« Balke legte zwei Fotos vor mir auf den Tisch, die das Gesicht des Toten zeigten. Obwohl es vom Wasser aufgedunsen und bläulich verfärbt war, sah ich, dass die Wangen eingefallen waren. Tiefe Falten in den Mundwinkeln ließen ihn mürrisch wirken.
»Was halten Sie davon, wenn wir damit an die Presse gehen?«
»Vorläufig noch nichts. Wir geben nur eine Meldung raus, dass ein unbekannter Toter gefunden worden ist.«
Der Mann trug einen Ehering mit der Gravur T & H für immer, und ich wollte vermeiden, dass seine Frau morgen früh das Gesicht ihres Gatten in der Zeitung sehen und auf diesem Weg erfahren musste, dass sie Witwe geworden war.
Neben den Tauchern hatte Balke eine Hundertschaft Bereitschaftspolizisten angefordert, die in Kürze beginnen würden, den Uferbereich des Gewässers sowie das Umfeld nach Spuren abzusuchen. Auf verwertbare Fußspuren brauchten wir wegen des Regens der vergangenen Tage nicht zu hoffen.
»Mit ein bisschen Glück finden die Kollegen vielleicht seine Brieftasche oder wenigstens die Patronenhülse.«
»Sie gehen davon aus, dass er eine Pistole benutzt hat?«
»So wie die Schmauchspuren an seiner Hand aussehen, halte ich einen Revolver oder ein Gewehr für ausgeschlossen. Er hat die Hand über dem Hülsenauswurf gehabt und sich sogar einen Finger geklemmt, als der Schuss losging. Fragen Sie mich nicht, wie er das angestellt hat.«
»Wie ist er eigentlich da hingekommen?« Ich sah mir nebenbei im Internet eine Luftaufnahme des Tatorts an. »Steht irgendwo ein herrenloses Auto?«
»Gute Frage.« Balke hob die muskulösen Schultern, zog eine schiefe Grimasse. »Einen Autoschlüssel hatte er jedenfalls nicht in der Tasche. Am Eingang des Strandbads stehen ein paar verlassene Bikes herum, aber die kann man nur schwer einem Besitzer zuordnen. Ich tippe eher auf S-Bahn. Die nächste Haltestelle ist nur einen guten Kilometer entfernt.«
Allerdings hatte der Tote auch keinen Fahrschein bei sich gehabt. Wir beschlossen, die Ergebnisse der Suchaktion abzuwarten und uns morgen früh wieder zusammenzusetzen.
»Da fällt mir ein, ich soll Sie von Klara grüßen«, sagte Balke, als er sich erhob.
Klara Vangelis, meine Erste Kriminalhauptkommissarin, war schon seit zwei Wochen in Griechenland, um ihrer Großmutter oder einer alten Tante beim Sterben beizustehen.
»Es geht ihr gut, das Wetter ist super, und sie hat überhaupt keine Lust zurückzukommen.«
Was wir ihr beide nachfühlen konnten.
Am späten Nachmittag sah ich die schmutzig orangene Steppjacke zum zweiten Mal. Ich hatte im Erdgeschoss zu tun gehabt, bei einer Gegenüberstellung wegen eines Falls versuchter Vergewaltigung. Das Beinaheopfer, eine Frau um die dreißig, war etwas zu heftig geschminkt und herzzerreißend aufgeregt. Als sie die sechs Männer durch den Einwegspiegel betrachtete, begann sie vor Nervosität fast zu weinen. Fünf davon waren Kollegen, der zweite von rechts war der mutmaßliche Täter. Erst tippte sie auf den Richtigen, korrigierte sich dann hastig, hielt den Mann links daneben für wahrscheinlicher, der tatsächlich eine gewisse Ähnlichkeit mit dem Verdächtigen hatte, schließlich den Kollegen ganz links, der überhaupt nicht zu ihrer Beschreibung passte. Am Ende war sie dann wirklich in Tränen ausgebrochen.
»Ich kann das nicht«, hatte sie geschluchzt. »Was, wenn ich auf den Falschen tippe? Und der muss dann ins Gefängnis? Nein, das kann ich nicht, tut mir leid, es geht nicht.«
Als ich den Raum verließ, sah ich die kleine Taschendiebin gerade noch um eine Ecke verschwinden, begleitet und bewacht von einer uniformierten Kollegin, die ich gut kannte. Polizeiobermeisterin Ilzhöfer trug die blaue Uniform der Schutzpolizei, war in den Vierzigern, stämmig gebaut und mit einem übergroßen Herzen gestraft, das ihr das Polizistinnenleben manchmal schwer machte. Allzu oft hatte sie zu viel Mitgefühl mit den Pechvögeln und lebensuntüchtigen Gestalten, mit denen wir es im Alltag meist zu tun hatten. Ich folgte den beiden.
»Geklaut hat sie«, erwiderte die Kollegin auf meine Frage. »Im Penny an der Bahnhofstraße. Hat sich aber dummerweise erwischen lassen.«
In der Hand trug sie den Rucksack des Mädchens.
»Haben Sie sie schon vernommen?«
»Hab’s versucht.« Sie rollte die Augen. »Aber sie lügt wie gedruckt. Angeblich heißt sie Mandy Spears, ist neunzehn und kommt aus London. Dabei redet sie astreines Heidelbergerisch.«
Die Lügnerin, die sie mit eisernem Griff am Oberarm festhielt, sah mich mit einer Mischung aus Neugier und Furcht an. Ihr Gesicht war rund, die Augen waren wasserblau. Die haselnussbraunen glatten und kinnlangen Haare sahen aus wie im Do-it-yourself-Verfahren geschnitten und waren heute noch nicht gebürstet worden. Aus der Nähe wirkte sie sogar noch jünger, als ich sie gestern geschätzt hatte. Eher acht oder neun. Und sie sah nicht aus, als würde sie auf der Straße leben. Das Gesicht war sauber gewaschen, auch die Hände waren...
Erscheint lt. Verlag | 30.9.2021 |
---|---|
Reihe/Serie | Alexander-Gerlach-Reihe |
Alexander-Gerlach-Reihe | Alexander-Gerlach-Reihe |
Verlagsort | München |
Sprache | deutsch |
Themenwelt | Literatur ► Krimi / Thriller / Horror ► Krimi / Thriller |
Schlagworte | Alexander Gerlach • Ermittler • ermittlungsarbeit • Ermittlungskrimi • Heidelberg Krimi • Kommissar • Kommissar Gerlach • Krimi • Kriminalbeamter • Kriminalpolizei • Kriminalroman • Krimi Neuerscheinung 2021 • Kripo • Polizeiarbeit • spannend • Spannungsroman |
ISBN-10 | 3-492-60008-5 / 3492600085 |
ISBN-13 | 978-3-492-60008-8 / 9783492600088 |
Haben Sie eine Frage zum Produkt? |
Größe: 3,8 MB
DRM: Digitales Wasserzeichen
Dieses eBook enthält ein digitales Wasserzeichen und ist damit für Sie personalisiert. Bei einer missbräuchlichen Weitergabe des eBooks an Dritte ist eine Rückverfolgung an die Quelle möglich.
Dateiformat: EPUB (Electronic Publication)
EPUB ist ein offener Standard für eBooks und eignet sich besonders zur Darstellung von Belletristik und Sachbüchern. Der Fließtext wird dynamisch an die Display- und Schriftgröße angepasst. Auch für mobile Lesegeräte ist EPUB daher gut geeignet.
Systemvoraussetzungen:
PC/Mac: Mit einem PC oder Mac können Sie dieses eBook lesen. Sie benötigen dafür die kostenlose Software Adobe Digital Editions.
eReader: Dieses eBook kann mit (fast) allen eBook-Readern gelesen werden. Mit dem amazon-Kindle ist es aber nicht kompatibel.
Smartphone/Tablet: Egal ob Apple oder Android, dieses eBook können Sie lesen. Sie benötigen dafür eine kostenlose App.
Geräteliste und zusätzliche Hinweise
Buying eBooks from abroad
For tax law reasons we can sell eBooks just within Germany and Switzerland. Regrettably we cannot fulfill eBook-orders from other countries.
aus dem Bereich