Goldstein (eBook)
576 Seiten
Piper Verlag
978-3-492-99922-9 (ISBN)
Volker Kutscher, geboren 1962, arbeitete nach dem Studium der Germanistik, Philosophie und Geschichte als Tageszeitungsredakteur und Drehbuchautor, bevor er seinen ersten Kriminalroman schrieb. Er lebt als freier Autor in Köln und Berlin. Mit dem Roman »Der nasse Fisch« (2007), dem Auftakt seiner Krimiserie um Kommissar Gereon Rath im Berlin der Dreißigerjahre, gelang ihm auf Anhieb ein Bestseller, dem bisher acht weitere folgten. Die Reihe ist die Vorlage für die internationale Fernsehproduktion »Babylon Berlin«, deren erste drei Staffeln auf Sky und in der ARD zu sehen waren. Die vierte Staffel folgt im Frühjahr 2023 in der ARD. OLYMPIA, der achte Band der Reihe, verkaufte sich weit über 150.000-mal. Mit den von Kat Menschik illustrierten, im Rath- Universum angesiedelten Erzählungen »Moabit« und »Mitte« gelangen ihm ebenfalls Bestseller.
Volker Kutscher, geboren 1962, arbeitete nach dem Studium der Germanistik, Philosophie und Geschichte zunächst als Tageszeitungsredakteur und Drehbuchautor, bevor er seinen ersten Kriminalroman schrieb. Heute lebt er als freier Autor in Köln. Mit dem Roman "Der nasse Fisch" (2007), dem Auftakt seiner Krimiserie um Kommissar Gereon Rath im Berlin der Dreißigerjahre, gelang ihm auf Anhieb ein Bestseller, dem bisher sechs weitere folgten. Die Reihe ist die Vorlage für die internationale Fernsehproduktion "Babylon Berlin", deren erste zwei Staffeln 2017 auf Sky und 2018 in der ARD zu sehen waren, die dritte Staffel folgte im November 2020 in der ARD. Mit der von Kat Menschik illustrierten Erzählung "Moabit" gelang ihm im Oktober 2017 ein weiterer Bestseller.
1
Es roch nach Holz und Leim und frischem Lack. Sie war al lein mit der Dunkelheit und mit der Stille. Nur ihren Atem konnte sie hören und das leise Ticken der Uhr in ihrer Jackentasche. Schien wieder weg zu sein, der Mann, dennoch beschloss sie, noch eine Weile zu warten, und streckte sich, um Blut in Arme und Beine zu pumpen. Wenigstens hingen keine Kleiderbügel an der Stange. Durch den Türspalt drang ein wenig Licht, und sie holte die Uhr aus der Jacke. Kurz nach neun, eigentlich müsste der Nachtwächter seine Runde auch oben in der sechsten Etage nun bald beendet haben.
Die Antwort gab ihr das schleifende Geräusch des Aufzugs, das so laut durch die Dunkelheit dröhnte, dass sie zusammenzuckte. Es war so weit. Er war wieder auf dem Weg nach unten, und in den nächsten Stunden würde er sich nur noch um die Rollgitter vor den Türen und Schaufenstern kümmern und sich vergewissern, dass alles abgeschlossen war und niemand versuchte einzubrechen. Alex öffnete den Schrank, behutsam und vorsichtig, und lugte durch den größer werdenden Spalt. Vorsicht ist die Mutter der Porzellankiste, sagte Benny immer. Die Leuchtreklamen draußen auf dem Tauentzien warfen so viel buntes Licht durch die Fenster, dass sie nicht einmal ihre Taschenlampe einschalten musste, sie konnte alles erkennen: das luxuriöse Schlafzimmer, das sie hier arrangiert hatten, ein Bett, so breit, dass eine ganze Familie darin hätte schlafen können, der Teppich so weich, dass ihre Füße darin versanken. Wenn sie da an den kratzigen Kokosläufer dachte, vor dem Bett, das sie sich mit Karl teilen musste, damals, als sie noch bei ihren Eltern wohnte, mit vier Leuten auf viel zu wenig Quadratmetern mit viel zu wenig Licht. Was aus Karl geworden sein mochte? Sie wusste nicht einmal, ob die Bullen überhaupt nach ihm gesucht hatten nach Beckmanns Tod. Sie hatte keine Sehnsucht nach ihrer Familie, ihren kleinen Bruder aber, den hätte sie schon gern noch einmal gesehen.
Alex fuhr herum, ihre Augen hatten eine Bewegung ausgemacht, irgendwo am Rand ihres Blickfelds, und dann erkannte sie den großen Spiegel der Frisierkommode und darin ein achtzehnjähriges Mädchen mit herausforderndem Blick, die Beine in schlabbrigen Hosen, die Haare von einer grob gewebten Leinenmütze zusammengehalten.
Sie zeigte ihrem Spiegelbild ein schiefes Grinsen. Am Ende der edel tapezierten Sperrholzplatte, die eine Schlafzimmerwand vorzutäuschen hatte, schaute Alex noch einmal um die Ecke. Eigentlich unnötig, der Nachtwächter machte erst morgen früh die nächste Runde durch die Verkaufsräume, gegen Ende seiner Schicht, das wussten sie von Kalli. Hier war keine Menschenseele. Das alles gehörte jetzt ihr für die nächsten Stunden, ihr und Benny. Sie mochte dieses Gefühl.
Alex fand sich problemlos zurecht, das unruhige Licht von draußen, das in ständig wechselnden Farben flackerte, reichte ihr vollauf. Vorhin, als es hier noch taghell war und alles voller Menschen, hatte sie sich die wichtigsten Dinge eingeprägt. Dahinten lagen die Türen zum südlichen Treppenhaus, und dort links, vorbei an der Wand aus Gardinenmustern, ging es zu den Rolltreppen.
Alles war still, der Verkehrslärm drang nur gedämpft und leise zu ihr, beinahe unwirklich, ein dumpfes Rauschen aus einer anderen Welt, die nichts zu tun hatte mit der verzauberten hier drinnen. Sie betrat den menschenleeren Gardinensaal, und auch der wirkte wie ein Märchenschloss, lange Vorhänge von der Decke bis zum Boden, Samt und Tüll und Seide. Schon als kleines Mädchen hatte sie hier gestanden und gestaunt, an der Hand ihrer Mutter, die, wie die kleine Alexandra bald merken sollte, nie zum Kaufen kam, sondern immer nur zum Gucken, zum Staunen und zum Träumen. Schau dir das gut an, hatte sie zu Alex gesagt, das können sich arme Proleten wie wir niemals leisten. Aber das Angucken können sie uns nicht verbieten.
Fürs Kaufen im reichen Westen hatte das Geld nie gereicht, auch in den besseren Zeiten nicht, als Vater noch Arbeit hatte und Mutter ihre Putzstelle. Selten genug waren sie überhaupt aus ihrem Boxhagener Kiez hinausgekommen, und wann denn schon einmal in den Westen? Ku’damm, KaDeWe und Tauentzien – für ihren Vater waren das nur Sinnbilder eines verschwenderischen Kapitalismus, der Westen ein Sündenbabel, das er mied wie der Teufel das Weihwasser. Ohne Mutters Drängen hätte der sture Alte sich nicht einmal zu den wenigen sommerlichen Besuchen im Zoo breitschlagen lassen. Aber dass man Proletenkindern die Wunder der Natur nicht vorenthalten durfte, das sah auch Emil Reinhold ein. Alex hatte nie Augen für die Kreaturen gehabt, die sich hinter den Gitterstäben quälten, schon bei den Eisbären hatte sie an den Rückweg gedacht, denn regelmäßig spazierte die ganze Familie Reinhold zu Fuß die Tauentzienstraße hinunter, bevor es am Wittenbergplatz in die UBahn und zurück in den Osten ging. Schon an den ersten Schaufenstern begann Emil Reinhold seine immergleiche Predigt über die Auswüchse des Kapitalismus, während Alex und ihre Mutter mit Blicken und Gedanken längst bei den Auslagen waren. Die KaDeWeSchaufenster hatten Alex schon damals magisch angezogen. Auch in Mutters Augen hätte man längst verblasste Träume wieder glänzen sehen können, den Traum von einem besseren Leben zum Beispiel, von einem Leben, das ihr die Diktatur des Proletariats bestimmt nicht bieten würde. Vater hatte davon nie etwas bemerkt. Oder bemerken wollen. Er hatte weitergepredigt, und seine Söhne waren ihm aufmerksame Zuhörer, vor allem Karl, der alles immer so ernst nahm. Karl, der Proletenprinz, der aufrechte Kommunist. Und nun? Nun musste er sich genauso vor den Bullen verstecken wie seine kleine Schwester, die Diebin.
Alex hatte die Rolltreppen schon fast erreicht, da holte ein Geräusch die Gegenwart zurück, ein hartes Klack, viel näher und direkter als das in Watte gepackte Verkehrsrauschen. Sie hockte sich blitzschnell hinter zwei riesige Stoffballen und lauschte: Irgendetwas schlug da gegen Glas, ein Klackern und Kratzen an einem der Fenster. Sie versuchte, die Geräusche einzuordnen. Ein Flattern, dann ein Gurren. Als sie sich aus ihrem Versteck wagte, erkannte sie hinter der neonbunt leuchtenden Scheibe die Silhouetten zweier Tauben, die sich draußen auf dem Fenstersims breitgemacht hatten.
Dummes Huhn! Alex atmete tief durch, um ihr pochendes Herz
zu beruhigen. Eben der Spiegel und jetzt das! Benny hätte sich kaputtgelacht, wenn er sie so gesehen hätte! Seit wann war sie so schreckhaft? Seit sie gemerkt hatte, dass ihr mehr an ihrem verkorksten Leben lag, als sie zugeben wollte?
Die Tauben stießen sich mit lautem Flügelschlag zurück in die Nacht, und Alex setzte ihren Weg fort. Mit jedem Schritt fühlte sie sich sicherer, die angespannte Nervosität, die sich beim stundenlangen Ausharren im Kleiderschrank angesammelt hatte, schmolz zusammen zu einem kleinen, wachen Kern tief in ihr drin, während sie die Wanderung durch das stille, nächtliche Kaufhaus immer mehr genoss. Es war, als sei alles in einen hundertjährigen Schlaf gefallen, und sie der einzige wache Mensch in diesem verzauberten Königreich. Das KaDeWe übertraf alle Warenhäuser, in denen sie sich bislang hatten einschließen lassen; Tietz sowieso, aber auch der riesige Karstadt am Hermannplatz verblasste gegen die Pracht am Tauentzien.
Sie hatte den Gardinensaal verlassen und war bei den Rolltreppen angekommen. Die metallenen Stufen standen unbeweglich und tot, als habe eine böse Fee hier alles eingefroren. Fünf Etagen musste sie hinunter zum vereinbarten Treffpunkt im Erdgeschoss. Die Tabakwaren, wie immer. Das war schon zu einer Art Ritual geworden. Bevor sie loszogen, deckten sie sich mit Zigaretten ein, mit Marken, die sie sich sonst niemals leisten konnten. Benny hatte eine Nase für guten Tabak.
Alex musste daran denken, wie sie ihn kennengelernt hatte, im Streit um eine Zigarettenkippe, die irgendein reicher Schnösel halb geraucht aufs Pflaster vor dem Bahnhof Zoo geworfen hatte. Irgendwann Anfang Februar, ein paar Wochen nur nach der Scheiße mit Beckmann, ein saukalter Tag; Alex hatte mittlerweile auch den letzten Rest des Geldes ausgegeben, das sie diesem Fettsack auf dem Weihnachtsmarkt abgeluchst hatte. Sie hatte Hunger. Und seit zwei Tagen keine mehr geraucht.
Im selben Moment hatten sie sich auf die noch brennende Zigarette gestürzt, Alex und dieser schmale, beinah zierliche blonde Junge, der zwar linkisch wirkte, aber äußerst geschickt zur Sache ging. Und dennoch hatte...
Erscheint lt. Verlag | 3.1.2022 |
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Reihe/Serie | Die Gereon-Rath-Romane | Die Gereon-Rath-Romane |
Verlagsort | München |
Sprache | deutsch |
Themenwelt | Literatur ► Krimi / Thriller / Horror ► Krimi / Thriller |
Schlagworte | 3. Band • ARD-Serie • Babylon Berlin • babylon berlin buch • Berlin • Bestseller • Buch • Der nasse Fisch • Der stumme Tod • Die Akte Vaterland • Dreißigerjahre • Gereon Rath • Gereon-Rath-Roman • Goldstein • historischer Krimi • Krimi • Kriminalroman • Lunapark • Marlow • Märzgefallene • Olympia • Rath-Roman • Roman • Sky-Serie • Spannung • SPIEGEL-Bestseller • Stummfilm • Tonfilm • Zeitgeschichtlicher Krimi |
ISBN-10 | 3-492-99922-0 / 3492999220 |
ISBN-13 | 978-3-492-99922-9 / 9783492999229 |
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