Was ist eigentlich los? (eBook)
180 Seiten
Hoffmann und Campe (Verlag)
978-3-455-01164-7 (ISBN)
Monika Maron, geboren 1941 in Berlin, zählt zu den bedeutendsten Schriftstellern der Gegenwart. Sie wuchs in der DDR auf, übersiedelte 1988 in die Bundesrepublik nach Hamburg und lebt seit 1993 wieder in Berlin. Sie veröffentlichte zahlreiche Romane und mehrere Essaybände. Ausgezeichnet wurde sie mit diversen Preisen, darunter der Kleistpreis (1992), der Friedrich-Hölderlin-Preis der Stadt Homburg (2003), der Deutsche Nationalpreis (2009), der Lessing-Preis des Freistaats Sachsen (2011) und der Ida-Dehmel-Literaturpreis (2017). Bei Hoffmann und Campe erschienen zuletzt der Essayband Was ist eigentlich los? (2021) und der Roman Das Haus (2023).
Monika Maron, geboren 1941 in Berlin, zählt zu den bedeutendsten Schriftstellern der Gegenwart. Sie wuchs in der DDR auf, übersiedelte 1988 in die Bundesrepublik nach Hamburg und lebt seit 1993 wieder in Berlin. Sie veröffentlichte zahlreiche Romane und mehrere Essaybände. Ausgezeichnet wurde sie mit diversen Preisen, darunter der Kleistpreis (1992), der Friedrich-Hölderlin-Preis der Stadt Homburg (2003), der Deutsche Nationalpreis (2009), der Lessing-Preis des Freistaats Sachsen (2011) und der Ida-Dehmel-Literaturpreis (2017). Bei Hoffmann und Campe erschienen zuletzt der Essayband Was ist eigentlich los? (2021) und der Roman Das Haus (2023).
Cover
Titelseite
Vorwort
Wir wollen trinken und dann ein bisschen weinen
Liebster Heinrich!
Ich war ein antifaschistisches Kind
Zonophobie
Zwei Brüder
Im Osten nichts als Opfer?
Lebensentwürfe, Zeitenbrüche
Rede zum Nationalpreis
Die Besserfundis
Warum ich nie Latein gelernt habe
Das Licht des Wissens
Uns geht es gut!
Zeitunglesen
Na, Bruno
Neues aus dem Osten
Links bin ich schon lange nicht mehr
Das Leben als Werk
Unser galliges Gelächter
Textnachweis
Über Monika Maron
Impressum
Zonophobie
Seit ich von Osten nach Westen reisen durfte und die deutsche Teilung sich für mich durch sinnliche Anschauung aus der historischen Gewissheit in reine Absurdität verwandelte, fing ich an, mich dafür zu interessieren, wer warum die Teilung Deutschlands wollte: warum die Linken, warum die Franzosen, die Russen, die Engländer, die Vereiniger Westeuropas, eigentlich alle außer Martin Walser und vermutlich der Hälfte aller Ostdeutschen. Ich selbst begann in dem Maße die deutsche Einheit zu wollen, wie die Argumente für die deutsche Teilung mir verdächtig wurden.
Inzwischen ist mir die Einheit zum Albtraum geworden, und das nicht, weil irgendeiner ihrer Gegner recht behalten hätte: die Linken oder die Franzosen, die Engländer oder Russen; auch nicht, weil die sächsischen Chemiearbeiter nicht mehr unter den tropfenden Säureleitungen hantieren dürfen und stattdessen arbeitslos sind; auch nicht, weil die Mieten steigen, Spekulanten glückliche Zeiten haben, mittelmäßige Wissenschaftler aus westlichem Sonstwoher die ostdeutschen Lehrstühle okkupieren, das alles gehört zu Nachkriegszeiten. Wir leben in einer verspäteten Nachkriegszeit.
Die Einheit ist mir zum Albtraum geworden, weil der Osten, wo er sich als solcher artikuliert, mir unüberwindlichen Ekel verursacht. Alles hat sich in Ekel verwandelt: mein Mitleid, meine Anteilnahme, mein Interesse. Ich weiß, dass ich ungerecht bin, und kann es nicht ändern. Ich halte es für eine Krankheit und weiß nicht, wie man sie heilt. Die Krankheit nenne ich Zonophobie.
Ich will versuchen, die Symptome wahrheitsgetreu zu beschreiben. Möge ein gerechterer Mensch als ich befinden, ob der Defekt bei den Betrachteten liegt oder beim Betrachter oder bei beiden. Ich nehme mir das Recht zur Ungerechtigkeit, ein paar Seiten lang, einmal ausatmen nur, nachdem ich von meiner bemühten Gerechtigkeit schon ganz kurzatmig geworden bin.
Schon auf der Autobahn von Hamburg nach Berlin erkenne ich sie, ohne ihre Nummernschilder zu entziffern: Wer unbeirrt auf der linken Spur fährt, weil er irgendwo am Horizont einen Trabant oder Lastwagen vermutet, ist aus dem Osten. Was man hat, das hat man, in diesem Fall die linke Spur. Wer an einer Auffahrt beflissen und todesmutig links rausfährt, ohne sich um heranrasende BMW- und Porscheherden zu kümmern, ist aus dem Osten. Er zeigt, dass er gelernt hat.
Sturer Trotz und peinliche Beflissenheit sind überhaupt die prägenden Züge derzeitigen ostzonalen Verhaltens. (Spätestens hier muss ich wohl sagen, dass ich alle ausnehme, die sich wie vernünftige, auf die Wechselfälle des Lebens vorbereitete Einzelmenschen benehmen. Die waren vor 89 anders und sind es auch jetzt.)
Wenn meine masochistische Neugier mich treibt, in der Pankower Kaufhalle – ehemals HO, jetzt Spar – einzukaufen, und ich sie, mit denen mich eine Vergangenheit als Konsument des Staatlichen Handels eint, bei ihren Beschaffungsaktionen beobachte, reagiere ich wie ein Allergiker, dem eine Katze auf den Schoß springt. Ich muss mich beherrschen, um ihnen ihre ekelhaft großen Fleischpakete oder ein süßes balkanesisches Perlgesöff namens Canei nicht wieder aus den Einkaufswagen zu reißen. Ich möchte die mürrische Frau, die mir gerade mit ihrem Gefährt über die Zehen gefahren ist und mich danach vorwurfsvoll ansieht, fragen: Warum entschuldigen Sie sich nicht? Oder den Mann, mit dem ich fast kollidiert wäre: Warum lächeln Sie nicht? Wie eine Animateuse gehe ich zwischen ihnen umher, lächle und entschuldige mich, entschuldige mich und lächle, hoffend, sie werden meine Botschaft eines Tages verstehen.
Noch schlimmer ist es, wenn der Hunger mich in die Folterstuben der ostdeutschen Gastronomie zwingt. Sobald das Essen genießbar ist, findet sich ein Hinweis auf das Niveau des Etablissements auch schon in der Speisekarte. Niveau sind die letzten beiden Silben des Substantivs Weltniveau; das weiß jeder, der aus der DDR stammt. Wer sich also heute in ein Restaurant mit Niveau verirrt, ahnt, wem es gehört, das mutierte Gästehaus des Ministerrats in Niederschönhausen zum Beispiel, wo wir nicht zu fünft an einem ausreichend großen Tisch sitzen durften, weil wir das Niveau verdorben hätten. Freunde von mir, die keine genuinen Ostmenschen sind, sagen oft, ich übertreibe oder ich müsse mehr Verständnis haben. Ich hingegen glaube, dass meine Freunde nur so nachsichtig sein können, weil ihnen erspart bleibt, wirklich zu verstehen, was sie erleben. Sie müssen nicht zwanghaft, wie ich, jede Situation in eine andere übersetzen; sie wissen nicht, wie es war, als man sich dem Anspruch auf gastronomisches Niveau noch nicht entziehen konnte, indem man zum nächsten Italiener floh. Sie haben keine Ahnung, welch elendes Leben man unter der Diktatur von Kellnern, Klempnern und Taxifahrern führt. Es mag frivol klingen, aber es ist die Wahrheit: Ich habe unter der Stasi weniger gelitten als unter den Kellnern, Klempnern und Taxifahrern. Die Stasi konnte ich ignorieren, ich brauchte sie nicht.
Am wenigsten ertrage ich an meinen ehemaligen Staatsbürgerschaftsgefährten, dass sie glauben, alle Welt sei ihnen etwas schuldig, insbesondere schulde man ihnen ihre Würde. Sie haben anscheinend vergessen, dass viele von ihnen mit ihrer Würde bis vor drei Jahren ziemlich leichtfertig umgegangen sind und sie auf die Art eines Tages verloren haben. Nun denken sie, Helmut Kohl und die Treuhand hätten sie gefunden und wollten sie nur nicht wieder rausrücken. Das Ungewöhnliche an dieser Würde ist, dass ihr Wert sich ganz einfach in Geld ausrechnen lässt. So viel Würde, wie jetzt Geld gebraucht wird, kann es in diesem Land unmöglich gegeben haben, sonst sähe es anders aus.
Wahrscheinlich meinen sie etwas anderes: Sie vermissen ihre gewohnte Gleichheit. Als sie noch alle eher wenig als viel, eben nur gleich viel hatten, fühlten sie sich offenbar auch gleich wert. Eine der häufigsten Fragen in diesem Land war: Du glaubst wohl, du bist was Besseres. Was Besseres war niemand, und so schlau wie der war man allemal. In Fragen des Geschmacks und der Bildung war die Behauptung, man lebe in der Diktatur des Proletariats, keine Lüge. Und plötzlich ist das vorbei; die Kränkung ist die tiefste und kann nicht vermieden werden.
Solange ich unter ihnen lebte, ist mir die außergewöhnliche Empfindsamkeit meiner ostdeutschen Mitmenschen verborgen geblieben. Im Gegenteil: Ich bin an ihrer Dumpfheit und Duldsamkeit, an ihrer Duckmäuserei und ihrem feigen Ordnungssinn oft verzweifelt. Eigentlich sollte ich mich freuen, dass sie plötzlich eine Ungerechtigkeit eine Ungerechtigkeit nennen und eine Lüge eine Lüge. Wenn ich aber sehe, wie sie sich empören, wie sie wieder und wieder in die Kameras sächseln, dass sie sich nicht verarschen lassen und schon gar nicht verkohlen, wenn sie in ihrem ganzen ostdeutschen Mannesmut jedem, der sie nicht vorher gekannt hat und es darum besser weiß, den Eindruck vermitteln müssen, einem Aufrührer, einem Michael Kohlhaas zu begegnen, dann kann ich nicht verhindern, dass ich sie wieder vor mir sehe, wie sie zu den Wahlurnen geschlichen sind, wie sie mit gesenktem Blick in den Versammlungen gesessen haben, verarscht, verkohlt, gedemütigt. Damals wären sie nicht auf die Idee gekommen zu streiken. Und jetzt, will es mir scheinen, ist ihnen das Recht zu streiken nicht mehr die Schwierigkeiten wert, die es kostet, diesen Schrotthaufen von einem Land in eine nach europäischem Maß vernünftige Gesellschaft zu verwandeln.
Für jede Unbill wird ein Feindbild gebraucht. In Ermangelung von Phantasie nehmen sie das, was ihnen Jahrzehnte eingebläut wurde: Der Westen ist schuld. Der Westen zahlt zu wenig, der Westen schickt die falschen Leute, der Westen verramscht die verrotteten Kostbarkeiten. Dabei müssten sie nur nach Osten sehen, um zu wissen, wie schlecht es ihnen gehen könnte. Aber so wenig es sie interessiert, dass auf dem Balkan die Leute sterben, dass die Russen hungern, dass den Ungarn, Polen, Tschechen und Slowaken schlechte Zeiten bevorstehen, so wenig nehmen sie zur Kenntnis, dass die Verkäuferinnen in Hamburg für zweitausend Mark brutto streiken, dass die höheren Löhne im Westen von den noch höheren Mieten geschluckt werden, dass die zusätzlichen Steuern, die schließlich ihretwegen erhoben werden, die Leute am ärgsten treffen, denen es kein bisschen besser geht als ihnen selbst, auch wenn sie in Köln oder Bochum wohnen, also mit dem Schimpfwort Wessis bedacht werden, was ein Synonym ist für reich.
»Der Kohl hat es uns schließlich versprochen« – das ist der peinlichste, blamabelste, lächerlichste Satz der letzten beiden Jahre. Der arroganteste Westdeutsche könnte den Ostdeutschen nicht mehr Unmündigkeit vorwerfen, als sie sich mit diesem Satz selbst bescheinigen. Jeder SPD-Politiker, der ihn gegen Helmut Kohl benutzt, sollte wissen, dass er die Ostdeutschen damit zu einem Haufen blöder, enttäuschter Kinder erklärt, die greinen, weil sie zu Weihnachten das falsche Geschenk bekommen haben. Helmut Kohl hat etwas versprochen, das er bis jetzt nicht gehalten hat. Na und. Oskar Lafontaine hat es nicht versprochen, dem haben sie nicht geglaubt. Wer hat sie gezwungen, Kohl zu glauben? Welchen Grund hatten sie überhaupt, nach vierzig Jahren DDR irgendeinem Politiker mehr zu glauben als den eigenen Augen und dem eigenen Denkvermögen? Sie kannten ihre Betriebe, Städte, Häuser am besten; sie selbst hätten Kohl damals sagen müssen, dass er sich irrt oder lügt, wenn er behauptet, die DDR ließe sich innerhalb von drei oder vier Jahren in den Garten Eden verwandeln, und das, ohne die Steuern zu...
Erscheint lt. Verlag | 5.5.2021 |
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Verlagsort | Hamburg |
Sprache | deutsch |
Themenwelt | Literatur ► Essays / Feuilleton |
Schlagworte | Belletristik • Debatte • Demokratie • Diskurs • Freiheit • Geschichte • Gesellschaft • Gesellschaftskritik • Kunst • Kunstfreiheit • Literatur • Literaturkritik • Meinungsfreiheit • Politik • Schriftsteller |
ISBN-10 | 3-455-01164-0 / 3455011640 |
ISBN-13 | 978-3-455-01164-7 / 9783455011647 |
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Größe: 555 KB
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