Der Staat streift seine Samthandschuhe ab (eBook)
200 Seiten
Suhrkamp (Verlag)
978-3-518-76939-3 (ISBN)
Peter Sloterdijk ist einer der bekanntesten und wirkungsmächtigsten Denker unserer Zeit. Seine philosophischen Zeitdiagnosen und politischen Interventionen sind risikofreudig, streitbar und mindestens so erhellend wie überraschend. Dies konnte man einmal mehr im letzten Jahr mitverfolgen, als er in zahlreichen Interviews über die Pandemie und ihre sozialen, politischen und existentiellen Konsequenzen befragt wurde.
Die wichtigsten Interviews und Beiträge liegen hier nun versammelt vor und dokumentieren einen Lernprozess, in dem sich der Ernst der Situation und die Suche nach angemessenen Deutungen zunehmend ausprägen. Für Peter Sloterdijk ist die Corona-Krise nicht bloß eine wirtschafts- oder sozialpolitische Zäsur. Sie markiert vielmehr den »Beginn eines Zeitalters, dessen basale ethische Evidenz Ko-Immunismus lautet, das Einschwören der Individuen auf wechselseitigen Schutz«. Dies erfordert eine neue Definition von Zusammensein, eine »veränderte Grammatik unseres Verhaltens« und eine globale immunitäre Vernunft. Welche Konsequenzen sich daraus für uns ableiten - auch das ist diesen hellsichtigen, zukunftsweisenden Gesprächen zu entnehmen.
<p>Peter Sloterdijk wurde am 26. Juni 1947 als Sohn einer Deutschen und eines Niederländers geboren. Von 1968 bis 1974 studierte er in München und an der Universität Hamburg Philosophie, Geschichte und Germanistik. 1971 erstellte Sloterdijk seine Magisterarbeit mit dem Titel <em>Strukturalismus als poetische Hermeneutik</em>. In den Jahren 1972/73 folgten ein Essay über Michel Foucaults strukturale Theorie der Geschichte sowie eine Studie mit dem Titel <em>Die Ökonomie der Sprachspiele. Zur Kritik der linguistischen Gegenstandskonstitution</em>. Im Jahre 1976 wurde Peter Sloterdijk von Professor Klaus Briegleb zum Thema<em> Literatur und Organisation von Lebenserfahrung. Gattungstheorie und Gattungsgeschichte der Autobiographie der Weimarer Republik 1918-1933</em> promoviert. Zwischen 1978 und 1980 hielt sich Sloterdijk im Ashram von Bhagwan Shree Rajneesh (später Osho) im indischen Pune auf. Seit den 1980er Jahren arbeitet Sloterdijk als freier Schriftsteller. Das 1983 im Suhrkamp Verlag publizierte Buch <em>Kritik der zynischen Vernunft</em> zählt zu den meistverkauften philosophischen Büchern des 20. Jahrhunderts. 1987 legte er seinen ersten Roman <em>Der Zauberbaum</em> vor. Sloterdijk ist emeritierter Professor für Philosophie und Ästhetik der Staatlichen Hochschule für Gestaltung in Karlsruhe und war in Nachfolge von Heinrich Klotz von 2001 bis 2015 deren Rektor.</p>
SOBOCZYNSKI Herr Sloterdijk, man muß Gespräche in diesen Zeiten ungewohnt beginnen: Wie geht es Ihnen eigentlich gesundheitlich?
SLOTERDIJK Meine Ärztin hat gerade eine Generaluntersuchung begonnen. Im großen und ganzen geht es erträglich, aber ich bin seit Jahren ein fleißiger Apothekenbesucher.
SOBOCZYNSKI In der Corona-Krise scheinen Sie nicht sehr von Gesundheitsängsten geprägt zu sein. Sie haben vor Übertreibung staatlicher Maßnahmen gewarnt.
SLOTERDIJK Na ja, ganz ohne Sorgen bin ich nicht. Es bleibt im Frühling nicht aus, daß man vor sich hin hustet. Oder denkt, man habe erhöhte Temperatur. Fieber ist eine sich selbst wahr machende Metapher, bei einzelnen wie bei Populationen, ein wenig Hysterie vorausgesetzt.
SOBOCZYNSKI Nun haben Sie in einem Interview, das Sie vor zwei Wochen dem französischen Magazin Le Point gaben, gegen die biopolitischen Maßnahmen des französischen Staates polemisiert. Der französische Philosoph Alain Finkielkraut zeigte sich daraufhin entsetzt. Angesichts der zahlreichen Toten in Paris haben Sie offenbar viele irritiert.
SLOTERDIJK Im Gegenteil. Ich weiß, daß viele aufgeatmet haben, weil endlich mal in einem anderen Ton gesprochen wurde. Man muß in Zeiten der Corona-Krise auch über Alternativen diskutieren dürfen. Verwunderlich sind doch die Verordnungsregierungen in aller Welt und die märchenhafte Geschwindigkeit, mit der sich größere und kleinere Nationen in eine Schockstarre versetzen lassen. Es zeigt sich eben, daß der Staat etwas ganz anderes ist, als wir bislang gedacht haben. Für alle war klar, daß wir nicht mehr die Bevölkerungen der Militärstaaten sein können, die sich im 19. Jahrhundert entwickelt hatten. Man meinte, das System habe sich zu einer großen Versorgungsmaschine gewandelt. Daß aber ein so mächtiger Verfügungsstaat, ein wohlmeinender Leviathan, entstanden war, das mußte erst mal bewiesen werden. Alles, was gestern beschlossen wurde, Ausgehverbote in Friedenszeit etwa, galt noch vorgestern als völlig unmöglich.
SOBOCZYNSKI Der allgemeine Gehorsam verwundert Sie?
SLOTERDIJK Macron hat den Kriegszustand beschworen. Das war eine rhetorische Figur, sie floß aber unmittelbar in politisches Handeln ein. Frankreich hat extreme Hausarrestregeln. Für jedes einzelne Hinausgehen auf die Straße braucht man ein legitimierendes Papier. Die Kriegsrhetorik führt in die Irre, denn gegen das Virus machen wir ja nicht mobil, wir demobilisieren: »Weil Krieg ist, bleiben wir zu Hause!« Das erinnert fast an den 68er-Spruch: »Stell dir vor, es ist Krieg, und keiner geht hin.« Die Amerikaner laufen seit langem gern in dieselbe rhetorische Falle. Doch was jetzt zählt, ist Mobilitätsverzicht, also das Unamerikanischste, das sich denken läßt.
SOBOCZYNSKI Das stimmt für die Zivilbevölkerung. Aber wären die Soldaten nicht bis zuletzt die beweglichsten Teile der Gesellschaft? Wenn es etwa um die Grundversorgung der Bevölkerung geht?
SLOTERDIJK Die Soldaten werden als Reservetruppen für Polizeiaktionen verwendet. Für sanitätspolizeiliche Maßnahmen kann man wohl auf sie zurückgreifen. Wir befinden uns nicht im Krieg, sondern in einem medizinisch-sekuritären Notfall. Die Helfer geben ihr Äußerstes, auch ohne Tagesbefehl und Flaggenparade.
SOBOCZYNSKI Wer sagt, die Maßnahmen des Staates seien zu radikal und sie gefährdeten den Liberalismus des Westens, muß sich die Frage nach Alternativen gefallen lassen. In Paris werden derzeit Kranke mit TGVs in Provinzkrankenhäuser gebracht, weil die Stadt sie nicht mehr versorgen kann.
SLOTERDIJK Es gibt Staaten, die weniger martialisch vorgehen als andere. Das deutsche Prozedere scheint mir plausibel, streng, doch unfanatisch. Ich glaube im übrigen nicht, daß sich Politiker hinter wissenschaftlichen Experten verstecken dürfen. Gerade in Frankreich war das Mißtrauen gegenüber der Politik traditionell hoch, heute versagt es. Das überrascht nicht: Seit einem Vierteljahrhundert erleben wir in der ganzen westlichen Welt, daß Freiheitsthemen gegenüber Sicherheitsthemen zurückgedrängt werden. Im Rückblick wird die Corona-Krise eine Verstärkung dieses Trends markieren.
SOBOCZYNSKI Es gibt Länder, die noch totalitärer mit der Krise umgehen als der Westen. Zum Beispiel China, ein Einparteienstaat, der die Bevölkerung mit Handy-Apps überwacht. Dieser digitale Leninismus ist dem Westen bislang erspart geblieben, oder?
SLOTERDIJK Ich bin nicht sicher, ob nicht auch er exportfähig ist. Wir werden vielleicht solche Produkte bald einführen. Sozialkybernetik ist ein Trendartikel.
SOBOCZYNSKI Es fällt beinahe schwer, sich vorzustellen, daß die bisherigen Quarantänemaßnahmen wieder zurückgenommen werden könnten.
SLOTERDIJK Normalität erscheint momentan fast utopisch, und die Frühlingssonne wirkt seltsam ironisch. Doch läßt sich auch eine große Solidaritätsstimmung beobachten, spontane Nachbarschaftshilfe beispielsweise, das ist schon beeindruckend. Nachbarn, die sich jahrelang ignoriert haben, kommen aufeinander zu.
SOBOCZYNSKI Glauben Sie, die Hilfsbereitschaft ist national konnotiert?
SLOTERDIJK Nein, ich halte die europäische Desintegration für eine optische Täuschung. Die Handlungsfähigkeit der Exekutiven in Europa ist erst einmal nur im Rahmen national formatierter Rechtsräume gegeben. Wir können mit unseren Gesetzen nicht die Franzosen retten und die uns nicht mit ihren. Europa ist ein Patchwork von abgegrenzten Territorien des Rechtsvollzugs. Aber das ändert sich vor unseren Augen. Denken Sie an die Wissenschaftlergemeinschaften, die grenzübergreifend zusammenarbeiten, oder an Kranke, die über Landesgrenzen hinweg versorgt werden. Deutsche Virologen telefonieren täglich mit Kollegen in Paris, in China, in den USA. Es gibt nicht nur den lokalen Überwachungsstaat, sondern auch eine europäische, eine weltweite Vernetzung, die hoffen läßt.
SOBOCZYNSKI Vielleicht zeigt sich in Europa gerade, daß unterschiedliche Ordnungsmuster auf so engem Raum wenig sinnvoll sind?
SLOTERDIJK Die Rückkehr zur Liberalität wird als eine europaweit allgemeine und nicht bloß als nationale Frage gestellt werden. Die Sondermandate der Exekutiven müssen zu gegebener Zeit abgelegt werden. Ob einer wie Orbán dazu bereit sein wird, ist zu bezweifeln. Ich kann mir aber nicht vorstellen, daß die europäischen Staaten solche Alleingänge in Zukunft tolerieren. Orbáns gesammelte Frechheiten sind nur unter der Prämisse denkbar, daß Europa es nicht so ernst meint. Bei der Rückkehr zur liberalen Normalität wird man es ihm weniger leichtmachen.
SOBOCZYNSKI Bisher hat man Sie in Ihren Gesellschaftsanalysen eher als fröhlichen Zyniker erlebt. Woher rührt Ihr neuer Optimismus?
SLOTERDIJK Es wirkt immer rufschädigend, wenn der Verdacht aufkommt, man sei ein guter Mensch. Ich bin hier aber ganz beim Kollegen Platon. Sinngemäß sagte der: Kein Mensch irrt gerne, und einen wirklich bösen Willen findet man selten. Deswegen sind die wirklich Bösartigen ja hin und wieder so erfolgreich, weil die Gutgesinnten widerstandslos sind und sich überrollen lassen.
SOBOCZYNSKI Intellektuelle haben in der vergangenen Zeit-Ausgabe einen Aufruf für einen Corona-Fonds veröffentlicht, um notleidenden Staaten zu helfen. Wären Sie auch dafür?
SLOTERDIJK Ich meine, man sollte sentimentale Menschen niemals mit geldpolitischen Angelegenheiten betrauen. Geldpolitik ist eine Grausamkeitspraxis, darin der Katastrophenmedizin verwandt. Der Wohlmeinende verteilt Mittel, die er nicht hat, mit offenen Händen. Ob ein Corona-Fonds sinnvoll ist, will ich nicht beurteilen, aber es kommt mir vor, als ob zu viele Laien auf dem Gebiet der Finanzpolitik dilettieren.
SOBOCZYNSKI Wir haben zuletzt 1989 erlebt,...
Erscheint lt. Verlag | 18.4.2021 |
---|---|
Sprache | deutsch |
Themenwelt | Literatur ► Essays / Feuilleton |
Literatur ► Romane / Erzählungen | |
Schlagworte | Corona • Corona-Krise • Europapreis für politische Kultur 2021 • Fragen der Zeit • Gesellschaft • Gespräche • Helmuth-Plessner-Preis 2017 • Interviews • Interwiews • Kritik • Ludwig-Börne-Preis 2013 • Pandemie • Philosophie • ST 5222 • ST5222 • Staat • suhrkamp taschenbuch 5222 |
ISBN-10 | 3-518-76939-1 / 3518769391 |
ISBN-13 | 978-3-518-76939-3 / 9783518769393 |
Haben Sie eine Frage zum Produkt? |
Größe: 4,1 MB
DRM: Digitales Wasserzeichen
Dieses eBook enthält ein digitales Wasserzeichen und ist damit für Sie personalisiert. Bei einer missbräuchlichen Weitergabe des eBooks an Dritte ist eine Rückverfolgung an die Quelle möglich.
Dateiformat: EPUB (Electronic Publication)
EPUB ist ein offener Standard für eBooks und eignet sich besonders zur Darstellung von Belletristik und Sachbüchern. Der Fließtext wird dynamisch an die Display- und Schriftgröße angepasst. Auch für mobile Lesegeräte ist EPUB daher gut geeignet.
Systemvoraussetzungen:
PC/Mac: Mit einem PC oder Mac können Sie dieses eBook lesen. Sie benötigen dafür die kostenlose Software Adobe Digital Editions.
eReader: Dieses eBook kann mit (fast) allen eBook-Readern gelesen werden. Mit dem amazon-Kindle ist es aber nicht kompatibel.
Smartphone/Tablet: Egal ob Apple oder Android, dieses eBook können Sie lesen. Sie benötigen dafür eine kostenlose App.
Geräteliste und zusätzliche Hinweise
Buying eBooks from abroad
For tax law reasons we can sell eBooks just within Germany and Switzerland. Regrettably we cannot fulfill eBook-orders from other countries.
aus dem Bereich