Louise Dumas hat alle Hände voll zu tun. Die Französin und Wahlfriesin bekocht im Hotel Nordsee Lodge auf Pellworm eine illustre Gruppe aus Archäologen, Ethnologen und Historikern, die sich die 'Rungholtfreunde' nennen. Aufgrund der Funde im Wattenmeer streiten die 'Freunde' seit vielen Jahren leidenschaftlich über die Bedeutung der Handelsstadt Rungholt, die vor Hunderten von Jahren bei einer Sturmflut untergegangen war. Doch diesmal läuft der Streit aus dem Ruder: Drei Menschen sterben. Louise stellt mithilfe ihres treuen Freundes Momme Mommsen erste Ermittlungen an, die leider der Inselpolizistin Solveig Olms so gar nicht schmecken ...
Lili Andersen ist das Pseudonym der Krimiautorin und Kunsthistorikerin Liliane Skalecki. Wie ihre Protagonistin Louise Dumas hat auch Lili Andersen französische Wurzeln, ein Herz für kleine friesische Inseln und einen Hang zum Kochen köstlicher Gerichte. Sie lebt mit ihrer Familie in Bremen und Südfrankreich.
Prolog
3. Oktober 1620
Am Horizont hatten sich unheilvolle Wolkenungetüme zusammengeballt. Mit einem Schlag war es dunkel geworden, und die Menschen hatten sich in ihre Häuser zurückgezogen. Mit Sorge beobachtete Ogge Brodersen den plötzlich aufkommenden Wind, der die Wasseroberfläche in Bewegung versetzte, geradeso als lauerten in der Tiefe Ungeheuer, die mit aller Macht nach oben drängten.
In zwei Monaten jährte sich zum fünften Mal die Große Schadensflut, die im Jahre des Herrn 1615 vierzig Wehlen in die Deiche geschlagen und dabei sogar den mitten durch Strand verlaufenden Moordeich beschädigt hatte. Dreihundert Menschen hatten den Tod gefunden, drei Kirchen waren zerstört worden, Dörfer verwüstet.
Der Wind zerrte an Ogges weitem Umhang aus Schafwolle. Er blies aus dem Westen, trieb das Wasser unerbittlich in Richtung Land. Er würde dafür sorgen, das Wasser nach der Flut trotz Ebbe nicht zurückweichen zu lassen. Und die nächste Flut kam so sicher, wie auf die Nacht der Tag folgte, das Wasser würde noch höher steigen. Sein Blick glitt über die Deiche. Sie würden dem standhalten. Noch im letzten Jahr waren sie erhöht und verstärkt worden.
Mit schweren Schritten trat Sönke Brodersen an Ogges Seite.
»Und?«
Der junge Mann schüttelte den Kopf.
»Wir sollten gelassen, aber wachsam bleiben. Die Sieltore werden sich öffnen, und das Wasser wird abfließen. Wenn der Sturm nicht noch zunimmt. Doch ich bin guter Hoffnung, dass der Allmächtige ein Einsehen mit uns hat.«
»Dein Wort in seinem Ohr. Möge er den Sturm zügeln.«
Sönke, Ogges jüngerer Bruder, hob den Kopf in Richtung Horizont, schnupperte wie ein Hund und sog die Luft tief in seine Lungen. »Ich rieche nichts. Und auf meine Nase kann man sich verlassen. Dieser Wind trägt keine Gefahr mit sich.«
Ogge lächelte und gab seinem Bruder einen Klaps auf den Hinterkopf. »Du und deine Nase. Wer ist denn gestern in die Schafscheiße gefallen? Wo war da deine Nase?«
Sönke grinste und knuffte Ogge in die Seite. Das war vielleicht ein peinlicher Auftritt gewesen. Das hatte man davon, wenn man den fliegenden Röcken zweier Mädchen hinterherschaute, statt auf den Weg zu achten. Er lenkte von diesem für ihn unerquicklichen Thema ab.
»Die alte Atje sitzt am Ofen und erzählt mal wieder vom Gottesfrevel der Rungholter. Macht sie ja immer, wenn eine Sturmflut droht. Man mag es kaum glauben, dass eine so stolze und reiche Stadt einfach so verschwindet, zunichtegemacht, weil es Gott so gefiel. Allerdings wüsste ich nicht, was zuletzt hier vorgefallen sein könnte, weswegen der Allmächtige uns zürnen könnte.«
Fragend sah er seinen älteren Bruder an. Der runzelte die Stirn und überlegte ernsthaft.
»Nein, nichts, was soll hier schon gewesen sein? Oder glaubst du, nur weil der versoffene Iven vor die Kirche gekotzt hat, droht uns nun der Untergang? Dann wären wir alle schon lange nicht mehr auf dieser Welt, so wie der säuft.«
Sönke brach in lautes Gelächter aus, das der immer wieder aufbrausende Wind davontrug. Er pfiff ihm um die Ohren, zerrte an seiner dunkelblauen Filzkappe, drohte, sie ihm vom Kopf zu reißen. Mit seiner rechten behaarten Pranke, die kaum zu dem schmächtigen Körper des Siebzehnjährigen passen wollte, hielt er sie fest.
»Sag, Ogge, glaubst du wirklich, die Geschichte mit der besoffenen Sau, den Oblaten im Bier und dem geschundenen Priester war der Grund für Rungholts Untergang? War es wirklich eine Strafe des Allmächtigen?«
Der Ältere zuckte mit den Achseln.
»Ich weiß es nicht, aber wir sind mit unseren Deichen gut gewappnet. Die Grote Mandränke war vor mehr als zweihundertfünfzig Jahren. Keiner von uns ist dabei gewesen, über Generationen ist darüber erzählt und gesponnen worden. Wer soll also noch wissen, was und warum sich das alles zugetragen hat.« Er räusperte sich. »Und ich möchte eigentlich nicht an einen zürnenden und rachsüchtigen Gott glauben.«
In diesem Moment drang Glockengeläut von der eine viertel Meile entfernten Kirchwarft an ihre Ohren.
»Pastor Heinsen läutet die Glocken. Hoffen wir, dass sie nicht von drohendem Unheil künden.«
Sönke hielt erneut seine Nase in den Wind. »Da kommt nichts auf uns zu.«
Auch Ogge ließ seinen Blick wieder über das Wasser schweifen, seine Augen tasteten den dunkelgrauen Himmel ab. Mit einem Seufzer der Erleichterung drehte er sich zu seinem Bruder um.
»Auf deine Nase und meine Augen ist Verlass. Geh zurück und verkünde allen, es wird nicht so schlimm werden. Der Sturm wird zulegen und die zweite Flut wohl um einiges höher werden. Schick mir noch vier Männer raus, wir werden die beiden Hauptsiele und den Deich vor der äußersten Warft im Auge behalten. Mehr können wir nicht tun, und mehr ist auch nicht erforderlich. Wir haben im letzten Jahr gute Arbeit geleistet.«
Auch wenn nach Einschätzung von Ogge Brodersen keine Gefahr für das Land bestand, näherte sich die Flut wie ein gefräßiges Tier. Sönke konnte die Faszination seines Bruders und seiner Schwester Levke für das alles hier, und damit meinte er wirklich alles – das windumtoste Land, die Warften, die Deiche, den schlickigen Boden nach und vor den Fluten, die Schauer- und Spukgeschichten, den Geruch nach verbranntem Torf und nasser Schafwolle, den Geschmack von gesalzenem und geräuchertem Fisch – nicht verstehen. Ihn zog es in die Ferne. Er würde hier nicht alt werden wollen, um bei jedem auch nur leise auffrischenden Lüftchen, das sich eventuell zu einem Orkan erheben konnte, mit dem Schlimmsten zu rechnen. Sein Ziel war Antwerpen. Er hatte schon viel von der großen Stadt in Flandern gehört. Dort würde er irgendwann sein Glück machen. Doch von seinem großen Traum hatte er noch niemandem erzählt. Sein Vater würde ihm das Fell gerben, wenn er damit ankäme. Sein Platz sei an der Seite der Familie. Doch noch fehlten ihm die geeigneten Mittel, von hier wegzukommen. Aber irgendwann … Und wenn er in der großen Stadt genügend Reichtum angehäuft hätte, würde er zurückkehren und die, die ihm lieb und teuer waren, daran teilhaben lassen. So lautete sein Plan.
Träumend starrte Sönke in die Ferne. Was war das? Ein Pfahl, der aus dem Wasser ragte? Doch noch bevor er seinen Bruder darauf aufmerksam machen konnte, war das Stück Holz schon wieder verschwunden. Die Flut war hungrig.
»Es ist wirklich nicht zu glauben, dass sich hier vor unseren Augen einmal eine reiche Stadt befunden hat«, kam er wieder auf Rungholt zu sprechen und verzog sich dabei schaudernd in seinen Umhang. »Alles weg, Mensch und Tier, einfach alles. Was meinst du, ob die Holzreste, die Vater vor drei Wochen entdeckt hat, ein Teil der Kirche von Rungholt waren? Ich habe keine zwei Tage, nachdem Vater davon berichtet hat, nach ihnen Ausschau gehalten, doch da war schon wieder alles unter dem Sand und Schlick vergraben.«
Ogge zuckte mit den Achseln. »Von der Kirche, vielleicht von einem Haus, einem Stall, ich habe keine Ahnung. Wie dem auch sei, hier irgendwo muss Rungholt gelegen haben.« Er wies mit seiner rechten Hand zum Wasser und schwenkte seinen Arm dann in alle Richtungen. »Denk nur an die beiden Münzen, die Levke gefunden hat, oder an den Krug mit dem merkwürdigen Wellenmuster, der bei der alten Sinja steht. Und noch viel mehr hat man hier immer mal wieder gesehen oder gefunden. Allerdings, ob die Stadt wirklich so unermesslich reich war, wie die Alten erzählen, vermag ich nicht zu beurteilen. Vielleicht war sie einfach nur ein wichtiger Handelsplatz mit einem Hafen, in dem Schiffe aus fernen Ländern angelegt haben.« Ogge hatte bei den letzten Worten nachdenklich und gespannt in die Ferne geschaut, als erwarte er, dort ein Schiff mit geblähten Segeln auftauchen zu sehen.
»So, nun wollen wir aber nicht mehr den alten Geschichten nachhängen, denken wir an das, was kommt. Zumindest werden wir in dieser Nacht kein Ungemach zu erleiden haben. Der Sturm wird sich ordentlich ins Zeug legen, aber er birgt keine Gefahr. Was stehst du also noch hier rum. Spute dich, es wird allen eine Erleichterung sein, das zu hören.«
Es kam, wie Ogge es vorausgesagt hatte. Der Sturm richtete keine Schäden an, die Deiche hielten, Mensch und Vieh hatten die Gefahr einmal mehr überstanden. Zwar hatte die erste Flut am Nachmittag am Deich geleckt, die zweite in den frühen Morgenstunden des Folgetages noch versucht, die Schutzwälle anzunagen. Doch dabei war es geblieben. Das nachfolgende Niedrigwasser gegen zehn Uhr am Vormittag ließ die Priele wie silberne ruhende Schlangen in der Herbstsonne glänzen.
Am Tag danach
Levke Brodersen wusste, nach solchen Unwettern zeigten sich die Schätze im Watt am ehesten. Die Kraft des Windes und die Wut des Wassers gaben so manchen Fund frei, ließen eine rote Scherbe oder eine von Seepocken vernarbte Schmuckschließe an die Oberfläche treten. Aber auch Knochen, von denen sie nicht hätte sagen können, ob sie von Menschen oder Tieren stammten, kamen zum Vorschein, oder bronzene bauchige Gefäße, die sich kaum von den Grapen unterschieden, die auch bei ihnen im Haus über dem Feuer hingen.
Altes Gelumps, so ihr Vater, wenn sie mit ihren Schätzen nach Hause zurückkam. Lediglich die beiden Münzen waren ihm einen erstaunten Blick wert gewesen. Es war zwar kaum etwas darauf zu erkennen, und die kaum lesbaren Schriftzeichen sahen sehr merkwürdig aus, aber die Geldstücke schienen aus Silber zu sein. Levke hatte sie in der kleinen Holzkiste mit der geschnitzten Ähre auf dem Deckel sicher verwahrt. Der Wetzstein dagegen, den sie aus dem Schlick geborgen hatte, war...
Erscheint lt. Verlag | 8.3.2022 |
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Reihe/Serie | Inselköchin-Saga | Inselköchin-Saga |
Sprache | deutsch |
Themenwelt | Literatur ► Krimi / Thriller / Horror ► Krimi / Thriller |
Schlagworte | 2022 • Atlantis • Cosy Crime • eBooks • Friesland • Heimatkrimi • Humor • Insel • Kochen • Krimi • Krimi für den Urlaub • Kriminalromane • Krimis • Küstenkrimi • lustig • lustige • Neuerscheinung • Nordsee • Nordseekrimi • Pellworm • Rezepte • Rungholt • spannend • Strandlektüre • sympathisch • Urlaubskrimi |
ISBN-10 | 3-641-26691-2 / 3641266912 |
ISBN-13 | 978-3-641-26691-2 / 9783641266912 |
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