Weinen möcht ich wie ein Kind (eBook)
359 Seiten
Aufbau digital (Verlag)
978-3-8412-2519-1 (ISBN)
Die 16-jährige Danielle Ahlisch kommt vom Konzert ihrer Lieblingsband nicht nach Hause zurück. Kurz darauf wird ihre übel zugerichtete Leiche im Treptower Park gefunden. Ihre Familie, ihre beste Freundin und ihre Lehrerin sind fassungslos. Wer kann das freundliche, hilfsbereite Mädchen so gehasst haben? Schnell fällt der Verdacht auf die Familie Klewa, deren vierjährigen Sohn sie oft betreut hat. Erst kurz vor ihrem Tod hatte Danielle im Internet nach der Adresse des Jugendamts gesucht, weil die Eltern überfordert wirkten. Fürchteten sie, dass man ihnen Ihr Kind wegnehmen würde? Der Verdacht erhärtet sich, als sie nach der ersten Befragung nicht mehr erreichbar sind. Der Neu-Berliner Kommissar Joris Eichendorf steht vor einem Rätsel. Wären die Eltern wirklich zu dieser Tat fähig? Außerdem gestaltet sich der Start in Berlin für Eichendorf schwieriger als gedacht, denn schon bald wirft sein altes Leben einen Schatten auf den Neuanfang ...
Jordan T.A. Wegberg studierte Germanistik und Anglistik sowie Literaturvermittlung und Medienpraxis. Sieben Romane und über zwanzig Kurzgeschichten erschienen in verschiedenen Verlagen und Literaturzeitschriften. Sie wurden unter anderem mit dem Brandenburgischen Literaturpreis und der Goldenen Leslie des Landes Rheinland-Pfalz ausgezeichnet. Wegberg unterrichtet literarisches Schreiben und begleitet Autor*innen in Einzelcoachings auf dem Weg zur Veröffentlichung. Mit seinem Hund James wandert der leidenschaftliche Fotograf über 2500 Kilometer im Jahr. Er hört am liebsten Techno oder Vogelgesang, interessiert sich für Botanik und Psychologie, mag keine Schokolade und träumt häufig auf Englisch.
1
Seit anderthalb Stunden wartete Danielle vor »Huxleys Neuer Welt«, direkt vor der verschlossenen Eingangstür, den stählernen Griff in der Hand. Sie hatte sich keinen Zentimeter von der Stelle gerührt, und von den später Kommenden hatte auch niemand gewagt, ihr diese Position streitig zu machen.
Es war anstrengend, so lange zu stehen. Durch die Glasscheibe konnte sie die Leute von der Einlass-Crew plaudern, herumgehen, lachen sehen. Das ärgerte sie jedes Mal, wie locker und gleichgültig die taten. Als warteten da draußen nicht Menschen, denen das Herz bis zum Hals schlug und für die dieser Abend die ganze Welt bedeutete. Sie warfen dem Grüppchen aufgeregter Fans nicht mal einen einzigen Blick zu.
Aber Dani tat es. Sie hatte ja Zeit. Wie üblich viele bekannte Gesichter: diese verhuschte Büromaus mit der zu großen Brille und ihr ebenso verhuschter Freund; die Kleine, die immer mit ihrer Mutter kam – ob sie beide Fans waren? –; die blonden Zwillingsschwestern.
Und dann marschierten die vier Freundinnen auf, die auch heute wieder einen großzügigen Vorrat Prosecco dabeihatten und sich auf die Show einstimmten, indem sie falsch und schrill die bekanntesten Songs der Band sangen. Danis Magen verknotete sich. Sie kannte die Mädchen – drei davon waren auf ihrer Schule, zwei Klassen über ihr, und jedes Zusammentreffen mit ihnen war eine Quälerei.
Damals bei dem Auftritt der Bunten Kinder im »Frannz Club« war sie ihnen zum ersten Mal außerhalb der Schule begegnet, seither kamen auch sie zu fast allen Konzerten der Band. Sie waren laut, sie waren aggressiv, sie tranken zu viel und drängten immer ganz nach vorne.
Und sie hassten Danielle.
»Guck mal, der Walfisch ist auch da!«
»Ach du Scheiße, dann ist der Saal ja voll.«
»Aber der ist doch hier im Obergeschoss. Vielleicht schafft sie es gar nicht die Treppe hoch.«
»Da hat sie sich bestimmt einen Kran für bestellt. – Mann, Lisa, jetzt gib doch mal die Flasche weiter, die ist ja gleich leer!«
Danielle gab sich größte Mühe, die verletzenden Bemerkungen zu ignorieren, und sehnte verzweifelt Shaya herbei. Ohne ihre beste Freundin fühlte sie sich der krakeelenden Bande schutzlos ausgeliefert, sie konnte nicht mal so tun, als wäre sie viel zu sehr ins Gespräch vertieft, um ihre Umgebung überhaupt wahrzunehmen. Anscheinend war sie die Einzige, die allein hier stand. Seufzend verlagerte sie erneut das Gewicht. Ihr taten jetzt schon die Füße weh, dabei hatte der Abend noch nicht mal angefangen.
Wie immer öffneten die Security-Leute die Tür exakt zur offiziellen Einlasszeit. Sie ließ ihr Ticket einscannen, wurde halbherzig abgetastet und galoppierte dann, ohne sich nach rechts oder links umzuschauen, die Treppe hoch und durch die Halle bis ganz nach vorne zu der Absperrung direkt vor der Bühne. Das mittlere Mikrofon war das von Moritz. Und unmittelbar darunter bezog sie Stellung. Zufrieden legte sie Jacke und Schal über das Gitter, so, wie ein Goldsucher seinen Claim markiert, und schloss rechts und links davon die Hände um die kühle eiserne Stange. Bis hierhin war es gut gelaufen.
Noch war die unbestuhlte Halle fast leer, aber vorne an der Bühne bildeten sich bereits kleine Rudel. Fast alles Frauen oder, na ja, Mädchen. Etwa die Hälfte von ihnen trug Bunte-Kinder-T-Shirts. Dani hätte ihres auch gerne getragen, aber sie sah darin aus wie eine Presswurst, weil es nur Größe L hatte. Und wenn sie Moritz gegenüberstand, wollte sie keine Presswurst sein, sondern eine attraktive, unwiderstehliche junge Frau.
Ihre lange königsblaue Hemdbluse mit den Schulterklappen war neu. Von Ulla Popken. Schweineteuer, aber sie hatte sie extra für diesen Anlass gekauft und fühlte sich wohl darin, denn sie floss locker über ihren Körper hinweg und verhüllte seinen Umfang, statt jedes Kilo gnadenlos hervorzuheben. Das Firmenetikett hatte sie rausgeschnitten, weil es ihr peinlich war, Klamotten aus einem Fachgeschäft für Übergewichtige zu tragen. Shaya hatte sie erzählt, die Bluse wäre von New Yorker. Sie hätte viel darum gegeben, sich tatsächlich mal was bei New Yorker kaufen zu können, in das sie reinpasste.
Außer der Bluse hatte sie noch dunkelgrauen und silbernen Lidschatten gekauft und sich mit einem YouTube-Tutorial beigebracht, wie man Smokey Eyes schminkt. Die ersten Versuche hatten sie eher nach Pandabär aussehen lassen. Noch ein Bambusrohr im Mund, und die Illusion wäre perfekt gewesen. Nach dem sechsten oder siebten Anlauf war sie aber mit dem Ergebnis ganz zufrieden.
Eigentlich hätte sie vor dem Konzertbeginn gerne im Spiegel überprüft, ob ihr Make-up noch okay war – nicht nur Lidschatten und Wimperntusche, sondern auch der dramatisch violette Lippenstift, an dem Moritz’ Blicke sich bestimmt verfangen würden. Aber natürlich konnte sie ihren hart erkämpften Platz unter keinen Umständen preisgeben, um aufs Klo zu gehen. Deshalb hatte sie auch seit dem Mittagessen nichts mehr getrunken.
Verdammt. Sobald sie das Wort »Klo« dachte, drückte ihre Blase, und bei »trinken« klebte ihr die Zunge am Gaumen. Sie musste sich ablenken.
Suchend ließ sie den Blick durch die Halle schweifen, um zu schauen, ob René schon da war. Tatsächlich, er stand an der Bar. Danielle verzog das Gesicht. Erst mal ein Bier, das war natürlich wichtiger als die kleine Schwester. Sie winkte, aber er bemerkte sie nicht. Seufzend zog sie das Handy aus der Gesäßtasche ihrer Jeans, machte ein Duckface-Selfie mit der noch im Dämmerlicht schlummernden Bühne hinter sich und schickte es an Shaya.
Jedes Mal fragte sie sich, wer eigentlich die Musik aussuchte, die vor den Bandauftritten in den Konzerthallen abgespielt wurde. Marteria, Lana del Rey und MGMT hatte sie erkannt, und jetzt lief gerade so ein Uralt-Klassiker, Riders on the Storm, sie wusste nicht, von wem das war. Auf jeden Fall hatten die Songs alle nichts miteinander und erst recht nichts mit Bunte Kinder zu tun. Wäre es nicht sinnvoll gewesen, die Leute schon mal mit, na ja, ähnlicher Musik einzustimmen?
Aber es gab natürlich keine Band, die auch nur annähernd mit Bunte Kinder vergleichbar war. Das sagten sogar die Musikkritiker. »Bunte Kinder machen unbekümmert alles, was sich kein anderer trauen würde: deutsche Texte, ein undefinierbarer Stilmix aus Hiphop-, Metal- und Synthiepop-Elementen und dazu auch noch eine Geige – aber was die vier Berliner daraus erschaffen, ist frisch wie Pfefferminze, umwerfend charmant und verdientermaßen hitverdächtig.« Das war einer von Danielles Lieblingssätzen. Deshalb konnte sie ihn auch auswendig. Die Vorfreude schoss ihr durch den ganzen Körper bis in die Zehen.
»Na, alles klar bei dir?« René pikste ihr genau in den Speckring oberhalb ihres Hosenbunds, so dass sie aufquiekte. Das machte er immer. Sie hasste es. Und genau deshalb machte er es wahrscheinlich.
»Mann, du Idiot!«
Er ging lächelnd über ihre Empörung hinweg. »Guten Platz hast du dir hier gesichert. Soll ich dir was zu trinken holen?«
Dani überlegte kurz. Ihr Durst war wirklich kaum noch auszuhalten. Ein einziges Getränk würde sie sich wohl erlauben können. Ihr Magen knurrte ebenfalls. »Eine Limo wäre toll. Und zwei Laugenbrezel. Ach, und kannst du meine Jacke an der Garderobe abgeben? Letztes Mal haben die von der Security gemeckert, weil was über dem Gitter hing.«
Während ihr Bruder die Aufträge ausführte, füllte sich der Saal merklich. Ihre Poleposition unter Moritz’ Mikro war begehrt. Die Prosecco-Truppe hatte sich von der Bar rücksichtslos nach vorne gedrängt und versuchte nun, sie durch ätzende Sprüche und übergriffiges Auf-die-Pelle-Rücken zu verdrängen, doch sie stand wie ein Betonblock. Unter allen anderen Umständen hätte das funktioniert: Wenn andere ihr so nahe kamen, dass ihre Körper sich berührten, wich sie aus. Aber nicht jetzt. Nicht, wenn sie die Chance hatte, Moritz zum Greifen nahe zu sein und Fotos von ihm zu machen, die auf ihrem Instagram-Account Hunderte Likes bekommen würden.
Sie tat weiterhin so, als würde sie die verächtlichen Kommentare über ihr Aussehen nicht hören, aber jeder einzelne davon bohrte sich in sie hinein wie Bombensplitter in eine Hausfassade und hinterließ eine hässliche Kerbe in ihrer aufgesetzten Souveränität. Zu Hause vor dem Spiegel, kurz vor dem Aufbruch, hatte sie sich einen kurzen Moment lang beinahe hübsch gefunden. Wenn sie den Rücken durchstreckte, den Bauch einzog und den Kopf auf eine bestimmte Art hielt, sah sie fast gar nicht dick aus oder höchstens ein bisschen pummelig. Unter dem Dauerbeschuss der Prosecco-Girls jedoch bröckelte ihre Selbstachtung und geriet bedenklich ins Taumeln. Ja! Ja! Sie war fett, verdammt! Sie wog siebenundneunzig Kilo und trug inzwischen Größe 48! Und es war vollkommen lächerlich anzunehmen, dass jemand wie Moritz …
»Es kommt doch nicht nur auf das Äußere an«, sagte ihre Mutter immer. Oder: »Viele Männer haben gerne was zum Anfassen.« Oder: »Wer wirklich liebt, für den ist der andere schön so, wie er ist.«
»Hier stinkt’s nach Fisch«, sagte eine Stimme direkt neben ihrem Ohr, »nach Walfisch!« Drei weitere glucksten vor Vergnügen und riefen im Chor: »Iiiiiiih!«
Wieder holte sie ihr Handy hervor und sah sich noch mal die Bunte-Kinder-Homepage mit den Tourdaten an. Das Konzert heute war der Heimatauftakt zu ihrer ersten großen Tournee. Nächsten Mittwoch spielten sie in Potsdam, auch dafür hatte Dani schon ein Ticket. Und dann ging es weiter: Hamburg, Dortmund, München, Amsterdam, Brüssel, Düsseldorf,...
Erscheint lt. Verlag | 1.4.2021 |
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Reihe/Serie | Kommissar Eichendorf ermittelt | Kommissar Eichendorf ermittelt |
Sprache | deutsch |
Themenwelt | Literatur ► Krimi / Thriller / Horror ► Krimi / Thriller |
Schlagworte | Ben Kryst Tomasson • Berlin • Berlin Krimi • Gisa Pauly • Katharina Peters • Klaus-Peter Wolf • Kommissar • Kriminalfall • Kriminalroman • Regionalkrimi • Spannung • Trasgender |
ISBN-10 | 3-8412-2519-5 / 3841225195 |
ISBN-13 | 978-3-8412-2519-1 / 9783841225191 |
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