Bisswunden (eBook)
683 Seiten
Aufbau Verlag
978-3-8412-2450-7 (ISBN)
Catherine 'Cat' Ferry wird als Sachverständige zu einem Mordfall in New Orleans gerufen. Cat ist Spezialistin für Bissspuren und deren Deutung. Doch was sie hier sieht, lässt sie nach einer Panikattacke ohnmächtig zusammenbrechen. Weder der grausame Mord ist die Ursache, noch die Wunden des Opfers. Die Alpträume und Panikattacken, die Cat plagen, haben mit ihrer eigenen Geschichte zu tun - einer Vergangenheit, die sie dachte, erfolgreich verdrängt zu haben. Cat flieht zurück in ihr Elternhaus in Natchez, Mississippi. Dort ist vor vielen Jahren, als sie noch ein Kind war, ihr Vater ermordet worden. Doch was ist damals in jener stürmischen Nacht wirklich geschehen? Kann Cat ihren eigenen Erinnerungen trauen? Und was hat jene längst vergessene Tat mit jenen Morden zu tun, die immer noch geschehen - und ihr eigenes Leben bedrohen?
Greg Iles wurde 1960 in Stuttgart geboren. Sein Vater leitete die medizinische Abteilung der US-Botschaft. Mit vier Jahren zog die Familie nach Natchez, Mississippi. Mit der »Frankly Scarlet Band«, bei der er Sänger und Gitarrist war, tourte er ein paar Jahre durch die USA. Mittlerweile erscheinen seine Bücher in 25 Ländern. Greg Iles lebt heute mit seiner Frau und seinen beiden Kindern in Natchez, Mississippi. Fünf Jahre hat er kein Buch herausgebracht, da er einen schweren Unfall hatte, nun liegen im Aufbau Taschenbuch seine Thriller 'Natchez Burning', 'Die Toten von Natchez vor', 'Die Sünden von Natchez' und 'Blackmail' vor.
1
Wo fängt Mord an?
Mit dem Betätigen eines Abzugs? Mit der Entstehung eines Motivs? Oder fängt er schon viel früher an, wenn ein Kind mehr Schmerz herunterschluckt als Liebe und sich für immer verändert?
Vielleicht spielt es keine Rolle.
Oder es ist wichtiger als alles andere.
Wir urteilen und strafen auf der Grundlage von Tatsachen, doch Tatsachen sind nicht die Wahrheit. Sie sind wie ein vergrabenes Skelett, das lange nach dem Tod exhumiert wird. Die Wahrheit ist fließend. Die Wahrheit ist lebendig. Die Wahrheit zu kennen erfordert Verständnis, die schwierigste aller menschlichen Künste. Die Wahrheit zu verstehen macht es nötig, alle Dinge zugleich zu sehen, zugleich nach vorn und nach hinten zu blicken, so wie Gott.
Nach vorn und nach hinten …
Also fangen wir in der Mitte an, mit einem läutenden Telefon in einem dunklen Schlafzimmer an der Küste des Lake Pontchartrain in New Orleans, Louisiana. Eine Frau liegt auf dem Bett, den Mund offen im tiefen, bewusstlosen Schlaf. Sie scheint das Telefon nicht zu hören. Schließlich aber dringt das Schrillen zu ihr durch wie der Stromschlag von Defibrillatoren, mit denen man versucht, einen komatösen Patienten zu wecken. Die Hand der Frau zuckt unter der Bettdecke hervor und tastet nach dem Hörer, ohne ihn zu finden. Sie schnappt nach Luft, stützt sich auf einen Ellbogen. Dann stöhnt sie leise und nimmt den Hörer vom Telefon auf dem Nachttisch.
Die Frau bin ich.
»Dr. Ferry«, krächze ich.
»Hast du geschlafen?« Die Stimme ist männlich und klingt gepresst vor Zorn.
»Nein.« Ich leugne ganz von selbst, doch mein Mund ist trocken wie ein Baumwollbausch, und mein Wecker zeigt 8 Uhr 20.
Ich war neun Stunden wie bewusstlos. Der erste tiefe Schlaf seit Tagen.
»Er hat wieder zugeschlagen.«
Irgendetwas regt sich in meinem schläfrigen Hirn. »Was?«
»Es ist jetzt das vierte Mal, dass ich in der letzten halben Stunde angerufen habe, Cat.«
Die Stimme lässt Zorn, Verlangen und Schuldgefühle in mir aufwallen. Sie gehört dem Police Detective, mit dem ich in den vergangenen achtzehn Monaten geschlafen habe. Sean Regan. Ein verständnisvoller, faszinierender Mann mit Frau und drei Kindern.
»Was hast du davor gesagt?«, frage ich, bereit, Sean den Kopf abzubeißen, falls er mich zu fragen wagt, ob wir uns irgendwo treffen können.
»Ich sagte, er hat wieder zugeschlagen.«
Ich blinzle und versuche mich in der Dunkelheit zu orientieren. Es ist Anfang August, und der purpurne Schein der Abenddämmerung dringt schwach durch die Vorhänge. Gott, wie trocken mein Mund ist. »Wo?«
»Im Garden District. Der Besitzer einer Druckerei. Männlich, weiß.«
»Bisswunden?«
»Schlimmer als die anderen.«
»Wie alt?«
»Neunundsechzig.«
»Mein Gott. Er ist es.« Ich schwinge mich aus dem Bett. »Das alles ergibt überhaupt keinen Sinn.«
»Stimmt.«
»Sexualtäter töten Frauen oder Kinder, Sean. Aber keine alten Männer.«
»Wir hatten diese Unterhaltung schon. Wie schnell kannst du hier sein? Piazza sitzt mir im Nacken, und möglicherweise kommt der Chief persönlich vorbei, um sich die Sache anzusehen.«
Ich nehme die Jeans von gestern vom Stuhl und ziehe sie über mein Höschen. Victoria’s Secret, Seans Lieblingswäsche, doch er wird sie heute Nacht nicht zu sehen bekommen. Vielleicht für lange Zeit nicht mehr. Vielleicht nie wieder. »Irgendein homosexueller Aspekt bei diesem Opfer? Hat er sich mit männlichen Prostituierten getroffen? Etwas in der Richtung?«
»Nicht der kleinste Hinweis«, antwortet Sean. »Er ist auf den ersten Blick genauso sauber wie die anderen.«
»Wenn er einen Computer zu Hause hat, lass ihn sicherstellen. Er könnte …«
»Ich kenne meinen Job, Cat.«
»Ich weiß, aber …«
»Cat.« Die einzelne Silbe ist wie ein tastender Finger. »Bist du nüchtern?«
Heiß steigt es mir das Rückgrat hoch. Ich habe seit fast achtundvierzig Stunden keinen Tropfen Wodka mehr getrunken, doch ich werde Sean nicht die Befriedigung geben, auf sein Verhör zu antworten. »Wie heißt das Opfer?«
»Arthur LeGendre.« Er senkt die Stimme. »Bist du nüchtern, Süße?«
Das Verlangen ist bereits wach in meinem Blut, wie kleine Zähne, die an den Wänden meiner Adern nagen. Ich brauche das anästhesierende Brennen eines Schusses Grey Goose. Aber das darf ich nicht mehr. Ich habe Valium genommen, um die körperlichen Entzugserscheinungen zu bekämpfen. Doch nichts kann den Alkohol richtig ersetzen, der mich so lange hat funktionieren lassen.
Ich verlagere den Hörer von einer Schulter zur anderen und ziehe eine Seidenbluse aus meinem Schrank. »Wo befinden sich die Bisswunden?«
»Rumpf, Brustwarzen, Penis und Gesicht.«
Ich erstarre. »Gesicht? Wie tief sind sie?«
»Tief genug, dass du deine Abdrücke nehmen kannst.«
Die plötzliche Erregung dämpft die schlimmsten Aufwallungen meines Verlangens nach Alkohol. »Ich bin unterwegs.«
»Hast du deine Medikamente genommen?«
Sean kennt mich zu gut. Niemand sonst in New Orleans ahnt auch nur, dass ich etwas nehme. Lexapro gegen Depressionen, Depakote zur Impulskontrolle. Ich habe vor drei Tagen aufgehört, die Medikamente zu nehmen, doch ich will nicht mit Sean darüber reden.
»Hör auf, dir wegen mir Sorgen zu machen, ja? Ist das FBI da?«
»Die halbe Sonderkommission ist vor Ort, und sie wollen wissen, was du von diesen Bisswunden hältst. Der Typ vom Bureau fotografiert alles, aber du hast die Ultraviolett-Ausrüstung. Außerdem bist du der Fachmann, wenn es um Zähne geht.«
Seans anerkennende, wenngleich absichtlich falsche Darstellung meines Geschlechts ist typischer Cop-Slang, und es verrät mir, dass er Zuhörer hat. »Wie ist die Adresse?«
»Siebenundzwanzig-siebenundzwanzig Prytania.«
»Hört sich nach einer Adresse mit Alarmanlage an.«
»Die ist abgestellt.«
»Genau wie beim Ersten. Moreland.« Unser erstes Opfer – vor einem Monat – war ein Army-Colonel im Ruhestand, ein in Vietnam hoch dekorierter Offizier.
»Ganz genau.« Seans Stimme sinkt zu einem Flüstern herab. »Schaff deinen hübschen Hintern hierher, okay?«
Heute erweckt seine irische Vertraulichkeit in mir den Wunsch, ihm eine zu langen. »Kein ›Ich liebe dich‹?«, frage ich mit vorgetäuschter Liebenswürdigkeit.
Seine Antwort ist fast unhörbar leise. »Du weißt, dass ich nicht allein bin.«
Wie üblich. »Ja. Ich bin in fünfzehn Minuten bei dir.«
Die Nacht senkt sich herab, während ich mit meinem Audi von meinem Haus am Lake Pontchartrain zum Garden District fahre, dem duftenden Herzen von New Orleans. Ich habe zwei Minuten im Badezimmer verbracht in dem Bemühen, mich vorzeigbar zu machen, doch mein Gesicht ist noch immer verschwollen vom Schlaf. Ich brauche Koffein. In fünf Minuten werde ich umgeben sein von Cops, FBI-Agenten, forensischen Technikern, dem Chef des Morddezernats und möglicherweise dem Chef des New Orleans Police Department, kurz NOPD. Ich bin an derartige Aufmerksamkeit gewöhnt, doch vor sieben Tagen – das letzte Mal, als dieses Raubtier zugeschlagen hat – hatte ich ein Problem am Tatort. Nichts allzu Ernstes. Eine Panikattacke aus heiterem Himmel, nach den Worten des Rettungssanitäters, der mich anschließend untersucht hat. Doch Panikattacken wecken in den harten Männern und Frauen, die mit der Untersuchung von Serienmorden beauftragt sind, nicht gerade Vertrauen. Ein beratender Experte, der sich nicht zusammenreißen kann, ist das Letzte, was sie gebrauchen können.
Die Nachricht von meiner kleinen »Episode« hat sich selbstverständlich verbreitet wie ein Lauffeuer. Sean hat es mir erzählt. Niemand wollte es glauben. Wieso verliert die Frau, die man beim Morddezernat die »Ice Queen« nennt, plötzlich am Schauplatz eines gar nicht allzu grässlichen Mordes die Fassung? Das wüsste ich selbst gerne. Ich habe eine Theorie, doch die Analyse der eigenen mentalen Verfassung ist ein Geschäft, das bekannt ist für seine Unzuverlässigkeit. Was den Spitznamen angeht: Ich bin keine Eiskönigin, doch in der Macho-Welt der Gesetzeshüter ist diese Rolle das Einzige, das mir Sicherheit verschafft – vor Männern und vor meinen eigenen unkontrollierten Impulsen. Bis auf die Tatsache, dass Sean diese kleine Strategie Lügen straft.
Vier Opfer inzwischen, rufe ich mir ins Gedächtnis, indem ich mich auf den Fall konzentriere. Vier Männer im Alter von zweiundvierzig bis neunundsechzig, alle ermordet im Abstand von einer Woche. In einer...
Erscheint lt. Verlag | 6.4.2021 |
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Reihe/Serie | Greg Iles Bestseller Thriller | Greg Iles Bestseller Thriller |
Übersetzer | Axel Merz |
Sprache | deutsch |
Original-Titel | Blood Memory |
Themenwelt | Literatur ► Krimi / Thriller / Horror ► Krimi / Thriller |
Literatur ► Romane / Erzählungen | |
Schlagworte | 20.Jahrhundert • Bisswunden • Ermittlung • Forensik • Gesellschaft • Hass • Mississippi • Mord • Natchez • New Orleans • Rassenunruhe • Roman • Spannung • Thriller • USA • Verbrechen |
ISBN-10 | 3-8412-2450-4 / 3841224504 |
ISBN-13 | 978-3-8412-2450-7 / 9783841224507 |
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