Danowski: Unter Wasser (eBook)
400 Seiten
Rowohlt Verlag GmbH
978-3-644-01153-3 (ISBN)
Till Raether, geboren 1969 in Koblenz, arbeitet als freier Autor in Hamburg, u.a. für das SZ-Magazin. Er wuchs in Berlin auf, besuchte die Deutsche Journalistenschule in München, studierte Amerikanistik und Geschichte in Berlin und New Orleans und war stellvertretender Chefredakteur von Brigitte. Sein Sachbuch «Bin ich schon depressiv, oder ist das noch das Leben?» stand 2021 wochenlang auf der SPIEGEL-Bestsellerliste. Seine Romane «Treibland» und «Unter Wasser» wurden 2015 und 2019 für den Friedrich-Glauser-Preis nominiert, alle Bände um den hypersensiblen Hauptkommissar Danowski begeisterten Presse und Leser. Band 2 «Blutapfel» wurde vom ZDF mit Milan Peschel in der Hauptrolle verfilmt, weitere Danowski-Fernsehkrimis sind in Vorbereitung. Till Raether ist verheiratet und hat zwei Kinder.
Till Raether, geboren 1969 in Koblenz, arbeitet als freier Autor in Hamburg, u.a. für das SZ-Magazin. Er wuchs in Berlin auf, besuchte die Deutsche Journalistenschule in München, studierte Amerikanistik und Geschichte in Berlin und New Orleans und war stellvertretender Chefredakteur von Brigitte. Sein Sachbuch «Bin ich schon depressiv, oder ist das noch das Leben?» stand 2021 wochenlang auf der SPIEGEL-Bestsellerliste. Seine Romane «Treibland» und «Unter Wasser» wurden 2015 und 2019 für den Friedrich-Glauser-Preis nominiert, alle Bände um den hypersensiblen Hauptkommissar Danowski begeisterten Presse und Leser. Band 2 «Blutapfel» wurde vom ZDF mit Milan Peschel in der Hauptrolle verfilmt, weitere Danowski-Fernsehkrimis sind in Vorbereitung. Till Raether ist verheiratet und hat zwei Kinder.
1. Kapitel
Ein großes Haus, bis zur Decke voll Müll. Zumindest in einem Raum hatten sie das geschafft, hinten, neben dem Fenster, durch das man auf die Ginsterbüsche und den verwilderten Garten sah.
März, der Frühling musste sich noch durchkämpfen.
Und in der Zimmerecke hielten die blauen, die weißen und die braunen Müllsäcke einander aufrecht, jeder von ihnen hatte seine spezielle physikalische Funktion: Masse, Volumen, Trägheit, alles im Dienste der Aufgabe, den nach unten breiter werdenden Müllberg sich zur Zimmerdecke strecken zu lassen. Stabil, Bruda.
Dennis mochte so was. Physik hatte ihn interessiert, bis ihn gar nichts mehr so richtig interessiert hatte. Farblich taten einem die Müllsäcke in ihren durcheinandergeworfenen HSV- und Sankt-Pauli-Farben weh, da kriegte man echt Augenkrebs, aber Alex sagte immer: Nur die mit Bändern, Bruda, die zum Zuziehen, wegen dem Gestank, verstehst du. Und dann kaufte Dennis irgendeine Farbe in irgendeinem Supermarkt, an dem er vorbeikam. Immer ein anderer Supermarkt, hatte Alex ihm eingeschärft. Keine Muster entwickeln. Es war Dennis recht, denn es gab ihm Gelegenheit, ziellos durch die Gegend zu driften, weg vom Haus. Wo Alex und der stille Tschetschene vor ihren Rechnern saßen, auf ihre Bildschirme starrten und Müll verursachten. Alex laut, der stille Tschetschene – eben nicht laut.
Der Gestank vom Müllraum ging eigentlich. Dennis hatte die Tür von unten abgeklebt, damit sie im Rest des Hauses in Ruhe arbeiten konnten. Weil er sich mal für Mathe und Physik interessiert hatte, war ihm klar, dass es nicht ewig so weitergehen konnte. Er schätzte, dass sie in etwa zwei Jahren und fünf Monaten das gesamte Untergeschoss des Hauses mit Müll gefüllt haben würden und in knapp vier Jahren auch noch den Keller und die zweite Etage. Das kam davon, wenn die Eltern starben, einem das Haus hinterließen, aber dann kümmerte sich keiner mehr darum, weil man gerade volljährig war, und wer wusste denn, dass man in Schleswig-Holstein für die Müllabfuhr bezahlen und in dem Zusammenhang auch mal irgendwo anrufen musste.
Armer Alex.
Aber so lange würden sie hier nicht rummüllen. Vorher würde das große Ding passieren. Die Sache mit Billi Swopp. Darauf setzte Dennis ganz große Hoffnungen. Alex auch, das wusste er. Der stille Tschetschene legte falsche Spuren und versteckte ihre richtigen, er organisierte Waffen und so was und freute sich vielleicht auch, sagte aber nichts.
Dennis fragte sich, wo Alex diesen Typen gefunden hatte.
Uni, hatte Alex gesagt. Das war der kürzeste Witz, den Alex je erzählt hatte.
Und jetzt würde es bald losgehen: am Samstagvormittag im Erlebnisbad in Norderstedt, wenn es dort am vollsten war, Märzferien. Mit dem Fuß schob Dennis den braunen Müllsack zu dessen Brüdern und Schwestern. Im Müllzimmer roch es mehr nach Plastik als nach verdorbenen Abfällen. Es machte sich bezahlt, dass sie die Essensreste meist ins Klo schütteten, weil die Müllsäcke dann nicht so stanken. Und wegen der Ratten, sagte Alex, die sollten auch nicht leben wie die Hunde.
Billi Swopp. Dennis hatte zuletzt ein bisschen zu viel Zeit mit ihren Videos verbracht, darum ertappte er sich jetzt wieder dabei, wie er beim Türzumachen einen ihrer Songs vor sich hin summte. Und warum hatte eigentlich immer er Mülldienst.
Ich bin Billi, ich bin Billi, Billi Swopp
Ich will kein’ Brilli, ich hab kein’ lamen Shop
Dein Bling, dein Swag interessiert mich null
Dein Lifestyle, Mindstyle, ist für mich alles bull-
shit!
shit!
shit!
Vor allem diese Stelle ging ihm die ganze Zeit im Kopf rum, Hooks konnte sie ja: Wenn sie plötzlich aus dem Versmaß ausbrach und nur noch Shit! brüllte, aber der Beat lief weiter.
Trotzdem machte ihm die Sache Angst. Dieser ganze Plan mit Billi Swopp: Okay, sie hatten nicht viel zu verlieren, aber wenn das zu weit ging, dann würden sie sich in Zukunft keine Gedanken über die Müllabfuhr mehr machen müssen, dann würde jeden Nachmittag um 17 Uhr ein Wärter den Müll einsammeln und ihn stirnrunzelnd mit Plastikhandschuhen durchfühlen.
Die Frage war auch, wie lange ihr Geld noch reichen würde. Fast alles, was im Haus war, hatten sie auf Ebay-Kleinanzeigen verkauft. «Also außer den Sachen, wo irgendwelche Erinnerungen dran hängen, oder?», hatte er Alex am Anfang gefragt, als sie die Kleiderschränke seiner Eltern aufgezogen hatten und dieser Geruch nach intaktem Leben rauswehte, aber wie schnell der sich verflüchtigte.
«Nee», hatte Alex gesagt. «Die ganz besonders.»
Und dann hatten sie alles verkloppt, bis auf ein paar Sachen im Keller, die einfach zu unappetitlich waren oder zu oll. Und die Taucherausrüstungen von Alex’ Eltern, Neoprenanzüge, Masken, Flossen, Atemgeräte. Dafür hätten sie ordentlich Geld kriegen können, aber Alex hatte gelacht und gesagt: «Nee, die behalten wir, damit hab ich noch was vor.»
«Was denn?», hatte Dennis gefragt.
«Na, wir gehen vielleicht tauchen. Aber du ziehst den Anzug von meiner Mutter an, du hast so ihre Hüften.» Dennis war noch nie tauchen gewesen. Skifahren auch nicht. So was gab es in seiner Welt nicht. «Das ist nichts für uns», sagte seine Mutter.
Alex saß an einem der Bildschirmarbeitsplätze, die sie sich im ehemaligen Wohnzimmer eingerichtet hatten. Alex nannte alles ehemalig hier: sein ehemaliges Elternhaus, ehemaliges Kinderzimmer, ehemaliges Wohnzimmer. Stimmte ja auch. Wohnen konnte man das, was sie hier machten, nicht nennen.
«Dimitri!» Alex begrüßte ihn in diesem erfundenen, viel zu dick und breit aufgetragenen quasi-russischen oder fake-osteuropäischen Akzent, den sie sich vor ein paar Monaten zugelegt hatten. Immer zu laut, zu überschwänglich oder zu bedrohlich, als hätten sie sich lange nicht gesehen oder noch viele alte Rechnungen offen. Obwohl Dennis nur kurz eine Mülltour gemacht hatte. Ihm ging das Getue ein bisschen auf die Nerven, aber Alex hatte immer mehr Geduld mit ihren Ritualen und liebte es, sie bis zum Letzten auszureizen. Der stille Tschetschene saß Alex schräg gegenüber, sodass Dennis, als er an ihm vorbeiging, sein Hackerdekolleté sehen konnte: den Anfang der Poritze zwischen dunkelgrauer Cargohose und etwas zu kurzem SpongeBob-T-Shirt. Der stille Tschetschene arbeitete immer auf einem Hocker, weil er meinte, eine Rückenlehne würde seine Konzentration stören. Das war eine von drei oder vier Sachen, die er in den letzten zwei Wochen gesagt hatte. Abgesehen von: Pizza.
«Was gibt’s eigentlich zum Mittag?», fragte Alex.
«Meinst du Abendessen? Guck mal raus. Wird schon dunkel.»
«Wird nie hell.»
«Keine Ahnung. Asiatisch.»
«Kannst du bisschen spezifischer werden.»
Dennis zuckte die Achseln.
«Ich lass mich überraschen», sagte Alex und wandte sich wieder seinem Bildschirm zu. Dennis sah, dass er an einer Schriftanimation arbeitete, im Stil der achtziger Jahre, die keiner von ihnen beiden auch nur im Ansatz erlebt hatte. Türkisfarbene Perspektivlinien, die Richtung Horizont verschwanden, eine pinkfarbene, geschwungene Schrift. Jeder von ihnen merkte immer sofort, wenn der andere ihm über die Schulter blickte, darum sagte Alex: «Unser Projekt braucht doch einen Namen.»
3 Guys, 1 Girl, 1 Pool
«Mann», sagte Alex, als wäre Dennis begriffsstutzig, nur weil er nichts gesagt hatte. Dabei überlegte Dennis nur, wie er sagen sollte, dass er es scheiße fand, wenn Alex hier rumspielte, während er den Müll entsorgen musste. Thematisieren, nannte seine Mutter das. «Das ist doch wegen den anderen Videos. Two girls, one cup. Three guys, one hammer.»
Dennis setzte sich auf den ehemaligen Schreibtischstuhl aus dem ehemaligen Arbeitszimmer von Alex’ ehemaliger Mutter, den die beiden anderen ihm übrig gelassen hatten, weil der Stuhl nach Katzenpisse roch. Dennis kannte diese Videos, und er kannte vor allem Alexanders Besessenheit. Alex, Alexander. Benannt nach seinem ehemaligen Vater. «2 Girls and 1 Cup», diese eigentlich schon uralte Internet-Mutprobe, wo zwei brasilianische Pornodarstellerinnen mit einer Tasse und ihren Ausscheidungen ekelhafte Dinge taten (oder waren das Künstlerinnen?). So ekelhaft, dass Dennis immer nur behauptet hatte, er habe das Video gesehen. Bis Alex ihn gezwungen hatte, es wirklich bis zum Ende anzuschauen. Gezwungen mit Worten, wie immer.
So, wie Alex ihn auch gezwungen hatte, «3 Guys, 1 Hammer» anzuschauen. Zwei Typen in ihrem Alter, die einen Betrunkenen an irgendeinem gottverlassenen russischen Waldrand totschlugen und sich dabei filmten und das dann ins Netz gestellt hatten. Seitdem konnte Dennis nicht mehr so gut in den Spiegel schauen. Was wie eine Redewendung klang. Aber es beschrieb einfach einen Vorgang: Er schaffte es nicht mehr, seinen Blick auf sich selbst in einem Spiegel zu richten, die Trägheit seines Kinns wurde zu groß, das Volumen seiner Scham, nichts ging mehr.
Er wollte den Menschen nicht sehen, der das gesehen hatte.
Und jetzt kam Alex mit diesem Scheiß. Weil das, was Alex vielleicht vorhatte, genau betrachtet nicht viel weniger schlimm war, als solche Videos zu schauen, sondern eher schlimmer. Weil sie jetzt nicht mehr zuschauen würden, sondern handeln.
«Thailändisch», sagte Dennis.
«Schon wieder», sagte Alex, aber nicht vorwurfsvoll, sondern mit großer, breiter russischer Anerkennung. «Dimmi, hast du gemacht beste Idee von Welt!»
«Pizza», sagte der stille Tschetschene. Es knisterte, als er mit seiner Tastatur die...
Erscheint lt. Verlag | 14.12.2020 |
---|---|
Reihe/Serie | Adam Danowski | Adam Danowski |
Verlagsort | Hamburg |
Sprache | deutsch |
Themenwelt | Literatur ► Krimi / Thriller / Horror ► Krimi / Thriller |
Schlagworte | Blog • Bloggerin • Danowski • deutsche Kriminalromane • Deutsche Krimis • Entführung • Ermittler • Friedrich-Glauser-Preis • Glauser • Glauser 2019 • Hamburg • Hamburg Krimi • Krimi • Krimi Deutschland • Krimi lokal • Kriminalgeschichten • Kriminalliteratur • Kriminalroman • Krimi Neuerscheinungen 2024 • krimis bücher • Krimis und Thriller • Krimi Thriller • last minute geschenke • Menschenhandel • Nötigung • Regionalkrimi • Romane Krimis • Schwimmbad • Sexuelle Belästigung • spannende Bücher • Spannung • Spaßbad • Thriller und Krimis deutsch |
ISBN-10 | 3-644-01153-2 / 3644011532 |
ISBN-13 | 978-3-644-01153-3 / 9783644011533 |
Haben Sie eine Frage zum Produkt? |
Größe: 9,1 MB
DRM: Digitales Wasserzeichen
Dieses eBook enthält ein digitales Wasserzeichen und ist damit für Sie personalisiert. Bei einer missbräuchlichen Weitergabe des eBooks an Dritte ist eine Rückverfolgung an die Quelle möglich.
Dateiformat: EPUB (Electronic Publication)
EPUB ist ein offener Standard für eBooks und eignet sich besonders zur Darstellung von Belletristik und Sachbüchern. Der Fließtext wird dynamisch an die Display- und Schriftgröße angepasst. Auch für mobile Lesegeräte ist EPUB daher gut geeignet.
Systemvoraussetzungen:
PC/Mac: Mit einem PC oder Mac können Sie dieses eBook lesen. Sie benötigen dafür die kostenlose Software Adobe Digital Editions.
eReader: Dieses eBook kann mit (fast) allen eBook-Readern gelesen werden. Mit dem amazon-Kindle ist es aber nicht kompatibel.
Smartphone/Tablet: Egal ob Apple oder Android, dieses eBook können Sie lesen. Sie benötigen dafür eine kostenlose App.
Geräteliste und zusätzliche Hinweise
Buying eBooks from abroad
For tax law reasons we can sell eBooks just within Germany and Switzerland. Regrettably we cannot fulfill eBook-orders from other countries.
aus dem Bereich