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Es muss schreien, es muss brennen (eBook)

Essays

(Autor)

eBook Download: EPUB
2021
320 Seiten
Carl Hanser Verlag GmbH & Co. KG
978-3-446-27014-5 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Es muss schreien, es muss brennen - Leslie Jamison
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'So klug und radikal ehrlich: Seit Susan Sontag und Joan Didion hat niemand aufregendere Essays geschrieben als Leslie Jamison.' Daniel Schreiber
Leslie Jamison ist eine der originellsten und couragiertesten Denkerinnen ihrer Generation. In ihrem neuen Buch erkundet sie die Tiefen von Verlangen, Intimität und Obsession und testet dabei auch die Grenzen ihrer eigenen Offenheit und ihres Mitgefühls für andere aus. Wie kann sie empathisch über menschliche Erfahrung schreiben, ohne ihre kritische Distanz zu verlieren? Wie ihr Beteiligtsein verarbeiten, ohne der Selbstbezogenheit zu erliegen? In Essays über so unterschiedliche Themen wie den 'einsamsten Wal der Welt', kindliche Erinnerungen an frühere Leben oder die Erfahrung, eine Stiefmutter zu sein, sucht sie nach neuen, ehrlichen Möglichkeiten erzählerischer Zeugenschaft.

Leslie Jamison, geboren 1983 und aufgewachsen in Los Angeles, ist die Autorin von 'Die Empathie-Tests. Über Einfühlung und das Leiden anderer' (2015), 'Die Klarheit' (2018) und dem Roman 'Der Gin-Trailer' (2019). Sie schreibt u. a. für die New York Times, The Atlantic und Harper's, leitet das Non-Fiction-Programm der Columbia University und lebt mit ihrer Familie in New York.

52 Blue


7. Dezember 1992. Whidbey Island, Puget Sound. Die Weltkriege waren vorbei. Die anderen Kriege waren vorbei: Korea, Vietnam. Auch der Kalte Krieg war endlich vorbei. Der Marinefliegerstützpunkt Whidbey Island blieb. Und der Pazifik mit seinen gewaltigen, unergründlichen Tiefen hinter dem Rollfeld, das den Namen eines verschollenen Fliegers trug: William Ault, der bei der Schlacht im Korallenmeer abgestürzt war. So ist das Leben. Der Ozean verschluckt Menschenleiber mit Haut und Haar und macht sie unsterblich. Nach William Ault hieß jetzt eine Piste, die andere Männer in den Himmel schickte.

Auf dem Stützpunkt kam der unendliche Pazifik als endliche Datenmenge an, die von einem am Meeresgrund verteilten Netzwerk von Hydrophonen aufgefangen wurde. Ursprünglich hatten die Hydrophone im Kalten Krieg sowjetische U-Boote belauscht, doch inzwischen waren sie aufs Meer selbst ausgerichtet, um dessen formloses Rauschen in etwas Messbares zu übertragen: meterweise gedruckte Graphen, die aus Spektrogramm-Schreibern rollten.

An besagtem Dezembertag 1992 bemerkte Obermaat Velma Ronquille einen seltsamen Laut. Sie vergrößerte ihn auf einem anderen Spektrogramm, um ihn genauer ansehen zu können. Es war äußerst ungewöhnlich, dass er auf einer Frequenz von 52 Hertz hereinkam. Sie winkte einen der Tontechniker herbei. Dass müsse er sich ansehen, sagte sie. Der Tontechniker kam. Er sah sich den Graphen an. Sein Name war Joe George. Velma sagte: »Ich glaube, das ist ein Wal.«

Joes erster Gedanke war: Heiliger Strohsack. Das konnte nicht sein. Das Lautmuster sah zwar aus wie das eines Blauwals, aber Blauwale erzeugten normalerweise Frequenzen zwischen 15 und 20 Hertz — ein kaum wahrnehmbares Grollen am Rande des menschlichen Gehörspektrums. 52 Hertz lagen in einem völlig anderen Bereich. Und doch war es da, direkt vor ihrer Nase, die Audiosignatur eines Wesens, das mit einem unerhört hohen Lied durch die Tiefen des Pazifiks zog.

Wale singen aus vielerlei Gründen: bei der Navigation, der Futtersuche, der Kommunikation mit Artgenossen. Für manche Wale, darunter Buckel- und Blauwale, spielt der Gesang auch bei der Partnersuche eine Rolle. Männliche Blauwale singen lauter als weibliche, und ihre Lautstärke — über 180 Dezibel — macht sie zu den lautesten Tieren der Welt. Sie klicken und grunzen und trillern und summen und stöhnen. Sie klingen wie Nebelhörner. Ihre Rufe verbreiten sich Tausende von Kilometern weit durch das Meer.

Weil die Frequenz dieses Wals so einzigartig war, verfolgte man ihn in Whidbey jahrelang auf dem Radar, wenn er sich auf seine jährliche Wanderung gen Süden von Alaska nach Mexiko begab. Man nahm an, dass es sich um ein männliches Tier handelte, da nur Bullen in der Paarungszeit singen. Die Route war nicht ungewöhnlich, nur das Lied — und die Tatsache, dass sich nie andere Wale in seiner Nähe zeigten. Er war anscheinend immer allein. Der Wal rief zu hoch, und offenbar hörte ihn niemand — jedenfalls antwortete ihm niemand. Die Tontechniker nannten ihn 52 Blue. Später bestätigte eine wissenschaftliche Studie, dass Walgesang mit ähnlichen Eigenschaften nie aufgezeichnet worden war. »Auch wenn es schwer zu akzeptieren ist«, endete der Bericht, »aber wie es aussieht, ist er in der ungeheuren Weite des Ozeans allein.«

Auf der Fahrt durch den Bundesstaat Washington von Seattle nach Whidbey Island passierte ich die nüchternen Aushängeschilder der dort ansässigen Industrie: riesige Holzstapel, Flüsse, in denen sich Stämme drängten wie Fische in der Reuse, Türme bonbonfarbener Schiffscontainer am Hafen von Skagit und schmutzig weiße Silos vor der Deception Pass Bridge, deren majestätische Stahlkonstruktion sich über den Puget Sound spannte — sechzig Meter über hartfunkelndem Wasser, auf dem Sonnensplitter gleißten. Die Insel am anderen Ende der Brücke wirkte bukolisch, außerweltlich, dabei fast wehrhaft. LITTER AND IT WILL HURT, stand auf einem Schild: Wer Müll hinterlässt, wird büßen. Auf einem anderen: Heizstrahler brauchen Abstand. Whidbey Island nennt sich selbst die längste Insel der USA, aber das stimmt nicht ganz. »Whidbey ist zwar lang«, gab die Seattle Times zu, »aber wir wollen sie nicht länger machen, als sie ist.« Jedenfalls ist die Insel lang genug für ein Drachen-Festival, ein Muschel-Festival, ein Fahrradrennen (die Tour de Whidbey), vier Binnenseen und ein jährlich stattfindendes Krimi-Spiel, bei dem die ganze Gemeinde Langley mit 1035 Einwohnern zum Tatort wird.

Joe George, der Tontechniker, der 52 Blue identifizierte, lebt immer noch in seinem bescheidenen Haus am Hang über der Nordspitze, etwa zehn Kilometer vom Stützpunkt entfernt. Als ich ihn besuchte, öffnete er mir lächelnd die Tür — ein stämmiger Mann mit silbernem Haar, sachlich, aber freundlich. Obwohl er schon seit zwanzig Jahren nicht mehr auf dem Stützpunkt arbeitete, konnten wir mit seinem Navy-Ausweis das Gelände immer noch betreten. Er benutze den Ausweis regelmäßig, um auf dem Stützpunkt seinen Recycling-Müll zu entsorgen, erzählte er. Auf der Holzterrasse vor dem Officers’ Club tranken Männer in Fliegeroveralls Cocktails. Die Küste dahinter war zerklüftet und schön; Wellen brandeten auf den dunklen Sand, der salzige Wind zerrte am Immergrün.

Joe erklärte, als er auf dem Stützpunkt gearbeitet habe, sei sein Team, das für die Verarbeitung der von den Hydrophonen gelieferten Audiodaten zuständig war, aus Sicherheitsgründen vom Rest des Stützpunkts isoliert gewesen. Als wir seine alte Wirkungsstätte erreichten, sah ich, was er meinte. Das Gebäude war von mit Stacheldraht gekrönten Doppelzäunen umgeben. Er sagte, manche Soldaten auf dem Stützpunkt hätten es für eine Art Gefängnis gehalten. Sie erfuhren nie, was dort geschah. Auf die Frage, wofür er die seltsamen Geräusche 1992 gehalten habe, bevor ihm klarwurde, dass es Walgesänge waren, antwortete er: »Kann ich Ihnen nicht sagen. Diese Informationen sind geheim.«

Zu Hause holte Joe einen Stapel Papiere aus der Zeit hervor, als er 52 Blues Spuren folgte. Computer-Landkarten, die fast ein Jahrzehnt seiner Wanderungen dokumentierten, jede Saison in einer anderen Farbe, Gelb, Orange, Lila, die Routen des Wals in der groben Computergrafik der 1990er Jahre. Joe zeigte mir Tabellen mit 52s Liedern und erklärte mir die Linien und Metren, damit ich seine Signatur mit den typischeren Walgesängen vergleichen konnte: mit den tiefen Frequenzen gewöhnlicher Blauwale und den viel höheren Frequenzen der Buckelwale. Die Gesänge der Blauwale enthalten verschiedene Laute — lange Summ- und Stöhnlaute, konstant oder moduliert —, und 52 Blues lautliche Äußerungen zeigten die gleichen charakteristischen Muster, nur eben auf einer völlig anderen Frequenz, knapp über dem tiefsten Ton einer Tuba. Der kurze Audioclip von 52, den Joe mir für das menschliche Gehör beschleunigt vorspielte, hörte sich unheimlich an: ein schriller, pulsierender, bohrender Klang, das akustische Pendant eines trüben Lichtstrahls im dichten Nebel einer Vollmondnacht.

Joe machte es sichtlich Spaß, mir die Karten und Tabellen zu erklären. Anscheinend entsprachen sie seiner Liebe zu Ordnung und Struktur. Als er mir stolz die Früchte seiner verschiedenen und durchaus überraschenden Hobbys zeigte — eine eindrucksvolle Sammlung fleischfressender Pflanzen samt der Bienen, die er als Futter zog, oder die tadellose Muskete, die er für seine Reenactments des Trapperlebens im 19. Jahrhundert aus einem Bausatz angefertigt hatte —, wurde sein Hang zu Akribie und Gewissenhaftigkeit offenbar. Bei allem, was er tat, hatte er ein tiefes Bedürfnis nach Genauigkeit und Gründlichkeit. Er zeigte mir die Kobralilien, seine Lieblingspflanzen, und erläuterte mir — sichtlich beeindruckt von der Effizienz und Tücke des Mechanismus —, wie ihre durchsichtigen Hauben die gefangenen Fliegen täuschten, die bis zur Verausgabung versuchten dem Licht entgegenzufliegen. Dann deckte er die grünen Rücken ihrer gerundeten Hauben behutsam mit einer Frostmatte wieder zu, um sie vor Kälte zu schützen.

Ich spürte, dass Joe sich über die Gelegenheit freute, die alten Walkarten hervorzuholen. Sie erinnerten ihn an die Zeit, als 52s Geschichte ihren Anfang nahm und er mittendrin steckte. Joe erzählte, er sei nach Whidbey gekommen, nachdem er mehrere Jahre auf einem Stützpunkt in Island »Schwerstarbeit« geleistet hatte, so die Dienstbeschreibung, auch wenn er den Dienst in Island nicht als besonders schwer empfunden habe; seine Kinder hatten an der Blauen Lagune Schneemänner gebaut. Damals war...

Erscheint lt. Verlag 19.4.2021
Übersetzer Sophie Zeitz
Verlagsort München
Sprache deutsch
Original-Titel Make it Scream, Make it Burn. Essays
Themenwelt Literatur Essays / Feuilleton
Schlagworte 52 Blue • 52-Hertz-Wal • amerikanische Essaykultur • Angst • Außenseiter • authentisch • Avatar • Bahnhof • Bild • Blindheit • Bürgerkrieg • Datenbank • David Foster Wallace • der einsamste Wal der Welt • Der Gin-Trailer • Die Empathie-Tests • Die Klarheit • Einsamkeit • Eltern-Kind-Beziehung • Embodiment • Empathie • Erfahrung • Ethnologie • Flughafen • Flugzeug • Fotografie • früheres Leben • Gesellschaftsanalyse • Gotham City • Grenzerfahrung • Illusion • Intimität • Jaffna • jia tolentino • Journalistin • Körperlichkeit • Krieg • Kriegsbericht • Kritik • Maggie Nelson • Magisches Denken • Mitgefühl • Nabelschau • Nachspüren • Obsession • #ohnefolie • ohnefolie • Online • Paradies • Pazifik • Plattform • Projekt • Ralph Waldo Emerson • Rausch • Real Life • Recherche • scheu • Schwangerschaft • Second Life • Seelisches Leid • Seminar • Social Media • Sri Lanka • Sterben • Stiefmutterschaft • Studie • Sucht • Transit • Trennung • Trost • Verbundenheit • Verkörpern • Verlangen • virtuell • Wiedergeburt • Wirklichkeit • Zerstörung • Zeugenschaft
ISBN-10 3-446-27014-0 / 3446270140
ISBN-13 978-3-446-27014-5 / 9783446270145
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