Dein ist die Lüge (eBook)
352 Seiten
S. Fischer Verlag GmbH
978-3-10-491389-6 (ISBN)
Linda Castillo wuchs in Dayton im US-Bundesstaat Ohio auf, schrieb bereits in ihrer Jugend ihren ersten Roman und arbeitete viele Jahre als Finanzmanagerin, bevor sie sich ganz dem Schreiben widmete. Der internationale Durchbruch gelang ihr mit »Die Zahlen der Toten« (2010), dem ersten Kriminalroman mit Polizeichefin Kate Burkholder. Linda Castillo kennt die Welt der Amischen seit ihrer Kindheit und ist regelmäßig zu Gast bei amischen Gemeinden. Die Autorin lebt heute mit ihrem Mann und zwei Pferden auf einer Ranch in Texas.
Linda Castillo wuchs in Dayton im US-Bundesstaat Ohio auf, schrieb bereits in ihrer Jugend ihren ersten Roman und arbeitete viele Jahre als Finanzmanagerin, bevor sie sich ganz dem Schreiben widmete. Der internationale Durchbruch gelang ihr mit »Die Zahlen der Toten« (2010), dem ersten Kriminalroman mit Polizeichefin Kate Burkholder. Linda Castillo kennt die Welt der Amischen seit ihrer Kindheit und ist regelmäßig zu Gast bei amischen Gemeinden. Die Autorin lebt heute mit ihrem Mann und zwei Pferden auf einer Ranch in Texas. Helga Augustin hat in Frankfurt am Main Neue Philologie studiert. Von 1986 - 1991 studierte sie an der City University of New York und schloss ihr Studium mit einem Magister in Liberal Studies mit dem Schwerpunkt ›Translations‹ ab. Die Übersetzerin lebt in Frankfurt am Main.
Auch der bereits zwölfte Band überzeugt durch einen durchgehenden spannenden Schreibstil und eine gelungene Story.
Prolog
Sie hatte gewusst, dass sie irgendwann kommen würden. Dass es mitten in der Nacht passieren würde, überfallartig und brutal. Sie wusste aber auch, dass sie trotz all des Trainings, trotz mentaler und körperlicher Vorbereitung, in dem Moment nicht darauf gefasst wäre.
Etwas hatte sie geweckt. Ein kaum hörbares Geräusch – das Klicken einer behutsam geschlossenen Autotür, das Knirschen von Schritten im Schnee oder das Kratzen von Schuhsohlen auf Steinstufen. Vielleicht war es auch eine Veränderung in der Luft, ähnlich der statischen Aufladung kurz vor einem Blitz.
Ihr Verstand begann zu arbeiten. Sie rollte sich aus dem Bett und hatte kaum die Füße auf den Boden gesetzt, als die Haustür donnernd aufflog. Mit einem Griff zum Nachttisch hatte sie die Sig Sauer P320 Nitron in der Hand, eine lebensrettende Kugel im Lauf und siebzehn im Magazin. Dutzende Füße trampelten übers Wohnzimmerparkett.
Stimmengewirr, dann: »Polizei! Auf den Boden! Hände über den Kopf! Sofort!«
Mit zwei Schritten war sie an der Schlafzimmertür, schlug sie zu und schob den Riegel vor. Sie wirbelte herum, riss die Jacke vom Stuhl, fuhr mit einem Arm in den Ärmel und hob ihn schützend vor den Kopf, sprintete zum Fenster und hechtete kopfüber hindurch. Glas splitterte und Holz krachte, begleitet vom Schmerz rasiermesserscharfer Schnitte.
Sie knallte mit der Schulter auf den Boden, rang um Luft, überall war Schnee, im Gesicht, im Kragen, im Mund. Spuckend rappelte sie sich hoch und lief geduckt los, alle Sinne auf ihre Umgebung konzentriert. Sie steuerte auf die Hecke am Maschendrahtzaun zu, folgte DEM PLAN, den sie in den letzten Tagen Tausende Male durchgespielt hatte. Aus dem sternenlosen Himmel fiel Schnee. Beim Blick zurück sah sie parkende Autos an der Straße, ohne Licht. Das war typisch für unangekündigte Hausdurchsuchungen. Oder irrte sie sich vielleicht?
Sie hatte fast den Weg hinter ihrem Grundstück erreicht, als zehn Meter vor ihr aus dem Hof nebenan eine Gestalt auftauchte und mit klirrendem Equipment in ihre Richtung lief. »Halt! Polizei! Stehen bleiben!«
Sekundenschnell registrierte sie die Details: Mann, groß, schwarz gekleidet; Jacke mit POLIZEI-Aufdruck, Beretta Kaliber 9 mm im Anschlag.
»Hände hoch! Runter auf den Boden!« Seine Waffe war auf sie gerichtet, und er fuchtelte mit der linken Hand: »Runter! Auf den Boden! Sofort!«
Sie hob die Sig – und erkannte, dass es der Neuling war, ein junger, guter Kerl. Sie murmelte seinen Namen, spürte, dass die Entscheidung, die sie jetzt treffen würde, ihr schwer zu schaffen machte. »Tu’s nicht«, flüsterte sie.
Sein Mündungsfeuer blitzte auf. Die Kugel traf ihre Schulter, hart wie der Schlag eines Baseballschlägers, und sie wurde herumgewirbelt. Wie ein glühender Schürhaken wütete der Schmerz zwischen Schlüsselbein und Bizeps, und mit einem animalischen Stöhnen sank sie aufs Knie.
Steh auf. Steh auf. Steh auf.
Aus dem Augenwinkel sah sie, wie er einen Schritt zurück trat und die Waffe sinken ließ. Jetzt stand er reglos da und sah sie einen Moment zu lange an. »Waffe fallen lassen! Runter auf den Boden. Herrgott nochmal, es ist vorbei!« Dann schrie er in sein Ansteckmikro.
Sie raffte sich auf, rannte das letzte Stück bis zur Hecke, und trotz des schlimmen Schmerzes im ganzen Körper schienen ihre Füße kaum den Boden zu berühren. Als sie den Drahtzaun übersprang, setzte donnernder Kugelhagel ein, und sie rechnete die ganze Zeit damit, dass eine Kugel sie im Rücken traf.
Dann erreichte sie den Weg. Keine Polizeilichter, alles war ruhig. Von Adrenalin getrieben, sprintete sie über den schmalen Streifen Asphalt, überwand den Zaun zum Nachbargrundstück und rannte zur Garagentür. Sie drehte am Knauf, stieß die Tür auf und stürzte hinein, schlug sie hinter sich zu. Schwer atmend lief sie zum Pick-up, riss die Tür auf und schob sich auf den Sitz, ignorierte die Schmerzen in der Schulter und die Befürchtung, dass sie schwer verwundet war – und auch die kleine Stimme, die flüsterte, dass DER PLAN scheitern würde.
Mit zitternder Hand zog sie den Schlüssel hervor, stieß ihn ins Zündschloss, ließ den Motor an, legte den Rückwärtsgang ein und trat aufs Gaspedal. Der Pick-up machte einen Satz nach hinten, gefolgt von einem explosionsartigen Schlag, als er mit Stoßstange und Ladefläche das Metalltor aus der Führung rammte, auf den Weg schleuderte und mit den Hinterrädern überrollte.
Sie riss das Lenkrad herum, rote Lichter tauchten im Rückspiegel auf, sie drehte sich nach hinten und feuerte sechs Kugeln durchs Rückfenster. Tausende feine Risse durchzogen das Glas, der Geruch von Schießpulver hing in der Luft, und in ihren Ohren klingelten die Schüsse. Sie rammte den Gang ein und trat aufs Gas, fuhr ohne Licht und schnell, zu schnell, fegte eine Mülltonne um und übersteuerte so stark, dass der Wagen heftig schlingerte und sie um ein Haar die Gewalt darüber verloren hätte. Doch sie brachte ihn gerade noch rechtzeitig unter Kontrolle und schaffte es im letzten Moment, abzubiegen. Auf der Straße jagte sie den Tacho auf einhundertdreißig km/h hoch, überfuhr das Halteschild an der Ecke und raste weiter.
Ein paar Sekunden lang war sie ein Tier auf der Flucht, panisch, gejagt von einer Bestie, die Blut gerochen hatte. Das Herz schlug ihr bis zum Hals, und sie hörte nichts weiter als ihren keuchenden Atem und die Panik, die durch ihre Adern rauschte. Das Wissen, dass es kein Zurück gab, ließ sie am ganzen Körper erzittern, ihr Verstand hatte ausgesetzt und war der Sorge gewichen, die Schwere ihrer Verletzung nicht einschätzen zu können. Denn sie wusste, es war noch nicht vorbei – der Albtraum, den sie seit Wochen hatte kommen sehen, nahm gerade erst seinen Lauf.
In der James Road rammte sie einen Bordstein, drosselte das Tempo auf etwas über die erlaubte Höchstgeschwindigkeit, zwang sich zur Ruhe und heftete den Blick weiter in den Rückspiegel. Keiner wusste von dem Pick-up. Sie musste bloß ruhig bleiben und schnellstens raus aus der Stadt. Als sie die Idee dazu gehabt hatte, schien ihr das ein guter Plan.
Als das Adrenalin sank, stieg der Schmerz. Ihre Schulter pochte im Rhythmus ihres Herzschlags, und sie warf einen Blick darauf: Das Blut hatte ihr Shirt durchtränkt, ihre Jacke – noch immer nur halb angezogen –, und tropfte unablässig neben ihrer Hüfte auf den Sitz. Das viele Blut machte ihr Angst, denn auch, wenn nichts gebrochen war – sie konnte den Arm noch bewegen –, könnte die Verletzung schwer und möglicherweise lebensbedrohlich sein, wenn sie kein Krankenhaus aufsuchte. Aber sie wusste, dass jedes Krankenhaus gesetzlich verpflichtet war, Schussverletzungen der Polizei zu melden. Im Moment blieb ihr keine andere Wahl als weiterzufahren.
Nach einem Blick in den Rückspiegel bog sie rechts ab in die Broad Street und fuhr weiter Richtung Osten, betete, dass ihr kein Polizeiauto begegnete. Selbst wenn sie ihr Kennzeichen nicht kannten und auch keine Beschreibung ihres Fahrzeugs hatten, würde es schwer werden, für die Schusslöcher im Rückfenster und das viele Blut eine plausible Erklärung zu liefern.
Als sie den Stadtrand von Columbus erreichte, schneite es heftig. Auch der Wind hatte zugenommen und fegte die Schneeflocken von der Seite her über die Straße. Es würde nicht lange dauern, bis der Schnee liegen blieb, und obwohl sie rutschige Straßen nicht mochte, und wegen der verletzten Schulter schon gar nicht, kämen sie ihr in diesem Fall vielleicht sogar zugute. Denn wenn sich die Highway-Patrol um Autounfälle kümmern musste, hatte sie weniger Zeit, sie zu suchen. Zudem würden deren Polizisten – im Gegensatz zu den anderen, die ebenfalls hinter ihr her waren – ihr keine Handschellen anlegen, sie nicht in ein Kornfeld zerren und ihr eine Kugel in den Kopf jagen. Sie brauchte Hilfe, doch wem konnte sie vertrauen?
Zweimal hatte sie ihr Handy genommen, um jemanden anzurufen, und zweimal hatte sie es zurück in die Konsole gelegt, weil ihr niemand einfiel. Die Erkenntnis, dass sie fünfunddreißig Jahre alt war und in ihrem ganzen Leben kaum enge Freundschaften gepflegt hatte und es niemanden gab, den sie um Hilfe bitten konnte, machte sie unendlich traurig.
Immerhin hatte, allen Widrigkeiten zum Trotz, DER PLAN funktioniert: Sie hatte es aus dem Haus und in ihr Auto geschafft. Aber wie absurd war es, sich kein Ziel zu überlegen? Hatte sie etwa geglaubt, gar nicht lange genug zu überleben, um eins zu brauchen?
Sie fuhr auf der Broad Street vorbei an Reynoldsburg und durch die Gegend um Pataskala, dann bog sie nach Norden auf eine weniger befahrene Landstraße ab. Als sie die Peripherie von Newark, Ohio, erreichte, schneite es so stark, dass die Sicht immer schlechter wurde. Auch ihr Arm blutete unvermindert weiter, und mit jeder Meile wuchs die widerliche Lache auf ihrem Sitz. Die Wunde pochte zwar nicht, und das Blut spritzte auch nicht heraus, so dass vermutlich keine Gefäße lebensgefährlich verletzt waren, doch wegen des Schmerzes und Schocks war ihr übel und schwindlig.
Als sie schließlich die Ohio State Route 16 in Richtung Osten erreichte, raste ihr Herz, sie fror in ihrer Jacke, und die Hände am Lenkrad waren nass und zitterten. Als wäre das nicht schon schlimm genug, konnte sie jetzt kaum mehr als ein paar Meter weit sehen und kam zermürbend langsam voran. Drei Stunden waren seit der Flucht aus ihrem Haus verstrichen. Anfangs war sie gut vorangekommen und hatte über fünfzig Meilen Abstand zu ihren Verfolgern...
Erscheint lt. Verlag | 28.7.2021 |
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Reihe/Serie | Kate Burkholder ermittelt | Kate Burkholder ermittelt |
Übersetzer | Helga Augustin |
Verlagsort | Frankfurt am Main |
Sprache | deutsch |
Themenwelt | Literatur ► Krimi / Thriller / Horror ► Krimi / Thriller |
Schlagworte | Amische • Amish • Brennendes Grab • Der 12. Fall für Kate Burkholder • John Tomasetti • Kate Burkholder • Korruption • Linda Castillo • Ohio • Ohio, USA • Polizeichefin • Polizeigewalt • Quälender Hass • Schneesturm • Spannende Unterhaltung • USA • weibliche Ermittler |
ISBN-10 | 3-10-491389-7 / 3104913897 |
ISBN-13 | 978-3-10-491389-6 / 9783104913896 |
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