Verrückt (eBook)
336 Seiten
Verlagsgruppe Droemer Knaur
978-3-426-45562-3 (ISBN)
Sabine Fitzek arbeitete nach dem Medizinstudium an den Universitäten Berlin, Erlangen, Mainz und Jena, wo sie sich im Fach Neurologie habilitierte. Danach war sie mehr als zehn Jahre lang als Chefärztin tätig. Heute ist sie Inhaberin einer neurologischen Praxis und schreibt nebenher über gesundheitspolitische Missstände, mit denen sie unfreiwillig immer wieder in Berührung kam und kommt. Überdies berät sie gelegentlich ihren Schwager Sebastian Fitzek zum Thema psychische Extremzustände.
Sabine Fitzek arbeitete nach dem Medizinstudium an den Universitäten Berlin, Erlangen, Mainz und Jena, wo sie sich im Fach Neurologie habilitierte. Danach war sie mehr als zehn Jahre lang als Chefärztin tätig. Seit einem Jahr ist sie freischaffend und begann über gesundheitspolitische Missstände zu schreiben, mit denen sie unfreiwillig immer wieder in Berührung kommt. Überdies berät sie gelegentlich ihren Schwager Sebastian Fitzek zum Thema psychische Extremzustände.
6
Während Kammowski Abendbrot machte, hing Charlotte mal wieder vor dem Fernseher. Sie hatte sich in einer amerikanischen Serie festgebissen, sah eine Folge nach der anderen, manchmal schon mittags, wie Kammowski argwöhnte. Sie schlief sehr lange. Und wenn er abends nach Hause kam, war sie meist schon weg. Aber er fand nicht selten ihre leeren Chipstüten und Colaflaschen vor dem Fernseher vor. Sie lebten irgendwie aneinander vorbei. Woher sie nur diese Stapel von Serien-DVDs hatte? Charlotte war enttäuscht gewesen, dass Kammowski kein Netflix abonniert hatte. In Köln hatte sich Elly bisher auch nicht erweichen lassen.
»Papa, Netflix brauchen wir. Fernsehen ist total out, ist doch besser, wenn man ganz gezielt einen Film streamt, als das Fernsehprogramm zu konsumieren.«
»Ich sehe kaum fern. Und wenn ich ganz gezielt einen Film sehen will, gehe ich ins Kino«, hatte Kammowski geantwortet, obwohl er selbst tatsächlich schon darüber nachgedacht hatte, Netflix oder Amazon Prime zu abonnieren.
Kammowski betrachtete Charlotte, wie sie da so auf der Couch lag, im weißen Bademantel mit roten Herzen darauf, das Handtuch als Turban um den Kopf gewickelt, und gebannt dieser dämlichen Anwaltsserie folgte. Eine große Zärtlichkeit machte sich in ihm breit. So war es früher oft gewesen. Er hatte ihnen Abendbrot gemacht, und die Kinder, Charlotte und Anian, durften nach dem abendlichen Bad noch eine halbe Stunde Sandmann schauen. Anian machte in zwei Jahren sein Abitur, und auch Charlotte ging nicht mehr um 19 Uhr ins Bett. Sie vertrieb sich nur die Zeit, das Berliner Klubleben startete nicht vor 23 Uhr.
Nach dem Abendbrot räumte Kammowski auf und brachte den Müll in den Hof. Bei den Mülltonnen traf er Frau Beckmann, eine nette Frau, mit der er immer gerne ein paar Worte wechselte. Kennengelernt hatten sie sich nicht als Nachbarn. So ein Berliner Mietshaus konnte recht anonym sein, Kammowski pflegte zu niemandem engeren Kontakt. Frau Beckmann hatte er kennengelernt, als sie noch in der Wäscherei und Reinigung arbeitete, zu der Kammowski seine Bügelwäsche brachte. Als die Reinigung schloss, hatte sich die Nachbarin angeboten, weiterhin für Kammowski zu arbeiten. Sie war ja schon berentet, und er konnte sie unkompliziert als Haushaltshilfe über das Haushaltsscheckverfahren melden. Das war sehr praktisch, weil sie im selben Haus wohnte und auch bereit war, Kater Churchill zu versorgen, wenn Kammowski verreist war.
Kammowski mochte Frau Beckmann inzwischen sehr gerne. Sie war eine freundliche kleine Frau mit kurzen, blond gefärbten Haaren mit roten Strähnen, die Lebensfreude, Zuversicht und Tatkraft ausstrahlte. Sie gehörte zu den seltenen Menschen, die von einer Aura der Wärme und Zuversicht umgeben schienen und freizügig davon abgaben. Obwohl sie es, wie Kammowski wusste, nicht immer einfach gehabt hatte. Sie hatte ihm einmal erzählt, dass sich ihr Mann schon vor Jahren das Leben genommen hatte. Er sei psychisch krank gewesen. Sie selbst hatte ihr Leben lang gearbeitet, zwei Kinder großgezogen und bezog jetzt eine sehr kleine Rente. Um sich ein Auskommen zu sichern, arbeitete sie nebenher in verschiedenen Jobs. Kammowski fand, es sei nicht richtig, dass man neben seiner Rente noch arbeiten musste, um über die Runden zu kommen. Aber sie lachte dann immer und sagte, sie arbeite doch gerne, und nicht selten verkündete sie, sie habe gerade Kuchen fürs Wochenende gebacken, und weil man mit zwei Kuchen nicht mehr Arbeit hätte als mit einem, hätte sie für Kammowski gleich einen mit gemacht. Er müsse ihn sich nur abholen.
Heute hatte Frau Beckmann keinen Kuchen, und sie war auch nicht auf Schwätzen aus. Sie wirkte bedrückt. Während sie gemeinsam die Treppen hinaufstiegen, erzählte sie Kammowski, dass ihr Sohn vor einigen Wochen wieder bei ihr eingezogen sei. Kammowski erinnerte sich vage an einen jungen Mann, den er im Treppenhaus getroffen hatte und nicht hatte zuordnen können. Aber das Haus war groß, und viele Menschen gingen hier ein und aus.
»Herr Kommissar, wollen Sie vielleicht noch auf einen Tee hereinkommen?«
Kammowski zögerte. Frau Beckmann schien etwas auf der Seele zu liegen, das war offensichtlich, aber er war sich nicht sicher, ob er davon wissen wollte, so sympathisch ihm die Frau auch war. Er hielt eine freundliche Distanz nach wie vor für die beste Form guter Nachbarschaft.
»Gerne«, sagte er und folgte ihr in die Wohnung. »Aber sagen Sie doch einfach Herr Kammowski zu mir.«
Und dann, während Frau Beckmann den Tee kochte, berichtete sie erst stockend, dann immer gelöster von ihren Sorgen. Sie war so dankbar, einen Zuhörer gefunden zu haben. »Oliver ist krank. Er hat paranoide Schizophrenie. Die ersten Symptome stellten sich bei ihm mit achtzehn Jahren ein. Das war ein großer Schock für uns, und doch haben wir noch lange die Augen davor verschlossen. Wir hatten immer gedacht, er brauche eben noch Zeit, um erwachsen zu werden. Jungen sind doch manchmal Spätzünder. Wie das dann so ist. Man findet immer wieder Entschuldigungen und Erklärungen für auffälliges Verhalten. Aber irgendwann, da war er so Mitte zwanzig, kam der Tag, an dem wir uns vor der Wahrheit nicht mehr verstecken konnten.« Sie zögerte einen Moment und sann vor sich hin. »Wissen Sie, Herr Kommissar, Oliver hat eine große musikalische und künstlerische Begabung, er hätte Pianist oder Maler werden können. Das hat er von seinem Vater, der hat auch so schön Klavier spielen können.«
Daher kam also neuerdings die Musik im Haus, dachte Kammowski
»Er hat das Musikstudium noch angefangen, aber mit Beginn der Erkrankung war seine berufliche Karriere vorbei.« Sie suchte nach einem Taschentuch und schnäuzte sich. »Entschuldigen Sie bitte, Herr Kommissar.«
Kammowski wusste nicht, was er erwidern sollte. Er nahm einen Schluck von seinem Tee und verbrannte sich die Zunge.
Frau Beckmann fuhr mit ihrer Erzählung fort. »Mein Mann wollte nie Kinder. Wir waren beide nicht mehr so ganz jung, als wir heirateten. In meinem Alter bekam man damals eigentlich keine Kinder mehr. Und mein Mann hat sich, wie gesagt, gegen Kinder gesträubt. Nicht, weil er keine mochte oder die Verantwortung scheute. Nein, aber er hatte ja selbst diese Krankheit und große Angst, dass die Kinder das auch bekommen könnten.«
Sie schwieg eine Weile, und wieder durchzog ein leiser Seufzer ihren Körper. »Aber ich habe mir so sehr Kinder gewünscht, und die Ärzte haben auch gesagt, dass es nicht unbedingt heißt, dass auch die Kinder eine Psychose bekommen werden. Da müssten viele Dinge zusammenkommen, haben sie gesagt. Die Vererbung sei nur ein Faktor unter vielen. Also habe ich das einfach verdrängt. Ich bin vielleicht egoistisch gewesen, aber ich wollte doch so gerne eine richtige Familie haben.«
Sie schwieg und rührte in ihrem Tee herum. Tränen ließen ihre Augen unnatürlich glänzen. Sie tupfte sie mit einem Taschentuch energisch weg und richtete sich auf. Einer Schwäche nachzugeben gehörte nicht zu Frau Beckmanns Eigenschaften. Sie hat etwas Aristokratisches an sich, dachte Kammowski und meinte damit nicht ein Herkunftsprivileg, sondern die Haltung, sich von den Widrigkeiten des Alltags nicht runterziehen zu lassen. Das mochte er so an ihr.
»Als klar war, dass Oliver wie sein Vater an einer paranoiden Schizophrenie erkrankt war, hat sich mein Mann das Leben genommen.«
»Oh!« Kammowski war schockiert. Das war wirklich eine tragische Geschichte. Aber er fühlte sich auch unwohl in seiner Haut. Er war kein Psychotherapeut. Frau Beckmann hatte wohl seinen irritierten Gesichtsausdruck gesehen.
»Nein, nein, das war natürlich nicht der einzige Grund. Er war einfach selbst sehr krank und konnte die Belastung nicht aushalten. Der Ausbruch von Olivers Psychose hat nur das Fass zum Überlaufen gebracht. Er hat sich die Schuld gegeben, und ich habe mir immer gedacht, wenn ich nicht auf Kindern bestanden hätte, dann hätte es mit meinem Mann vielleicht auch nicht so ein schlimmes Ende nehmen müssen.«
»Das ist jetzt schon einige Jahre her?«, fragte Kammowski in der vagen Hoffnung, dass der Hinweis auf die lange Zeitspanne, die seit dem Ereignis inzwischen vergangen war, etwas von der emotionalen Spannung dieses Moments nehmen konnte.
»Ja, mehr als zehn Jahre. Oliver ist jetzt vierunddreißig Jahre alt. Und eigentlich ging es mit seiner Krankheit eine ganze Weile lang gut. Es gab zwar immer wieder Rückfälle, aber er konnte arbeiten, hatte eine eigene Wohnung. Doch jetzt will er sich auf einmal nicht mehr behandeln lassen. Behauptet, dass die Medikamente an allem schuld sind. Er hat die Arbeit verloren und inzwischen auch die Wohnung. Deshalb wohnt er jetzt wieder bei mir.«
»Das ist ja furchtbar. Was sagen denn seine Ärzte dazu?« Kammowski hätte sich am liebsten auf die Zunge gebissen, seine Erwiderung kam ihm so abgeschmackt, so nichtssagend, so wenig empathisch und so unecht vor. Ihm fehlten einfach die richtigen Worte. Aber Frau Beckmann schien nicht dieser Ansicht zu sein, sondern fuhr mit ihrer Erzählung fort.
»Nichts, stellen Sie sich das vor. Die sagen einfach, wenn er sich nicht behandeln lassen will, dann ist das seine Entscheidung. Der Junge kann doch gar nicht entscheiden. Dazu ist er doch gar nicht in der Lage. In den letzten Monaten war er oft in der Klinik. Die nehmen ihn zwar immer wieder auf, aber wenn er dann sagt, dass er keine Behandlung will, entlassen sie ihn einige Tage später wieder. Und dann stehe ich wieder allein da mit dem Problem, kann sehen, wie ich mit ihm klarkomme.«
Ein Anflug von Aufbegehren hatte sich jetzt in ihre sonst so sanfte Stimme geschlichen. Kammowski wusste immer noch nicht, was er sagen sollte.
»Das...
Erscheint lt. Verlag | 28.10.2020 |
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Reihe/Serie | Kammowski ermittelt | Kammowski ermittelt |
Verlagsort | München |
Sprache | deutsch |
Themenwelt | Literatur ► Krimi / Thriller / Horror ► Krimi / Thriller |
Schlagworte | Berlin • Ermittler-Krimi • ermordetes Mädchen • Fitzek • Fitzek Bücher • Gesundheitssystem • Kommissar Kammowski • Krankenhaus Krimis/Thriller • Krimi • krimi berlin • Krimi Bücher • Krimi deutsche Autoren • Krimi Deutschland • Kriminalpsychologie • Kriminalromane Serien • krimi reihen • Krimis von Frauen • krimi und thriller • Krimi und Thriller deutsch • Matthias Kammowski • Medizin Krimi • Mord • Mörder • mörderischer Roman • Mord-Ermittlung • Paranoide Schizophrenie • Patient • Polizei Krimis/Thriller • Psychiatrie • Psychisch krank • psychologische Krimis • Psychologischer Krimi • psychotische Schübe • Sabine Fitzek • Schizophren • Schizophrenie • Spannende Unterhaltung • Unschuldig • Verrat • Verrückt • Verrückter • Verstorben |
ISBN-10 | 3-426-45562-5 / 3426455625 |
ISBN-13 | 978-3-426-45562-3 / 9783426455623 |
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