Herkules am Spinnrad (eBook)
176 Seiten
Carl Hanser Verlag GmbH & Co. KG
978-3-446-26862-3 (ISBN)
Edi Zollinger ist ein Meister der Entschlüsselung von Literatur und Kunst. Brillant enträtselt er Bilder von Velázquez und Rubens bis zu Goya und Picasso, macht dabei mit verblüffenden Entdeckungen einen geheim gesponnenen Faden sichtbar, der immer wieder zurückführt zu Arachne, der Mutter der Mal- und Dichtkunst. Denn dass diese sich das Werk aus dem Bauch zieht wie die Mutter das Kind, wird zum Problem für all ihre männlichen Nachkommen - und so muss sogar der Held Herkules schließlich ans Spinnrad! Eine inspirierende Zeitreise für alle Liebhaber von Kunst und Literatur, ein detektivischer Blick auf Bilder und Bücher, die man zu kennen glaubte.
Edi Zollinger, 1969 in Zürich geboren, ist Privatdozent für Französische und Vergleichende Literaturwissenschaft an der Ludwig-Maximilians-Universität München und lehrt Deutsch an der Kantonsschule Küsnacht (ZH). Außerdem ist er regelmäßiger Kritiker der NZZ. Zuletzt erschienen: „Proust – Flaubert – Ovid: Der Stoff, aus dem Erinnerungen sind“ (2013) und „Arachnes Rache. Flaubert inszeniert einen Wettkampf im narrativen Weben“ (2007). Bei Hanser erscheint 2020 Herkules am Spinnrad. Rubens – Velázquez – Picasso (Edition Akzente).
Prolog mit Arachne
Diego Angulo macht eine Entdeckung: Der Wandteppich im Hintergrund der Hilanderas zeigt das erste Motiv von Arachnes Teppich. Tizians Raub der Europa. Schon Rubens hat ihn kopiert. Der Arachne-Mythos als Geschichte über künstlerische Tradition. Velázquez hat Ovid genau gelesen. – Es kann losgehen.
Rasend schnell saust das Spinnrad um seine Achse. Die Speichen verwischen zur durchsichtigen Scheibe, man sieht sie und sieht hindurch, wie durch ein Spinnennetz. Die Spinnerin, eine ältere Frau mit weißem Kopftuch und nackten Beinen, dreht das Rad mit ihrer rechten Hand, während sie mit der linken die Wolle vom Rocken löst. Ihr gegenüber wickelt eine junge Frau Garn von der Haspel zu einem Knäuel. Und zwischen den beiden liest eine Arbeiterin Wollflocken vom Boden auf. Wir sind offensichtlich in einer Spinnerei.
Hinter den Arbeiterinnen, es sind insgesamt fünf, scheinen sich drei elegante Damen für einen gewobenen Teppich zu interessieren, der an der Rückwand eines hell erleuchteten, bühnenartigen Raumes hängt. Zwei der drei Damen blicken auf den Wandteppich, die dritte schaut gerade über die Schulter zurück und den Betrachtenden direkt ins Gesicht. Was der Teppich zeigt, ist nur halb zu sehen. Recht gut erkennt man zwei Putten, die von links oben ins Bild fliegen. Unten rechts kann man den Kopf eines weißen Stiers erahnen, und da flattert wohl ein rotes Tuch im Wind. Direkt vor dem Teppich stehen zwei weitere Figuren. Die eine trägt einen Helm und hält einen dünnen Stab in die Höhe, die andere, eine junge Frau, breitet etwas ratlos die Arme aus. Oder stehen die beiden gar nicht vor dem Teppich, sondern sind auf diesem selbst abgebildet?
Diego Velázquez, Las Hilanderas, um 1657, Prado, Madrid.
Las Hilanderas heißt das Bild. Es ist von Diego Velázquez und hängt im Prado in Madrid. Heute ist es weltberühmt, lange Zeit hat sich aber niemand besonders dafür interessiert. Man wusste nicht recht, was man mit ihm anfangen sollte. Noch zu Beginn des 20. Jahrhunderts glaubten seine Betrachterinnen und Betrachter, irgendeine unbedeutende Szene in einer Teppichmanufaktur vor sich zu haben. Doch dann zog ihnen Diego Angulo Íñiguez den Schleier von den Augen.1 Ihm war aufgefallen, dass Velázquez den Wandteppich im Hintergrund nach einem berühmten Vorbild, einem Gemälde von Tizian, gemalt hatte. Und dank dieser Entdeckung begannen sich gleichsam die Fäden der Leinwand zu öffnen – der Blick hinter die Hilanderas, auf eine zweite Bedeutungsebene des Bildes, wurde frei.
Der Teppich im Hintergrund der Hilanderas zeigt Tizians Raub der Europa. Wir sehen Jupiter als Stier und auf seinem Rücken die verzweifelte Königstochter. Ganz so, wie Ovid die Szene im zweiten Buch der Metamorphosen beschreibt.2 Europa schaut über die Schulter zu ihren Freundinnen am Strand zurück, während sie sich mit einer Hand an einem Horn des Stiers festklammert. So schwimmen die beiden übers Meer. Begleitet werden sie von drei Putten, die in Ovids Version der Geschichte allerdings nicht vorkommen. Eine Putte reitet auf dem Rücken eines Fisches, die zwei anderen fliegen am Himmel hoch mit.3
Tizian, Der Raub der Europa, 1560–1562, Isabella Stewart Gardner Museum, Boston.
Als Angulo das Motiv auf dem Wandteppich im Hintergrund der Hilanderas identifiziert hatte, fiel es ihm wie Schuppen von den Augen. Plötzlich war ihm klar, was Velázquez’ Bild neben einer Teppichmanufaktur auch noch zeigt und um wen es sich bei der behelmten Figur und der jungen Frau handelt, die für ihn beide direkt vor dem Teppich stehen. Die beiden konnten nur Minerva und Arachne sein. Der Raub der Europa ist die erste Szene, die Arachne in ihrem mythischen Wettkampf mit der Göttin der Webkunst ihrem Teppich einwebt. Auch diese Geschichte erzählt Ovid in den Metamorphosen, in deren sechstem Buch.4
Arachne, liest man dort, ist eine Lyderin, die so gut weben kann, dass sie es sogar mit Minerva, der Göttin des Handwerks, aufnehmen will. Es kommt zum Wettkampf um die Krone der Webkunst, in dem beide, die Göttin und das Mädchen, je einen Teppich mit alten Geschichten weben: »et vetus in tela deducitur argumentum«5, heißt es.
Minerva zeigt ihren Sieg über Neptunus. Und in die vier Ecken ihres Teppichs fügt sie zudem Bilder ein, die erzählen, wie es denen erging, die es schon vor Arachne gewagt hatten, die Götter herauszufordern. Es ging ihnen schlecht. Sie alle wurden zur Strafe für ihren Übermut verwandelt. Haemus und Rhodope, die sich als Jupiter und Juno ausgegeben hatten, versteinerten zum Beispiel zu Bergen. Schau her, sagt Minervas Teppich zu Arachne, nicht einmal der Meeresgott hat es geschafft, mich in einem Wettbewerb zu schlagen, wie willst das dann du, ein einfaches Mädchen, schaffen? Und übrigens, du dummes Ding, ganz nebenbei, in den Ecken, sag ich dir auch gleich schon, was für eine Strafe dich erwartet. Es wird dir nicht besser gehen als allen anderen Menschen, die es wagten, sich mit Göttern anzulegen. Auch du wirst zum Schluss zur Strafe verwandelt werden. – Minervas Teppich ist eine große Machtdemonstration und eine noch größere Drohgebärde an die Adresse der jungen Künstlerin.
Arachne hingegen webt Metamorphosen zur Lust. Sie zeigt auf ihrem Teppich verschiedene Gestalten, die die Götter annahmen, um schöne Frauen zu verführen. Als Erstes eben Jupiter als Stier mit Europa. Und Arachne webt so geschickt, dass sich Minerva zum Schluss nicht als Siegerin ausrufen kann. Das macht die Göttin furchtbar wütend. Sie zerreißt den lustvollen Stoff und sticht das Mädchen mit dem Webschiffchen in die Stirn. Dieses legt sich darauf den eigenen Webfaden um den Hals und will sich erhängen. Doch so mag Minerva die Geschichte nicht enden lassen. Arachne muss noch ihre Strafe erhalten. Also stützt sie das Mädchen und verwandelt es in eine Spinne. Seither, so schließt Ovid, müssen sich Arachne und alle ihre Nachkommen den Faden für ihre Gewebe aus dem eigenen Bauch ziehen.6
Der Arachne-Mythos ist nicht nur eine Geschichte darüber, wie die Spinnen entstanden sind, er wird auch als Urmythos der Schriftstellerei verstanden. Mit Arachnes Nachkommen sind in dieser Lektürevariante die Handlungsfäden verspinnenden Schriftstellerinnen und Schriftsteller gemeint, die in der Nachfolge des talentierten Mädchens Geschichtenteppiche weben – wörtliche Texte, vom lateinischen textus für Gewebe.7
Seit Minervas Fluch, so sieht es aus, darf nur noch die Göttin selbst mit Erzählsträngen aus alten Mythen arbeiten und die schönsten Geschichten, die je erzählt worden sind, neu weben. Die Schriftstellerinnen und Schriftsteller sind dazu verdammt, ihre Handlungsfäden wie die Spinne ihre Spinnseide aus sich selbst zu entwickeln. Und sie sollen, auch das gehört zu Minervas Plan, mit ihren dünnen, fast durchsichtigen Fäden nur noch nichtssagende, leere Gewebe herstellen können. Doch Arachnes Erben sind schlau. Sie haben einen Weg gefunden, sich über Minervas Gebot hinwegzusetzen und die leeren Stellen in ihrem Gewebe mit starkem Stoff zu füllen. Zwar ziehen sie seit dem göttlichen Spruch, wie es die Göttin verlangt, den Faden für ihre Erzählteppiche aus ihrem eigenen Innern, aber sie spinnen ihm dabei alles das ein, was sie davor auf der Netzhaut ihres lesenden Auges gefangen haben: alle alten Geschichten, die von den Großen der Weltliteratur bereits einmal erzählt worden sind. Sie haben die Werke ihrer literarischen Vorfahren aufgesogen, verdaut und zum frischen Garn versponnen, das sie jetzt wieder aus sich ziehen und zu neuen Geschichtenteppichen verweben. Und weil Arachnes Nachfahren mit fast unsichtbarem Faden arbeiten, so dass man die alten Geschichten in ihrem neuen Kleid kaum mehr erkennt, kommt ihnen Minerva nicht auf die Schliche.
Wie mit den Schriftstellern, die von ihr unbemerkt aus alten Mythen schöpfen, geht es Minerva auch mit Velázquez. Sie bemerkt nicht, dass dieser im Hintergrund seiner Hilanderas einen fast unsichtbaren Tizian versteckt hat, der das erste Motiv von Arachnes Teppich zeigt. Und sie übersieht, wie lange Zeit auch alle anderen Kunstbetrachterinnen und Kunstbetrachter, dass Velázquez mit seinem Spinnerinnen-Bild selbst eine Neuauflage der alten Geschichte vom Wettkampf um die Krone der Webkunst gemalt hat. Velázquez zeigt Arachne und Minerva vor dem Teppich mit Europa und dem Stier, dem schönsten Stoff, der je gewoben wurde und dem eigentlich der Sieg gehört hätte. Und er zeigt die Göttin, die bereits mit dem Webschiffchen ausholt, um das talentierte Mädchen damit zu stechen.8
Auf den Hilanderas führt Velázquez die Maler und die Dichter auf eine gemeinsame Vorfahrin zurück. Bei ihm, so eine mögliche Deutung, erzählt Tizian als Maler in Arachnes Tradition auf seiner gewobenen Leinwand die erste Geschichte nach, die Arachne damals schon bei Ovid gewoben hat. Eine Geschichte, die Velázquez jetzt auf seinen Hilanderas mit fast durchsichtigem Faden noch einmal webt. – So wird aus einer Urgeschichte der Schriftstellerei ein Urmythos der Malkunst.
Seit Angulos Entdeckung, was Velázquez’ Gemälde auch noch zeigt, ziehen die Hilanderas die Interpretinnen und Interpreten an wie der klebrige Sonnentau die Fliegen. Und viele von ihnen kommen gar...
Erscheint lt. Verlag | 19.10.2020 |
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Sprache | deutsch |
Themenwelt | Literatur ► Essays / Feuilleton |
Schlagworte | Goya • Kunst • Künstler • Literatur • #ohnefolie • ohnefolie • Picasso • Velasquez • Victor Hugo |
ISBN-10 | 3-446-26862-6 / 3446268626 |
ISBN-13 | 978-3-446-26862-3 / 9783446268623 |
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