Auf dem Weg zur deutschen Einheit (eBook)
224 Seiten
Rowohlt Verlag GmbH
978-3-644-00018-6 (ISBN)
Helmut Schmidt wurde 1918 in Hamburg geboren. 1946 trat er in die SPD ein, deren stellvertretender Bundesvorsitzender er von 1968 bis 1984 war. 1953 wurde er Mitglied des Deutschen Bundestags. Er wurde Innensenator in Hamburg (1961 - 1965) sowie Bundesminister der Verteidigung (1969 -1972), für Wirtschaft und Finanzen (1972), danach Bundesminister für Finanzen (1972 - 1974) und von 1974 bis 1982 Bundeskanzler. Seit 1983 war er Herausgeber der Wochenzeitung DIE ZEIT und hat zahlreiche Bücher veröffentlicht. Helmut Schmidt starb im November 2015 in Hamburg.
Helmut Schmidt wurde 1918 in Hamburg geboren. 1946 trat er in die SPD ein, deren stellvertretender Bundesvorsitzender er von 1968 bis 1984 war. 1953 wurde er Mitglied des Deutschen Bundestags. Er wurde Innensenator in Hamburg (1961 - 1965) sowie Bundesminister der Verteidigung (1969 -1972), für Wirtschaft und Finanzen (1972), danach Bundesminister für Finanzen (1972 - 1974) und von 1974 bis 1982 Bundeskanzler. Seit 1983 war er Herausgeber der Wochenzeitung DIE ZEIT und hat zahlreiche Bücher veröffentlicht. Helmut Schmidt starb im November 2015 in Hamburg.
Was jetzt in Deutschland geschehen muß
Dezember 1989
Seit dem Sommer dieses Jahres ändert sich die deutsche Lage in schnellem Tempo. Zum erstenmal in der deutschen Geschichte hat es eine Revolution gegeben, welche den Namen verdient. Seither und auch seit Helmut Kohls Zehn-Punkte-Programm vom 22. November hat sich die Lage schnell weiter entwickelt; durch Reaktionen in Washington, in Moskau, in Paris, in Warschau, in Malta, Kiew und Straßburg, in fast allen europäischen Hauptstädten. Vor allem in der DDR.
Die SED ist praktisch zusammengebrochen. Am 6. Mai 1990 soll gewählt werden; bis zur Bildung einer Regierung durch eine erstmalig frei gewählte Volkskammer werden noch mindestens fünf Monate vergehen. Bis dahin bleiben viele Unklarheiten über die Zukunft der deutschen Nation. Neue Ungewißheiten und Unklarheiten werden offenbar werden – auch nach dem 6. Mai. Eine schrittweise gegenseitige Annäherung der beiden deutschen Staaten durch Zusammenarbeit auf zusätzlichen Feldern und durch zusätzliche Institutionen ist wahrscheinlich. Sie ist dringend zu wünschen. Wer immer sich dagegen ausspräche, der könnte gefährlichen deutschen Nationalismus auslösen.
Was ist die notwendige Rang- und Reihenfolge? Das wichtigste ist die Herstellung einer vollen Garantie für Würde und Freiheit der Person, die Errichtung einer parlamentarischen Demokratie und eines zuverlässigen Rechtsstaates in der DDR. Schon vor dem 6. Mai sollten gewisse Paragraphen des DDR-Strafgesetzbuches gestrichen und die völlige Unabhängigkeit der Gerichte gesichert werden, damit nicht empörte Bürger zur Selbstjustiz greifen und das Land ins Chaos stürzen.
An zweiter Stelle muß für alle Deutschen die dringend gebotene Rücksichtnahme auf die Interessen der übrigen europäischen Völker, ihrer Staaten und ihrer Regierungen stehen. Wir Deutschen tragen die Last einer besonders ungünstigen geographischen Lage. Wir haben mehr Nachbarn als irgendein anderes Volk. Mit allen Nachbarn in gutem Einvernehmen zu leben ist deshalb für uns noch schwieriger als für die anderen Völker in Europa. Unter Hitler haben deutsche Soldaten vom Nordkap bis nach Nordafrika, von Madrid bis zum Kaukasus gekämpft, auf dem Boden von mehr als der Hälfte der Staaten Europas. Dabei sind grauenhafte Verbrechen geschehen. Wir dürfen uns nicht wundern, wenn heute in unseren Nachbarvölkern Besorgnisse sich zu Wort melden, nachdem es jetzt zum erstenmal seit 1945 möglich erscheint, daß die Deutschen ein gemeinsames Dach über sich errichten. Deshalb müssen wir darauf sinnen, wie wir unseren Nachbarn einen solchen Vorgang erträglich und für sie nützlich gestalten können.
Ob und wie weit der deutsch-deutsche Annäherungsprozeß geht, hängt zuallererst von den Deutschen in der DDR ab. Wahrscheinlich werden eine sich verschlechternde wirtschaftliche Lage in der DDR und das wirtschaftliche Gefälle den Wunsch mindestens nach einem gemeinsamen wirtschafilichen Dach bald erstarken lassen. Wir Westdeutschen werden dazu bereit sein. Viele von uns werden das Wort «Wiedervereinigung» vermeiden; denn was bedeutet «wieder?» Wir wollen ja nichts «wieder» so wie zu Hitlers Zeiten, auch nicht wie anno Weimar, auch nicht wieder wie in der Wilhelminischen Epoche.
Wir Westdeutschen sind voller Hoffnung bereit zur Gemeinsamkeit aller Deutschen. «Es wird zusammenwachsen, was zusammengehört», so mit Recht Willy Brandt. Das deutsche Interesse können wir jedoch nicht ohne die anderen verwirklichen. Deutscher Glaube kann keine Berge versetzen. Er darf Grenzen weder verschieben noch aufheben wollen; er darf es nicht um des Friedens willen. Mindestens drei kategorische Interessen anderer müssen wir berücksichtigen:
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das Interesse der Sowjetunion, ihren Weltmachtstatus und ihre Sicherheit in Europa strategisch zu sichern;
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die Besorgnis vieler Menschen in beiden Teilen Europas vor einer Wiederkehr des sowjetischen Imperialismus, gleich ob Gorbatschow gestürzt werden oder ob Perestrojka langfristig zur Erstarkung der Sowjetunion führen sollte;
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das gemeinsame Interesse fast aller anderen Europäer, vor einer späteren Wiederaufrichtung deutscher Hegemonie sicher zu sein.
Alle Interessen unter einen Hut zu bringen erscheint schwierig, aber es ist möglich. Mancherorts wird deshalb heute an Modellen oder Blaupausen für die Zukunft der Struktur Europas und der beiden Bündnisse gearbeitet. Einige der Modelle sind voreilig. Man soll nicht den zweiten Schritt vor dem ersten tun. Aber es gibt Prinzipien und Ziele, die nicht aus den Augen gelassen werden dürfen.
Das Selbstbestimmungsrecht, von den Vereinten Nationen mehrfach bekräftigt, gilt selbstverständlich auch für uns Deutsche. Die Helsinki-Schlußakte 1975 hat daran nichts geändert; der seitherige Helsinki-Prozeß und dessen von allen Beteiligten beabsichtigte Fortsetzung liegen im deutschen Interesse. Unabhängig davon gelten aber das Viermächteabkommen über Berlin sowie der Deutschland-Vertrag zwischen den drei Westmächten und der Bundesrepublik.
Die Sicherheitsinteressen aller Beteiligten verlangen nach einem Gleichgewicht der in Europa stationierten militärischen Kräfte, die Vernunft gebietet Absenkung der gegenwärtigen Zahlen durch Abrüstungsvertrag. Das hieraus resultierende gesamteuropäische Sicherheitssystem – die «Europäische Friedensordnung» – bedarf der Mitwirkung der Vereinigten Staaten und der Bündnissysteme in West und Ost. Eine Auflösung der militärischen Bündnissysteme sollte für den Rest des 20. Jahrhunderts nicht zur Debatte gestellt werden. Für den Fall einer schrittweisen Konföderation beider deutscher Teile kann für das Territorium der DDR ein besonderer militärischer Status zweckmäßig sein, aufgrund dessen dort für einen noch zu definierenden Zeitraum sowjetische Streitkräfte präsent bleiben.
Die demokratischen Staaten im östlichen Teil Europas bedürfen erheblicher wirtschaftlicher Hilfe durch die Europäische Gemeinschaft, damit sich die jungen Demokratien stabilisieren können. Die Europäische Gemeinschaft ist ein allgemeiner wirtschaftlicher Stabilitätsanker, sie ist zugleich das politische Gravitationszentrum des Kontinents. Wir Deutschen dürfen das Ziel der Wirtschafts- und Währungsunion und das Endziel der politischen Union nicht gefährden; nur als Mitglied der Europäischen Gemeinschaft können wir hoffen, die Besorgnisse unserer Nachbarn abzubauen. Die Europäische Gemeinschaft bedarf der Vertiefung, zum Beispiel durch das europäische System der Zentralbanken und durch gemeinsame Geld- und Währungspolitik, durch gemeinsame Außenpolitik und – hoffentlich eines nicht fernen Tages – durch gemeinsame Sicherheitspolitik. Vertiefung also, nicht Verwässerung.
Die wichtigsten unmittelbaren Nachbarn unseres Volkes sind die Franzosen und die Polen, danach kommen die Holländer, die Tschechen und alle anderen. Den Polen wie den Franzosen gegenüber haben wir politisch und psychologisch besondere Anstrengungen nötig.
Im Verhältnis zu Polen heißt dies: strikte und eindeutige Anerkennung der polnischen Westgrenze – ohne juristische Spitzfindigkeiten und ohne Wenn und Aber. Die Polen sind nicht schuld an der Westverschiebung ihres ganzen Volkes durch die Macht Stalins. Aber daß es dazu kommen konnte, das war eine Folge der deutschen Angriffe auf Polen und auf die Sowjetunion. Heute müssen wir endgültig unseren polnischen Nachbarn die Sorge nehmen vor der Möglichkeit einer abermaligen Grenzverschiebung. Die Gebiete der DDR und der Bundesrepublik bieten bei weitem genug Raum für 77 Millionen in selbst erarbeitetem Wohlstand lebende Menschen und für mehr; das Argument vom angeblichen Volk ohne Raum ist schon seit Jahrzehnten als ökonomischer Unfug entlarvt. Laßt uns endlich die gebotene Schlußfolgerung ziehen! Es gibt ohnehin kein Volk und keine Regierung auf der Welt, welche deutsche Grenzansprüche gegen Polen anerkennen wird. Deren Aufrechterhaltung führt zu deutscher Selbstisolierung: ein schweres Hindernis für die internationale Anerkennung des deutsch-deutschen Annährungsprozesses.
Für die internationale Anerkennung des Annährungsprozesses ist kein anderes Volk wichtiger als die Franzosen. Seit einer Reihe von Jahren antwortet das französische Volk mit großer Mehrheit auf die Meinungsumfrage nach seinem besten Freund: die Deutschen. Und ebensolange und mit gleicher Mehrheit antworten wir Deutschen auf die gleiche Frage: die Franzosen. Die jahrzehntelange Arbeit Jean Monnets, Schumans, de Gaulles, Giscard d'Estaings und Mitterrands, die Arbeit Adenauers und anderer Deutscher hat gute Früchte getragen. Keine andere Nation der ganzen Welt könnte den deutsch-deutschen Wunsch nach gegenseitiger Annäherung und nach einem gemeinsamen Dach eher und besser und glaubwürdiger legitimieren als die Franzosen. Allerdings gibt es in der politischen Klasse Frankreichs Hemmungen. Sie ergeben sich aus einem wirtschaftlichen und demographischen Zahlenvergleich, aus historischen Erinnerungen und auch aus Bonner Ungeschicklichkeiten. Aber das darf so nicht bleiben, denn Paris besitzt Trumpfkarten, die wir nicht besitzen und nie erlangen können.
Dies sind der ständige Sitz im Sicherheitsrat der Vereinten Nationen; die Teilhabe am Deutschlandvertrag (mit dem Vorbehaltsrecht bezüglich Deutschlands als Ganzes) und am Viermächteabkommen über Berlin; die beträchtliche autonome nuklearstrategische Rüstung, der wir Deutschen durch den...
Erscheint lt. Verlag | 1.9.2020 |
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Zusatzinfo | Mit s/w Abb. |
Verlagsort | Hamburg |
Sprache | deutsch |
Themenwelt | Literatur ► Romane / Erzählungen |
Sachbuch/Ratgeber ► Geschichte / Politik ► Zeitgeschichte ab 1945 | |
Geisteswissenschaften ► Geschichte | |
Schlagworte | altbundeskanzler • Artikel • DDR • Deutschland • Politische Analyse • Reden • Wende • Wiedervereinigung • Wirtschaft |
ISBN-10 | 3-644-00018-2 / 3644000182 |
ISBN-13 | 978-3-644-00018-6 / 9783644000186 |
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